Neuropathische Schmerzen

Langzeittherapie mit Opioiden bei Polyneuropathie führt zu Problemen


Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen

In einer großen retrospektiven populationsbezogenen Kohorten-Studie aus den Vereinigten Staaten wurden Patienten mit Polyneuropathien untersucht, deren Schmerzen mit Opioiden behandelt wurden. Die Opioid-Gabe in der Langzeittherapie führte nicht zu einer Verbesserung des funktionellen Status und ging mit einer höheren Rate an Depressionen, Opioid-Abhängigkeit und Überdosierungen von Opioiden einher.
Mit einem Kommentar von Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen

Hintergrund

Viele Patienten mit einer chronischen Polyneuropathie – insbesondere Patienten mit einer diabetischen Polyneuropathie – leiden unter chronischen brennenden, bei Nacht akzentuierten Schmerzen. Diese neuropathischen Schmerzen können mit trizyklischen Antidepressiva, Membranstabilisatoren wie Carbamazepin oder Pregabalin oder mit retardierten Opioiden behandelt werden. Eine Langzeittherapie mit Opioiden ist allerdings nicht unkritisch, da es auch bei dem Einsatz retardierter Substanzen zu einer Gewöhnung, einer Dosissteigerung und einer Opioid-Abhängigkeit kommen kann. Daher sind Daten aus dem klinischen Alltag bezüglich der Langzeittherapie von neuropathischen Schmerzen mit Opioiden wichtig.

Studiendesign

Es handelt sich um eine retrospektive populationsbasierte Kohorten-Studie der Mayo-Klinik in den USA (Tab. 1). Erfasst wurden Einwohner des Landkreises Olmsted in Minnesota. Für alle ambulant behandelten Patienten gibt es eine gemeinsame Datenbank, die das Verschreiben rezeptpflichtiger Arzneimittel erfasst. Eingeschlossen wurden Patienten mit Polyneuropathien, die zwischen 2006 und 2010 eine Schmerztherapie wegen neuropathischer Schmerzen bei Polyneuropathie erhielten. Die Verlaufsbeobachtung erstreckte sich bis November 2016. Die Einnahme eines Opioids wurde dann gezählt, wenn die Einnahme an mindestens 90 konsekutiven Tagen erfolgte. Als Vergleich dienten Patienten mit einer Schmerztherapie mit Opioiden ohne Polyneuropathie. Erfasst wurden der funktionelle Status, Nebenwirkungen und die Sterblichkeit.

Tab. 1. Studiendesign [Hoffman EM et al.]

Erkrankung

Polyneuropathie

Studienziel

Prävalenz der Langzeit-Opioid-Anwendung bei Polyneuropathie/Assoziation mit funktionalem Status und Nebenwirkungen

Studientyp/Phase

Retrospektive populationsbasierte Kohorten-Studie

Eingeschlossene Patienten

  • 2892 Patienten mit Polyneuropathie
  • 14435 Patienten ohne Polyneuropathie

Intervention

Diverse Opioide

Sponsor

Mayo Foundation for Medical Education and Research/ National Institutes of Health (NIH)

Ergebnisse

In die Studie wurden 2892 Patienten aufgenommen, bei denen die Opioid-Therapie wegen einer Polyneuropathie erfolgte. 545 dieser Patienten wurden mehr als 90 Tage behandelt. In der Kontrollgruppe befanden sich 14435 Patienten, die mit Opioiden behandelt wurden, 780 von ihnen länger als 90 Tage. Das am häufigsten verschriebene Opioid war Oxycodon. Die Patienten waren im Mittel 70 Jahre alt. Zwischen 50 und 80% erhielten weitere Medikamente zur Schmerztherapie.

Der funktionelle Status, das heißt das Ausüben alltäglicher Aufgaben wie das Zubereiten von Essen, Körperhygiene und das Gangbild wurden durch die Langzeittherapie mit Opioiden nicht positiv beeinflusst. Wurden in der Gruppe der Patienten, die wegen einer Polyneuropathie behandelt wurden, die Patienten, die das Opioid weniger als 90 Tage erhielten, mit denen verglichen, die das Opioid an mehr als 90 Tagen erhielten, fand sich ein erhöhtes Risiko für eine Depression (44% versus 63%; Hazard-Ratio [HR] 1,97), für eine Opioid-Überdosierung (0,3% versus 2,6%; HR 8,29) und für eine Opioid-Abhängigkeit (1,4% versus 7,2%; HR 5,59). Diese Registerergebnisse legen nahe, dass sehr wahrscheinlich eine Langzeittherapie mit Opioiden bei Schmerzen im Rahmen einer Polyneuropathie häufiger mit einer Depression assoziiert ist und ein höheres Risiko für eine Dosissteigerung der Opioide und eine Opioid-Abhängigkeit mit sich bringt.

Kommentar

Die retrospektive Registerstudie aus den Vereinigten Staaten ist sehr wichtig. Sie zeigt, dass offenbar eine Opioid-Langzeittherapie von neuropathischen Schmerzen bei Polyneuropathie nicht zu einer Funktionsverbesserung im Alltag führt. Außerdem birgt sie ein nicht unerhebliches Risiko für eine Depression, eine Dosissteigerung der Opioide und eine Opioid-Abhängigkeit. Bis vor 15 Jahren wurde die Verschreibung von Opioiden bei nicht Tumor-assoziierten Schmerzen sehr restriktiv gehandhabt. Nachdem aber eine Reihe von Studien gezeigt hatte, dass Opioide auch bei neuropathischen Schmerzen wirksam sind – sei es im Rahmen einer Polyneuropathie oder einer postzosterischen Neuralgie – , werden Opioide zunehmend therapeutisch eingesetzt. Dies führt, insbesondere in den Vereinigten Staaten, wo Opioide einen hohen Anteil des Marktes bei Drogenabhängigen ausmachen, zu zunehmenden Problemen. Der Einsatz von Opioiden in der Langzeittherapie sollte auf Patienten beschränkt werden, bei denen die übliche Schmerztherapie mit trizyklischen Antidepressiva oder Carbamazepin bzw. Pregabalin nicht wirksam ist, nicht vertragen wird oder kontraindiziert ist. Wenn Opioide verschrieben werden, müssen die Patienten engmaschig kontrolliert werden, insbesondere um Dosissteigerungen rechtzeitig zu erfassen.

Quelle

Hoffman EM, et al. Association of long-term opioid therapy with functional status, adverse outcomes, and mortality among patients with polyneuropathy. JAMA Neurol 2017;74:773–9.

Psychopharmakotherapie 2017; 24(06):289-296