Licht am Ende des Schattens


Neue Wege aus dem Debakel der Alzheimer-Forschung

Prof. Dr. Walter E. Müller, Worms

Seit der Erstbeschreibung einer Patientin durch Prof. Alzheimer in Frankfurt vor über 100 Jahren galt das Vorhandensein von Beta-Amyloid-haltigen extrazellulären Ablagerungen (Plaques) zusammen mit intrazellulären Fibrillen (pathologisch verändertes Tau-Protein) im Gehirn als finaler diagnoserelevanter neuropathologische Marker der Alzheimer-Erkrankung (AD).

Ob oder ob nicht diese Veränderungen relevant für den Krankheitsprozess der Erkrankung sind, blieb über viele Jahrzehnte offen. Erst Befunde, dass verschiedene Risiko-Gene der sehr seltenen genetischen und früh auftretenden Form (weniger als 1 % der Patienten) zu den gleichen neuropathologischen Veränderungen führen, dass Zellen, die mit diesen humanen Genen transfiziert wurden, große Mengen Beta-Amyloid produzieren, und dass mit den gleichen Genen transfizierte Mäuse Beta-Amyloid-Plaques im Gehirn aufwiesen, führte zur Formulierung der Beta-Amyloid-Hypothese von AD. Einfach formuliert ging man davon aus, dass die langsame Kumulation von Beta-Amyloid in Form der Plaques den wesentlichen Pathomechanismus der Erkrankung ausmacht. Mit Substanzen, die zur Auflösung oder Reduktion der Plaques führen, hoffte man eine kausale (disease modifying) Therapie der Erkrankung zur erhalten. In wenigen Jahren wäre das Problem der Erkrankung gelöst, so wurde es von vielen großen deutschen Alzheimer-Forschern kolportiert.

Diese Hypothese wurde bereitwillig aufgenommen und alle alternativen Hypothesen wurden zurückgedrängt. Die Industrie forschte nur noch an unterschiedlichen Konzepten, um Plaques zu reduzieren (u. a. Hemmer der Beta-Amyloid-Aggregation, der Beta-Amyloid-Synthese, oder an immunologischen Konzepten wie Impfung, Entwicklung von Antikörpern). Andere Entwicklungen, die meist nur symptomatisch orientiert waren, wurden eingestellt, da sie durch die neuen Disease-Modifying-Substanzen überflüssig würden. Auch die Forschungslandschaft setzte einseitig auf diese Hypothese. Es war so gut wie unmöglich, Forschungsgelder für alternative Hypothesen einzuwerben, da hier ja nicht an der bekannten Ursache der Erkrankung gearbeitet würde.

Der fatale Ausgang ist bekannt. Für alle Konzepte konnten Substanzen entwickelt werden, die alle, wie vom Tierversuch zu vermuten war, Beta-Amyloid im Gehirn von Patienten reduzierten, von denen auf der anderen Seite aber keine zu einer klinischen oder nur symptomatischen Besserung der Patienten führte, ungeachtet über welchen Mechanismus die Beta-Amyloid-Reduktion erreicht wurde. Einige verschlechterten sogar die Demenz.

Heute, viele Jahre nachdem die Entwicklung dieser Substanzen eingeleitet wurde, haben wir viele Daten, die dieses Debakel erklären können, unter anderem durch die Fortschritte der modernen Bildgebung und die Möglichkeit, am Patienten nicht nur die demenzielle Symptomatik erfassen zu können, sondern auch Plaque-Ablagerungen und Zeichen einer Neurodegeneration. Man geht heute davon aus, dass eine langsam fortschreitende geringe Erhöhung der Konzentration des löslichen Beta-Amyloids irgendwann die Löslichkeit überschreitet und Beta-Amyloid in Form der Plaques abgelagert wird. Dies passiert Jahrzehnte vor dem Auftreten der klinischen Symptomatik, zu welchem Zeitpunkt sogar einigen Untersuchungen zufolge die Plaque-Dichte eher etwas nachlässt. Ein wichtiger Mechanismus, der die Beta-Amyloid-Konzentration ansteigen lässt, ist eine Stimulation Beta-Amyloid-bildender Enzyme (Sekretasen) durch den zunehmenden oxidativen Stress im normalen Alterungsprozess. Die Plaques sind daher wahrscheinlich nur ein Marker für eine erhöhte Beta-Amyloid-Bildung und nicht per se pathologisch relevant, während die erhöhte Beta-Amyloid-Konzentration in Form kleiner, noch löslicher Aggregate (Oligomere) zu einem über Jahre verlaufenden neurodegenerativen Prozess beiträgt, der auch vom Alterungsprozess betroffen ist.

Neurodegeneration, Plaque-Bildung, und kognitiver Abbau sind nicht zwangsläufig miteinander verbunden, sondern können auch isoliert auftreten. Viele Ältere oder Alte sind kognitiv gesund trotz hoher Plaque-Dichte. Neuere Daten zeigen darüber hinaus, dass es Patienten mit einer klinischen Alzheimer-Diagnose gibt, die keine Plaque-Dichte zeigen. Weder vom Zeitverlauf der Plaque-Ablagerung noch aus Querschnittsdaten bei gleichzeitiger Erfassung von Plaque-Dichte und Symptomatik lässt sich daher eine zwangsläufige kausale Beziehung ableiten, wenn auch bei der Mehrzahl der Alzheimer-Patienten alle drei Bereiche pathologisch verändert sind.

Hinterher ist man immer schlauer und heute würde man die Amyloid-Hypothese sicher nicht so monoman in Forschung und Entwicklung umsetzen. Auf der anderen Seite sollte man kritisch zurückschauen und sich fragen: Hat man wichtige Befunde übersehen oder waren die Daten wirklich so stark, dass man nur auf diese Hypothese setzen musste? Dies ist leider nicht der Fall, denn viele auch ältere Befunde hätten zu einer kritischeren Bewertung führen müssen. Transgene Tier- und Zellmodelle haben bei der Amyloid-Hypothese eine tragende Rolle gespielt, obwohl bei einigen dieser „Alzheimer-Mäuse“ trotz hoher Amyloid-Belastung wenig Neurodegeneration nachweisbar war und die Tiere nur geringfügig, wenn überhaupt, kognitiv eingeschränkt waren. Der Hirnalterungsprozess trotz ähnlicher pathologischer Veränderungen wurde als irrelevant für die Entstehung der Alzheimer-Erkrankung gesehen, obwohl Alter den mit Abstand wichtigsten Risikofaktor darstellt. Die Plaque-Dichte im Gehirn von Alzheimer-Patienten hat postmortal nie mit dem Schweregrad der Demenz zum Zeitpunkt des Todes korreliert, wohl aber der Verlust von synaptischen Strukturen als Zeichen einer neurodegenerativen Veränderung. Häufig hat man typische Plaque-Pathologie bei zum Teil auch sehr alten Verstorbenen gefunden, die zum Zeitpunkt des Todes kognitiv gesund waren. Die über 20 Jahre zurückliegende Nonnen-Studie ist eines der Beispiele dafür (wenn auch vielleicht das Bekannteste). Bei einer etwas objektiveren Bewertung dieser Daten wäre man sicher nicht so blauäugig in das jetzt vorliegende Debakel gelaufen mit dem kompletten Zusammenbruch einer Forschungsrichtung in wenigen Jahren.

Man hat vor allem durch vorschnelle Überbewertung präklinischer genetischer und neurobiologischer Befunde übersehen, dass diese mit Daten und Konzepten über die Situation am Patienten kompatibel sein sollten. Die Befunde, dass viele ältere oder alte Menschen eine hohe Amyloid-Belasung im Gehirn zeigen, aber kerngesund und vor allem auch kognitiv nicht eingeschränkt sind, hätten schon vor vielen Jahren sehr viel stärker berücksichtigt werden müssen.

Die herbe Enttäuschung über den Zusammenbruch der Amyloid-Hypothese hat nachhaltig die Alzheimer-Forschung beeinträchtigt und nicht nur zu einem Abbruch vieler Substanzentwicklungen geführt, sondern auch zu einer Einstellung der gesamten Alzheimer-Forschung bei vielen Unternehmen der pharmazeutischen Industrie. Glücklicherweise scheint diese Phase der Lähmung überwunden, sodass jetzt ältere, in den letzten Jahren eher vernachlässigte, aber auch ganz neue Forschungskonzepte verfolgt werden.

Einen guten Überblick zu diesem Thema gibt die gerade erschienene Bestandsaufnahme in einem Sonderheft des Journal of Alzheimer’s Disease („New Beginnings“) mit 45 Beiträgen von durch die Herausgeber eingeladenen Arbeitsgruppen auf fast 700 Seiten (JAD 2018;64(s1):S1–672). Die Themen decken ein breites Feld ab, von der aktuellen Einschätzung zur Bedeutung der klassischen neuropathologische Ablagerungen (Plaques, Tangles), über bisher eher vernachlässigte neuronale Störungen wie Neuroinflammation, mitochondriale Dysfunktion, oxidativer Stress, Neuroplastizität, gestörter Energiehaushalt u. a. bis zu vielen Studien zum Verlauf der Erkrankung, der Bedeutung von Alter und anderen Risikofaktoren. Wer auf eine neue, einfache monokausale Hypothese hofft, wird enttäuscht sein. Auffallend viele Beiträge weisen auf das breite multifaktorielle Spektrum im Bereich neuropathologischer Veränderungen und der klinischen Symptomatik hin und darauf, dass neue Therapieansätze dieser multifaktoriellen Ursache Rechnung tragen müssen. Forschung, aber auch die Entwicklung neuer Alzheimer-Medikamente sind damit nicht leichter geworden, aber die neuen Konzepte sind deutlich näher an der Realität der Patienten. Das Sonderheft ist damit eine wichtige aktuelle Bestandsaufnahme und ein Neustart für zukünftige Entwicklungen.

Psychopharmakotherapie 2018; 25(04):159-160