Antipsychotische Langzeittherapie in der Diskussion


Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, München

Schizophrene Psychosen sind meistens chronische Erkrankungen mit einem hohen Risiko eines ungünstigen Verlaufs im Hinblick auf chronische Symptomatik und psychosoziale Einschränkungen. Die Rezidiv-Quote ist hoch und jedes Rezidiv führt in der Regel zu weiteren Verschlechterungen. Alle Evidenz aus randomisierten, Placebo-kontrollierten Studien zeigt, dass die antipsychotische Langzeitmedikation die Rezidiv-Quote deutlich verringert. Ebenso gibt es eine eindeutige Evidenz, dass alternative Strategien wie die Niedrigdosierungs-Behandlung oder die intermittierende Behandlung nicht eine annähernd vergleichbare Wirksamkeit erreichen.

Deshalb wird seit Langem die kontinuierliche Langzeitbehandlung als „EBM State of the Art“ angesehen und in den meisten nationalen und internationalen Leitlinien empfohlen. Um die Compliance zu erhöhen und um Nebenwirkungen zu verhindern, sollte das für den individuellen Patienten unter Wirksamkeits- und Verträglichkeitsaspekten am besten passende Antipsychotikum in der niedrigsten effektiven Dosis verordnet werden.

In den letzten Jahren, wie auch schon zeitweise in früheren Jahren, begann eine erneute Diskussion, ob dies wirklich der notwendige Behandlungsansatz ist und insbesondere, ob dies die optimale Strategie für jeden Patienten ist. Diese Diskussion wurde in den letzten Jahren vor allem angeregt durch MRT-Ergebnisse aus größtenteils naturalistischen Langzeitstudien, die eine mit der Antipsychotika-Therapie assoziierte Abnahme des Hirnvolumens zeigten, ein Signal, das in jüngsten Metaanalysen relativ konsistent in Erscheinung trat, ohne dass die Ursächlichkeit eindeutig bewiesen wurde.

Die Schwierigkeiten einer eindeutigen Interpretation der pathogenetischen Zusammenhänge sind unter anderem darin begründet, dass Hirnveränderungen bereits vor Ausbruch der ersten akuten psychotischen Episode auftreten, und dass sie zum Teil im Verlauf der Erkrankung noch zunehmen, mit oder ohne Antipsychotika-Behandlung. Insgesamt erscheint der Zusammenhang zwischen Hirnveränderungen und klinischem Verlauf sehr komplex und in naturalistischen Studien schwer hinsichtlich der ursächlichen Komponenten zu differenzieren. Wichtig ist, dass die gefundene Hirnvolumen-Abnahme vorrangig nicht durch Neuronenverlust entsteht, sondern aus einer Reduktion des Neuropil (Dendriten u.a.) resultiert. Es gibt – allerdings inkonsistente – Hinweise, dass Antipsychotika der zweiten Generation günstigere Ergebnisse hinsichtlich der Volumenreduktion haben als Antipsychotika der ersten Generation. Hinweise für neurotoxische Effekte von Antipsychotika in tierexperimentellen Studien, mit zum Teil günstigeren Ergebnissen für Antipsychotika der zweiten Generation, legen nahe, dass die Problematik auch beim Menschen weiterer spezieller Studien bedarf. Eine naive Übertragung der Ergebnisse aus Tierversuchen auf den Menschen, und insbesondere auf Patienten mit schizophrenen Erkrankungen, könnte zu Fehlschlüssen führen. Es ist beispielsweise denkbar, dass das Hirn Gesunder ungünstig beeinflusst wird, dass aber das Hirn an Schizoprenie Erkrankter protektive Effekte erfährt.

Aus der Besorgnis über die mit Antipsychotika assoziierten Hirnvolumen-Veränderungen, die allerdings nicht mit kognitiven Veränderungen oder sonstigen Symptomen assoziiert zu sein scheinen, kam eine kritische Diskussion in Gang, ob nicht eine vorsichtigere und restriktivere Verordnung von Antipsychotika empfohlen werden müsste. In dem Zusammenhang erregten Ergebnisse aus neueren, größtenteils naturalistischen Studien, besondere Aufmerksamkeit, die Hinweise gaben, dass auch Patienten, die nicht kontinuierlich oder sogar nur vorübergehend antipsychotisch behandelt wurden, einen relativ günstigen Langzeitverlauf haben können. Solche Studienergebnisse gab es auch schon in früheren Zeiten, wegen des niedrigen methodischen Niveaus (naturalistische Studien) wurden sie aber damals nicht nennenswert beachtet. Unter den dargestellten heutigen Rahmenbedingungen bekommen sie aber viel Aufmerksamkeit, möglicherweise dadurch mitbedingt, dass nach der Phase der Begeisterung für „Real-World“-Studien und dem damit verbundenen Skeptizismus gegenüber methodisch strengeren Placebo-kontrollierten Vergleichsstudien das Pendel nun zur anderen Seite ausschlägt und methodisch weniger restriktiven Studienkonzepten, einschließlich naturalistischer Studien sowie Studien mit nur ansatzweise experimentellen Designs, wieder größere Bedeutung beigemessen wird. Die Vehemenz und Einseitigkeit, mit der die auf solche schwachen empirischen Daten gestützten, als innovativ gemeinten Gedankengänge, oft verbunden mit sozialpsychiatrischen Konzepten, vorgetragen werden, mutet allerdings etwas befremdlich an.

Wenn man alle vorgebrachten Argumente ernsthaft und ergebnisoffen prüft, kommt man meines Erachtens bei aller Offenheit für die Argumente der Gegenseite nicht zu einer wesentlich veränderten Auffassung über die Standardtherapie, immer vorausgesetzt, dass die Diagnose einer schizophrenen Psychose mit größtmöglicher Sicherheit gestellt wird. Zwar ist unbestritten, dass es Patienten gibt, die ohne kontinuierliche Rezidivprophylaxe mit Antipsychotika einen rezidivfreien Verlauf haben, sowie Patienten, die trotz durchgehender Rezidivprophylaxe Rezidive haben (Nonresponder). Das Problem besteht aber darin, dass wir dies im Einzelfall nicht mit ausreichender Sicherheit vorhersagen können. Das heißt, wir können das in älteren Publikationen als „Paradoxon“ der Rezidivprophylaxe bezeichnete Dilemma, dass nur ein Teil (der größere Teil!) der Patienten wirklich von der antipsychotischen Rezidivprophylaxe einen Nutzen hat, noch immer nicht lösen. In einer solchen Situation einer nicht völlig sicher zu klärenden Nutzen-Risiko-Entscheidung scheint es sinnvoll, generell auch weiterhin die beschriebene Standardtherapie durchzuführen. Es versteht sich allerdings von selbst, dass der Patient über all diese Aspekte aufgeklärt werden muss und im Sinne des „shared decision making“ prinzipiell anders entscheiden kann. Im Falle einer alternativen Entscheidung durch den Patienten sollte der Arzt diesen Weg mit ihm gehen und versuchen, soweit wie möglich die damit verbundenen Risiken zu minimieren, gleichzeitig aber offen zu sein für mögliche Vorteile der gewählten alternativen Behandlungsstrategie.

Psychopharmakotherapie 2017; 24(05)