Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

Medikamentöse Therapie verringert Risiko für Verkehrsunfall


Dr. med. Claudia Borchard-Tuch, Ratingen

In einer Kohorten-Studie an mehr als 2,3 Millionen US-amerikanischen Patienten mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) waren Kraftfahrzeug-Unfälle seltener, wenn die Medikamente eingenommen wurden.

Die Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist weit verbreitet. Sie äußert sich durch Störungen in der Aufmerksamkeit, verringerte Impulskontrolle und eine beeinträchtigte Selbstregulation. Etwa 5 bis 7% aller Kinder und Jugendlichen sind betroffen. Die Störung bleibt bei einem Teil der Betroffenen bis zum Erwachsenenalter bestehen. Studien zeigten, dass die erkrankten Personen ein höheres Risiko haben, an einem Verkehrsunfall beteiligt zu sein.

Studiendesign und -ziel

Ziel der Studie war zu untersuchen, ob die medikamentöse Behandlung von ADHS-Patienten das Risiko für einen Verkehrsunfall verringert. Basis waren die Krankenversicherungsdaten von über 2,3 Millionen US-amerikanischen ADHS-Patienten über 18 Jahren im Beobachtungszeitraum zwischen Anfang 2005 und Ende 2014. Die Patienten wurden ab dem Zeitpunkt der ADHS-Diagnose nach ICD-9 oder der ersten Verschreibung eines ADHS-Medikaments verfolgt beziehungsweise, falls dieses Datum vor dem 18. Geburtstag lag, ab dem 18. Geburtstag. Als Kontrolle wurden Daten von Versicherten gegenübergestellt, die der ADHS-Kohorte in Bezug auf Geschlecht, Geburtsjahr, Alter bei der Aufnahme in die Krankenversicherung entsprachen.

Indexereignis war die Behandlung in einer Notfallstation wegen eines Verkehrsunfalls (ICD-9-Code E810–E825). Die Analysen verglichen das Risiko für einen Verkehrsunfall während der Monate, in denen den Patienten Medikamente verschrieben wurden, mit dem Risiko in den Monaten, in denen sie nicht verschrieben wurden.

Studienergebnisse

Die betrachteten ADHS-Patienten waren durchschnittlich 32,5 Jahre alt, 51,7% waren weiblich. Über 1,9 Millionen Patienten (83,9%) erhielten mindestens eine Verordnung eines ADHS-Medikaments. Insgesamt wurden über 50 Millionen Personenmonate betrachtet. Aus der Studienkohorte wurden 11224 Patienten (0,5%) in einer Notfallstation aufgrund eines Unfalls mit einem Kraftfahrzeug behandelt.

Patienten mit einer ADHS hatten ein erhöhtes Unfallrisiko im Vergleich zu den Kontrollpersonen ohne ADHS. Das galt für Männer (Odds-Ratio [OR] 1,49; 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,46–1,54) ebenso wie für Frauen (OR 1,44; 95%-KI 1,41–1,48). Am höchsten war das Risiko bei den ADHS-Patienten ohne medikamentöse Therapie.

Die intraindividuellen Analysen ergaben, dass bei männlichen Patienten in den Monaten, in denen sie medikamentös behandelt wurden, das Risiko für einen Verkehrsunfall um 38% geringer war als in den Monaten, in welchen sie keine Medikamente erhielten (OR 0,62; 95%-KI 0,56–0,67). Bei den weiblichen Patienten war das Risiko um 42% geringer (OR 0,58; 95%-KI 0,53–0,62). Ähnliche Reduktionen wurden über alle Altersgruppen hinweg gefunden. Es ist davon auszugehen, dass bis zu 22,1% der Verkehrsunfälle hätten vermieden werden können, wenn die Patienten Medikamente eingenommen hätten.

Diskussion

Vorherige Studien konnten bereits zeigen, dass Menschen mit ADHS mit höherer Wahrscheinlichkeit an einem Kfz-Verkehrsunfall beteiligt sind. Die vorliegende Studie bestätigt dies an einer großen US-amerikanischen Kohorte. Sie zeigt erstmals einen langfristigen Zusammenhang zwischen medikamentöser ADHS-Therapie und verringerter Wahrscheinlichkeit, in einen Verkehrsunfall verwickelt zu sein, und sie zeigt an einer großen Probandenzahl, dass dieser positive Einfluss der medikamentösen Therapie auch für Frauen gilt.

Zu bedenken ist jedoch, dass die Studie von Chang et al. als Auswertung von Routinedaten der Kostenträger nur einen Zusammenhang – keine Kausalität – belegen kann. Außerdem wurden allein die Krankenhausaufnahmen in Notfallstationen aufgrund eines Kraftfahrzeug-Verkehrsunfalls berücksichtigt, nicht Kfz-Unfälle, bei denen es zu leichteren oder tödlichen Verletzungen kam. Auch war nicht bekannt, wer für die Unfälle verantwortlich war. Es wäre möglich, dass ADHS-Patienten mehr Unfälle verursachen. Es ist jedoch genauso denkbar, dass sie in kritischen Situationen schlechter reagieren und so Unfälle nicht vermeiden können, an denen ein anderer Verkehrsteilnehmer die Schuld trägt. Es könnte auch beides zutreffen.

Warum das Unfallrisiko von ADHS-Patienten generell erhöht ist, ist nicht genau bekannt. Es ist davon auszugehen, dass mehrere Faktoren von Bedeutung sind, zum Beispiel Unaufmerksamkeit und Impulsivität im Straßenverkehr, ebenso eine erhöhte Risikobereitschaft, die mit einer ADHS einhergehen kann. Dazu kann die Bereitschaft erhöht sein, sich nicht regelkonform zu verhalten. Auch das erhöhte Risiko für Suchterkrankungen kann eine Rolle spielen.

Fazit der Autoren

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Einnahme von Medikamenten bei ADHS-Patienten, die ein Kraftfahrzeug fahren, dringend zu empfehlen sei.

Quellen

Chang Z, et al. Association between medication use for attention-deficit/hyperactivity disorder and risk of motor vehicle crashes. JAMA Psychiatry 2017;74:597–603.

Madaan V, et al. Distracted driving with attention-deficit/hyperactivity disorder. JAMA Psychiatry 2017;74:603–4.

Psychopharmakotherapie 2017; 24(04)