Cladribin zur Behandlung der schubförmigen MS

Neue orale Therapie wartet auf die Zulassung


Dr. Matthias Herrmann, Berlin

Mit Cladribin-Tabletten könnte in naher Zukunft eine neue orale Therapie zur Behandlung von Patienten mit schubförmiger multipler Sklerose (MS) zur Verfügung stehen. Nach Einreichung des Zulassungsantrags sprach das CHMP (Committee for Medicinal Products for Human Use) der EMA (European Medicines Agency) im Juni 2017 eine „Positive Opinion“ aus. In der 96-wöchigen CLARITY-Studie bewirkte die zweimalige Kurzzeittherapie eine Reduktion der Schubrate um mehr als 50%. Auch ohne weitere Therapie hielt die Wirkung anschließend noch zwei Jahre an. Wie auf dem dritten MS-Presseclub der Firma Merck deutlich wurde, scheinen Patienten mit hohem Risiko für eine Krankheitsprogression besonders zu profitieren.

Das CHMP der Europäischen Arzneimittel-Agentur hat die beantragte Zulassung von Cladribin-Tabletten (Mavenclad) zur Behandlung der schubförmigen MS bei Patienten mit hoher Krankheitsaktivität in einer Stellungnahme vom 22. Juni 2017 positiv beurteilt [1]. Die Basis des Zulassungsantrags bildet die doppelblinde Phase-III-Studie CLARITY (cladribine tablets treating MS orally). 1326 Patienten wurden im Verhältnis 1:1:1 randomisiert. In den beiden Verum-Armen erhielten die Patienten eine kumulative Cladribin-Dosis von 3,5 bzw. 5,25 mg/kg Körpergewicht (KG). Die Einnahme der jeweiligen Gesamtdosis erfolgte in vier (3,5-mg-Arm) bzw. sechs (5,25-mg-Arm) Behandlungszyklen in Woche 1, 5 (im 5,25-mg-Arm auch Woche 9 und 13), 48 und 52. In jedem Zyklus nahmen die Patienten über vier oder fünf Tage insgesamt 0,875mg/kg KG Cladribin in Form von 10-mg-Tabletten. Die Patienten im dritten Arm erhielten Placebo [2].

An die Kernstudie schloss sich eine zweijährige Extensionsphase an, zu deren Beginn die Patienten re-randomisiert der Behandlung mit Cladribin oder Placebo zugeordnet wurden [3].

Patienten mit hoch aktiver Erkrankung sprechen besonders gut an

Die jährliche Schubrate betrug in der Kernstudie unter Placebo 0,33; unter den beiden Cladribin-Dosierungen 0,14 (3,5 mg/kg) bzw. 0,15 (5,25 mg/kg) [2]. Dies entspricht einer jeweils statistisch signifikanten Reduktion um 57,6% bzw. 54,5% (p<0,001 für beide Vergleiche). Patienten mit hoch aktiver MS vor Studienbeginn scheinen dabei mit einem Rückgang der jährlichen Schubrate um 67% unter der niedrigeren Cladribin-Dosis von 3,5 mg/kg besonders zu profitieren (Abb. 1) [4]. Gleiches gilt für die Wahrscheinlichkeit der Behinderungsprogression (bestätigt nach sechs Monaten). Hier war der Unterschied zwischen den Patienten mit hoch aktiver Erkrankung und dem gesamten Kollektiv mit einer Verminderung um 82% vs. 47% noch deutlicher.

Abb. 1. Jährliche Schubrate und Anteil der Patienten mit bestätigter Behinderungsprogression unter Cladribin vs. Placebo bei Patienten mit hoch aktiver multipler Sklerose (MS); EDSS: Expanded Disability Status Scale [mod. nach 4]

Wirksamkeit hält ohne weitere Behandlung an

Bedingt durch den Wirkungsmechanismus von Cladribin kommt es nach Einnahme der Tabletten zu einer (therapeutisch erwünschten) Lymphopenie. Nach Abschluss der CLARITY-Kernstudie kehrte die Lymphozytenzahl bei 98 Patienten, die in der Kernstudie Cladribin und in der Extensionsstudie Placebo erhalten hatten, langsam wieder in den Normbereich zurück [5]. Dennoch war der Anteil schubfreier Patienten in der Extensionsstudie mit fast 80% genauso hoch wie in der Kernstudie [6]. Die unter Placebo zurückkehrenden Lymphozyten müssen sich demnach von den zuvor vorhandenen autoaggressiven Immunzellen unterscheiden. Hieraus wiederum ist zu schließen, dass Cladribin die Zusammensetzung des Immunsystems nachhaltig verändert.

Kein erhöhtes Risiko für Infektionen oder Tumoren

Therapien, die das Immunsystem adressieren, bergen prinzipiell ein erhöhtes Risiko für Infektionen und Krebserkrankungen. Denn ein intaktes Immunsystem schützt vor beidem. Verglichen mit Placebo geht die Behandlung mit Cladribin 3,5 mg/kg aber laut den gepoolten Daten der CLARITY-Kern- und Extensionsstudie sowie weiteren Studien- und Registerdaten nicht mit einem gesteigerten Risiko einher [7]. Eine Ausnahme bildet ein erhöhtes Vorkommen von Herpes zoster (nur dermatologisch, keine systemischen Infektionen), insbesondere bei Patienten mit Lymphopenien Grad 3–4 nach dem zweiten Behandlungszyklus. Eine Metaanalyse aus elf Studien ergab keine Hinweise auf eine erhöhte Malignität [8].

Quelle

Prof. Dr. med. Stefan Bittner, Mainz; 3. MS-Presseclub „Es ist an der Zeit“, Frankfurt a.M., 18. Mai 2017, veranstaltet von Merck.

Literatur

1. EMA. www.ema.europa.eu/ema/index. jsp?curl=pages/medicines/human/medicines/ 004230/smops/Positive/human_smop_ 001150.jsp&mid=WC0b01ac058001d127 (Zugriff im Juni 2017).

2. Giovannoni G, et al. A placebo-controlled trial of oral cladribine for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2010;362:416–26.

3. Giovannoni G, et al. Safety and efficacy of oral cladribine in patients with relapsing–remitting multiple sclerosis: results from the 96-week Phase IIIb extension trial to the CLARITY study. 65. Jahrestagung der American Academy of Neurology (AAN), San Diego, USA, 16.–23. März 2013, Poster P07.119.

4. Giovannoni G, et al. Efficacy of cladribine tablets 3.5 mg/kg in high disease activity (HDA) subgroups of patients with relapsing multiple sclerosis (RMS) in the CLARITY study. Jahrestagung der AAN, Boston, USA, 22.–28. April 2017, Poster P6.360.

5. Soelberg-Sorensen P, et al. Absolute lymphocyte count recovery in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis (RRMS) treated with cladribine tablets 3.5 mg/kg in CLARITY and CLARITY Extension. AAN 2017, P5.379.

6. Soelberg-Sorensen P, et al. Durable efficacy of cladribine tablets in patients with multiple sclerosis: analysis of relapse rates and relapse-free patients in the CLARITY and CLARITY Extension studies. AAN 2017, P6.353.

7. Cook S, et al. Cladribine tablets in the treatment of patients with multiple sclerosis: an integrated analysis of safety from the multiple sclerosis clinical development program. 32. Kongress des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS), London, UK, 14.–17.9.2016, Poster P644.

8. Pakpoor J, et al. No evidence for higher risk of cancer in patients with multiple sclerosis taking cladribine. Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm;2:e158.

Psychopharmakotherapie 2017; 24(04)