Spinale Muskelatrophie (SMA)

Antisense-Oligonukleotid Nusinersen bei SMA zugelassen


Abdol A. Ameri, Weidenstetten

Die spinale Muskelatrophie ist eine seltene Erkrankung, die durch einen genetisch bedingten Mangel an SMN(Survival motor neuron)-Protein zu einer Degeneration von Motoneuronen aus dem Rückenmark und dem unteren Hirnstamm führt und somit zu einer progredienten Muskelschwäche und -atrophie. Bisher konnte die Erkrankung nur supportiv behandelt werden. Mit der Zulassung von Nusinersen zur Therapie der 5q-assoziierten SMA, der häufigsten Form der spinalen Muskelatrophie, steht erstmals eine spezifische medikamentöse Therapie zur Verfügung. Das Antisense-Oligonukleotid bewirkt, dass wieder ausreichende Mengen von SMN produziert werden können, und verbessert die motorischen Funktionen von Patienten mit infantiler und später einsetzender SMA. Die zulassungsrelevanten Daten wurde bei einer von Biogen veranstalteten Pressekonferenz vorgestellt.

Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine seltene, autosomal rezessiv vererbte neuromuskuläre Erkrankung, die mit einer progredienten Muskelschwäche einhergeht. Betroffen ist etwa eines von 10000 Neugeborenen [8]. Trotz des seltenen Auftretens ist SMA die häufigste genetisch bedingte Todesursache bei Säuglingen und Kleinkindern. Ursache sind in etwa 95% der Fälle homozygote Mutationen oder Deletionen des SMN1-Gens auf Chromosom 5q13, das für die Synthese von SMN-Protein verantwortlich ist [7, 8]. Die restlichen SMA-Fälle sind durch Mutationen außerhalb von Chromosom 5q bedingt [4]. Bei einem Mangel an SMN-Protein kommt es zu einer fortschreitenden Degeneration der Motoneuronen aus dem Vorderhorn des Rückenmarks und dem unteren Hirnstamm [7].

Die Erkrankung präsentiert sich mit einem relativ breiten Spektrum an unterschiedlichen Schweregraden. Über die Hälfte der Patienten leiden an infantiler SMA (früher: Typ-I), dem schwersten Typ der Erkrankung. Die infantile SMA (ICD-10: G12.0) ist durch einen sehr frühen Symptombeginn – in der Regel noch vor dem sechsten Lebensmonat – und eine sehr geringe SMN-Proteinproduktion gekennzeichnet [7]. Die betroffenen Kinder sind schwer beeinträchtigt und erlangen nie die Fähigkeit, sich selbstständig umzudrehen, frei zu sitzen und zu stehen. Ohne künstliche Beatmung versterben die meisten Patienten mit infantiler SMA innerhalb der ersten zwei Lebensjahre. Bei der später einsetzenden Verlaufsform (früher Typ II-IV) ist die Symptomatik weniger stark ausgeprägt, aber viele Patienten verlieren im Laufe der Zeit die bereits erworbenen motorischen Fähigkeiten („Meilensteine“) [7].

Nusinersen steigert die Produktion von SMN-Protein

Mit der Marktzulassung von Nusinersen (Spinraza®) steht für die 5q-assoziierte SMA erstmals eine spezifische Therapie zur Verfügung [5]. Nusinersen ist ein Antisense-Oligonukleotid mit 18 Nukleotidresten. Es zielt auf das SMN2-Gen, ein mit dem SMN1 nahezu identisches Gen. SMN2 kodiert ebenfalls für SMN; allerdings ist es häufig von Mutationen betroffen, insbesondere von einem Basenaustausch, der bewirkt, dass beim Spleißen, also der Weiterverarbeitung der prä-mRNA in die mRNA, Exon 7 verloren geht (Deletion) [6, 8]. Das dann gebildete SMN-Protein ist instabil und weitgehend funktionslos. SMN2 kann deshalb bei defektem SMN1-Gen den SMN-Proteinmangel nur unzureichend ausgleichen.

Das Antisense-Oligonukleotid Nusinersen modifiziert die Spleißung bei der Transkription von SMN2 so, dass Exon 7 erhalten bleibt und in der Folge funktionsfähiges SMN-Protein gebildet wird [5]. Somit führt die Therapie dazu, dass das Überleben der Motoneurone unterstützt wird [5].

Therapieerfolge bei infantiler und später einsetzender SMA

Die Wirksamkeit und Sicherheit von Nusinersen wurde in zwei noch nicht veröffentlichten ähnlich konzipierten, randomisierten, kontrollierten, doppelblinden Phase-III-Studien untersucht: ENDEAR bei 122 Säuglingen mit infantiler SMA [2] und CHERISH bei 126 Kindern im Alter von zwei bis zwölf Jahren mit später einsetzender SMA [3]. In beiden Studien erhielten die Patienten nach Randomisierung im Verhältnis 2:1 entweder Nusinersen oder eine Scheinintervention (Kasten).

Durchführung der Behandlung [5]

Die Therapie mit Nusinersen sollte durch Ärzte mit Erfahrung im Bereich SMA eingeleitet werden. Der Wirkstoff wird intrathekal per Lumbalpunktion in den Liquorraum des Wirbelkanals injiziert. Nach einer zweimonatigen Aufsättigungsphase mit vier Injektionen (Tag 0, 14, 28 und 63) folgt die Erhaltungstherapie mit einer Injektion alle vier Monate. Im ersten Jahr erhalten die Patienten also insgesamt sechs Applikation und ab dem zweiten Jahr drei Applikationen als Erhaltungsdosis. Abhängig vom klinischen Zustand kann eine Sedierung des Patienten erforderlich sein.

In der ENDEAR-Studie [2] erreichten 51% der mit Nusinersen behandelten Säuglinge, aber kein Patient unter Scheinintervention die mit der HINE(Hammersmith Infant neurological examination)-Skala erfassten Meilensteine der motorischen Entwicklung (willkürliches Greifen, Strampeln, Kopfkontrolle, Umdrehen, Sitzen, Krabbeln, Stehen und Gehen). Der Unterschied war statistisch signifikant (p<0,0001) [5]. Die motorischen Meilensteine wurden auch mit einer zweiten Skala erfasst, dem CHOP-INTEND (Children’s Hospital of Philadelphia Infant test of neuromuscular development). Der Anteil der Responder (Verbesserung des Scores um 4 Punkte gegenüber Baseline) war ebenfalls signifikant höher als unter Scheinintervention (71% vs. 3%; p<0,0001) [5].

Zum Zeitpunkt der Abschlussanalyse nach etwa einem Jahr waren 39% der Verum-Patienten gegenüber 68% der Kontrollpatienten entweder verstorben oder benötigten permanente Beatmung. Daraus ergibt sich eine Reduktion des Sterbe- bzw. Beatmungsrisikos um 47% (Hazard-Ratio [HR] 0,53; p=0,0046) [5].

In der CHERISH-Studie [3] bei Patienten später einsetzender SMA (Symptombeginn nach dem 6. Lebensmonat) wurden unter Nusinersen signifikante und klinisch relevante Verbesserungen der motorischen Funktionen gemäß HFMSE (Hammersmith Functional motor scale expanded) beobachtet [5]. Der HFMSE-Score stieg nach 15 Monaten um durchschnittlich 4,9 Punkte gegenüber Baseline, während er sich unter Scheinintervention um 1,0 Punkte verschlechterte (p=0,0000001) [5].

Der neue Wirkstoff zeigte in beiden Studien ein günstiges Verträglichkeitsprofil. Häufig beschriebene unerwünschte Wirkungen wie Infektionen der oberen und unteren Atemwege und Obstipation entsprachen den generellen Erwartungen bei Säuglingen mit SMA. In die offene Verlängerungsstudie SHINE [1] werden alle SMA-Patienten aufgenommen, die eine der beiden klinischen Studien abgeschlossen haben. Studienziel ist die weitere Untersuchung der Wirksamkeit und Verträglichkeit des Antisense-Oligonukleotids.

Quelle

Prof. Dr. Andreas Hahn, Gießen, Prof. Dr. Jan Kirschner, Freiburg, Zulassungs-Pressekonferenz „Perspektive Leben: Zulassung von Spinraza® (Nusinersen) zur Behandlung der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie (SMA)“, Frankfurt/M., 28. Juni 2017, veranstaltet von Biogen GmbH.

Literatur

1. ClinicalTrials gov; NCT 02594124.

2. ClinicalTrials.gov; NCT02193074.

3. ClinicalTrials.gov; NCT02292537.

4. Darras BT. Spinal muscular atrophies. Pediatr Clin North Am 2015;62:743–66.

5. Fachinformation Spinraza®, Stand: Mai 2017.

6. Hua Y et al. Antisense correction of SMN2 splicing in the CNS rescues necrosis in a type III SMA mouse model. Genes Dev 2010;24:1634–44.

7. Lunn MR, Wang CH. Spinal muscular atrophy. Lancet 2008;371:2120–33.

8. Prior TW. Spinal muscular atrophy: a time for screening. Curr Opin Pediatr 2010;22: 696–702.

Psychopharmakotherapie 2017; 24(05)