Zwischen klinischer Prüfung und Gesundheitsökonomie


Bericht vom 12. GESENT-Kongress, Berlin-Weißensee, 16. Dezember 2016

Heike Oberpichler-Schwenk, Stuttgart

Die Deutsche Gesellschaft für experimentelle und klinische Neuro-Psychopharmako-Therapie e.V. (GESENT) hat zum Ziel, „die präklinische und klinische Entwicklung wirksamer und sicherer Arzneimittel zur Behandlung neurologischer und psychiatrischer Krankheiten unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Verantwortungsträger zu fördern“ (www.gesent.de). Ein wichtiges Instrument ist dabei die Unterstützung des Informationsaustauschs zwischen Klinikern, Grundlagenforschern und Vertretern von Krankenkassen, Zulassungsbehörden, Patientenselbsthilfegruppen und der pharmazeutischen Industrie, vornehmlich in dem jährlich stattfindenden GESENT-Kongress. Der 12. GESENT-Kongress fand am 16. Dezember 2016 im Alexianer St. Joseph-Krankenhaus Berlin-Weißensee statt, wo Prof. Dr. Thomas Müller, Vorstandsmitglied der GESENT, die Klinik für Neurologie leitet.
Psychopharmakotherapie 2017;24:77–83.

Die GESENT

Deutsche Gesellschaft für experimentelle und klinische Neuro-Psychopharmako-Therapie e.V. (www.gesent.de)

Mit dem vorliegenden Bericht über den 12. GESENT-Kongress startet die im Editorial der PPT-Ausgabe 1/2017 bereits angekündigte Rubrik „GESENT-Forum“.

Auswirkungen des AMNOG

Ein Schwerpunkt der Vorträge und Diskussionen waren Umsetzung und Konsequenzen der frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln. Dieses Instrument wurde durch das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) geschaffen, das Anfang 2011 in Kraft trat. Demnach müssen pharmazeutische Unternehmer für neu zugelassene Arzneimittel einen medizinischen Zusatznutzen belegen, um von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einen Preis erstattet zu bekommen, der über dem Festpreis bestehender medikamentöser Therapien für die betreffende Erkrankung liegt. Der pharmazeutische Unternehmer muss hierfür ein Dossier vorlegen, in dem der Nutzen des neuen Arzneimittels gegenüber einer „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ dargelegt wird. Die Beurteilung des Dossiers erfolgt durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Die Entscheidung über Vorliegen und Ausmaß des Zusatznutzens trifft der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Dabei zieht er die Beurteilung des IQWiG heran, kann aber von dessen Einschätzung abweichen. Die Entscheidung des G-BA ist wesentliche Grundlage für die anschließenden Verhandlungen des pharmazeutischen Unternehmers mit dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen über den Erstattungsbetrag.

Nutzenbewertung – Interpretation von klinischen Studien

Die Nutzenbewertung durch das IQWiG bzw. den G-BA muss ebenso wie die Bestimmung der zweckmäßigen Vergleichstherapie nach den internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin stattfinden, so Dr. Dirk Eyding, Essen, in seinem Vortrag über die Relevanz der Interpretation von klinischen Studien in der Nutzenbewertung. Eyding berät den GKV-Spitzenverband und ist Mitglied des Unterausschusses Arzneimittel des G-BA.

Die Nutzenbewertung selbst sei vergleichsweise einfach, stellte er fest. Schwierig sei die Bestimmung der zweckmäßigen Vergleichstherapie, weil hier über verschiedene zugelassene Substanzen zu entscheiden ist, die in unterschiedlichen Studien zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Populationen und mit unterschiedlichen Endpunkten und schon gar nicht alle gegeneinander untersucht wurden. Dies führt immer wieder zu Problemen in der Wahl und Akzeptanz der zweckmäßigen Vergleichstherapie.

Eyding illustrierte dies mit der Nutzenbewertung von Brivaracetam und Perampanel. Beide Antiepileptika haben eine Zulassung für die Zusatztherapie bei fokalen Anfällen mit und ohne sekundäre Generalisierung. Ihre Wirksamkeit wurde im Vergleich zu Placebo bei mehrfach antiepileptisch vorbehandelten Patienten nachgewiesen. Für die Nutzenbewertung definierte der G-BA als zweckmäßige Vergleichstherapie eine „individuelle antiepileptische Zusatztherapie, soweit medizinisch indiziert und falls noch keine Pharmakoresistenz/Unverträglichkeit und Kontraindikationen bekannt sind“, und nannte hier jeweils eine Reihe von Wirkstoffen. Dieser individualisierte Ansatz fand sich allerdings in den Nutzenbewertungsdossiers der pharmazeutischen Unternehmen mangels entsprechender Studien nicht wieder. Die stattdessen vorgelegten Analysen wurden vom G-BA als inadäquat angesehen, und er beschied deshalb sowohl Brivaracetam als auch Perampanel mit dem Beschluss „kein Zusatznutzen“.

Eyding äußerte grundsätzliche Zweifel daran, (allein) auf der Basis eines Placebo-Vergleichs einen Zusatznutzen belegen zu können, wie es die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) wiederholt gefordert hatte. „Basistherapie plus Placebo“ sei nur dann eine angemessene Vergleichstherapie, wenn keine Behandlungsoption mehr besteht. Selbst für mehrfach antiepileptisch vorbehandelte Patienten bestehe aber immer noch eine gewisse Chance, mit einem weiteren Antiepileptikum anfallsfrei zu werden, weshalb Leitlinien auch entsprechende Empfehlungen aussprechen. Die Forderung eines Zusatznutzens basierend auf einem Placebo-Vergleich könne die Möglichkeit einschließen, dass ein solcher attestiert wird, obwohl tatsächlich ein geringerer Nutzen gegenüber einer aktiven Kontrolltherapie vorliege. Er hielt deshalb die Beschlüsse des G-BA für medizinisch adäquat. „Kein Zusatznutzen“ gebe möglicherweise sogar noch ein zu positives Bild ab. In den vorliegenden Fällen wäre eine zusätzliche Studie mit patientenindividueller aktiver Vergleichstherapie sinnvoller und möglich gewesen. Dies sei auch in der Beratung mit den pharmazeutischen Unternehmern angesprochen worden, weshalb er es besonders bedauerlich fand, dass dies nicht umgesetzt worden sei.

Zu Aufwand und Durchführbarkeit solcher Zusatzstudien gibt es naturgemäß unterschiedliche Standpunkte, wie auch in der anschließenden Diskussion deutlich wurde. Eyding betonte, dass eine 12-wöchige Studie, wie im vorliegenden Fall nötig, durchaus durchführbar gewesen wäre. Aus Sicht der pharmazeutischen Unternehmen kommt eine solche Anforderung nach erfolgter Zulassung hingegen zu spät.

Standards, Standards

Auf dieses Dilemma ging auch Daniel Fendji, MD, MBA, Berlin, Head of Medical Affairs CNS bei der Firma Teva, in seinem Vortrag „Klinische Forschung im Spannungsfeld zwischen Klinik, Wissenschaft und Regulatoren“ ein. Die klinische Arzneimittelforschung hat demnach zum Ziel, das therapeutische Potenzial einer Substanz oder eines Produkts zu evaluieren. Davon ausgehend wird das Profil eines optimal vermarktungsfähigen Produkts festgelegt (Indikation, therapeutische Effekte). Daraus leitet sich dann der (medizinische bzw. ökonomische) Nutzen ab. Zur Erreichung dieses Ziels werden abhängig von den Ressourcen unterschiedliche Strategien verfolgt. Die Entwicklung ganz neuer Moleküle/Wirkansätze ist dabei heutzutage zumindest für große Indikationen nicht mehr die Regel. Verbreiteter sind stattdessen Re-Purposing-Strategien (d.h., bekannte Substanzen werden in neuer Indikation, neuer Formulierung, neuer Dosierung etc. entwickelt) oder die Entwicklung von Orphan-Drugs oder Wirkstoffen für Nischenindikationen.

Wichtig in Hinblick auf die internationalen Zulassungen ist, dass die klinischen Prüfungen nach globalen Standards durchgeführt werden. Solche Standards wurden von der International Conference of Harmonization (ICH) geschaffen. Sie ermöglichen es, in multinationalen Studienprogrammen unter vereinheitlichten Bedingungen die nötigen hohen Fallzahlen für valide, belastbare Studienergebnisse zu erreichen. Für die Zulassung eines Arzneimittels fordern die Zulassungsbehörden Daten zu seiner Wirksamkeit und Sicherheit und unterziehen diese einer Nutzen-Risiko-Bewertung. Nach der Zulassung werden weiterhin Daten zur Sicherheit und Unbedenklichkeit erhoben (z.B. Pharmakovigilanz), und es wird geprüft, ob die Ergebnisse der klinischen Studien auf die weit weniger selektierte Alltags-Patientenpopulation generalisierbar sind.

Sind die Methoden bis hierhin weitgehend standardisiert, so sehen sich die pharmazeutischen Firmen nach der Zulassung mit ganz unterschiedlichen Gesundheitsversorgungssystemen und Finanzierungsansätzen konfrontiert. Die Anforderung, den Nutzen des neuen Arzneimittels im Vergleich mit etablierten nachzuweisen, ist dabei durchaus verbreitet, allerdings mit unterschiedlichen Bedingungen. Selbst innerhalb der EU haben unterschiedliche HTA-Agenturen unterschiedliche Vorstellungen zur zweckmäßigen Vergleichstherapie, beklagte Fendji. Problematisch für die pharmazeutischen Unternehmer ist, dass durch die neuen Regularien Parameter in der klinischen Forschung berücksichtigt werden müssen, die bisher nicht Gegenstand von klinischen Phase-II- und Phase-III-Prüfungen waren, sondern traditionell erst nach der Zulassung erforscht wurden. Um die Daten rechtzeitig zur Zulassung parat zu haben, müsste in der Logik klinischer Entwicklungsprogramme die zweckmäßige Vergleichstherapie bereits vier bis fünf Jahre vor der Zulassung festgelegt werden.

Am Beispiel der Multiple-Sklerose-Therapie beschrieb Fendji, wie sich die Randbedingungen klinischer Studien (Einschlussparameter, diagnostische Kriterien) und Therapieziele über die Zeit ändern können. Das wirft die Frage auf, welche Endpunkte für eine Vergleichbarkeit relevant sind. Hier sah er auch die akademische Forschung in der Pflicht.

Die größte Herausforderung für die pharmazeutische Industrie in Deutschland ist laut Fendji, global multinationale klinische Studien zu konzipieren und durchzuführen, die den Anforderungen der Zulassungsbehörden, gleichzeitig aber auch den Anforderungen des G-BA und des IQWiG für die frühe Nutzenbewertung gerecht werden. Hierfür sei die Industrie zum frühzeitigen Austausch mit den Zulassungs- und Erstattungsbehörden über Studiendesigns, Endpunkte und zweckmäßige Vergleichstherapien aufgefordert. Ebenso wichtig sei aber auch der interne Austausch, gerade bei global agierenden Unternehmen: die frühzeitige und enge Kooperation zwischen allen lokalen, regionalen und globalen relevanten Abteilungen in den globalen Arzneimittel-Entwicklungsprogrammen.

Harmonisierte Berichterstattung in Europa

Auf europäischer Ebene gibt es bereits seit über zehn Jahren Bestrebungen zur Harmonisierung der Berichterstattung über medizinische Verfahren, unter anderem über Arzneimittel. Dr. med. Alric Rüther, Köln, Stabsbereich Internationale Beziehungen beim IQWiG, berichtete über die Entwicklung von EUnetHTA, dem European Network for Health Technology Assessment (www.eunethta.eu). 2004 deklarierten die Europäische Kommission und der Ministerrat die Einrichtung eines solchen Netzwerks als politisch vorrangig und dringend geboten. Nach einer Planungs- und Projektphase wurde 2010 die erste gemeinsame EU-finanzierte Aktion (EUnetHTA Joint Action 1) mit einem Budget von rund 6 Mio. Euro gestartet. Seit 2016 läuft (bis 2020) die EUnetHTA Joint Action 3 mit einem Budget von rund 20 Mio. Euro. Beteiligt sind 78 Organisationen aus 29 Ländern, so aus Deutschland das IQWiG, der G-BA und das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI).

Ziel von EUnetHTA ist, den Mitgliedsstaaten objektive, zuverlässige, aktuelle, transparente, vergleichbare und übertragbare Informationen über medizinische Verfahren zur Verfügung zu stellen und sie in den Stand zu versetzen, diese Informationen auszutauschen – letztlich also die Bereitstellung einer Wissensdatenbank, in der Bewertungen medizinischer Verfahren (Health-Technology-Assessments), strukturierte Literaturübersichten usw. zusammengefasst sind. Aus diesen Informationen Empfehlungen abzuleiten, ist dann jeweils nationale Aufgabe.

Die Auswertung und Beurteilung von Quellen soll nach konsentierten Kriterien erfolgen. In den Phasen Joint Action (JA) 1 und 2 wurden hierfür Methoden-Leitlinien erarbeitet, deren Anwendung jetzt für die Erstellung von EUnetHTA-Arbeiten verpflichtend ist. Die Methoden-Leitlinien bieten einen Basis-Standard, der dem IQWiG allerdings nicht genügen würde, wie Rüther anmerkte.

In JA 1 und JA 2 wurden außerdem als Pilotprojekte erste Bewertungsdossiers erstellt, zum Beispiel eine Kurzbewertung (rapid relative effectiveness assessment) des Nutzens einer Varicella-Zoster-Impfung zur Prävention von Herpes zoster und postherpetischer Neuralgie oder eine umfassende Bewertung (full/comprehensive assessment) – eigentlich eine thematische Zusammenfassung mehrerer Einzelbewertungen – zum Einsatz von intravenösen Immunglobulinen bei Alzheimer-Krankheit und leichter kognitiver Einschränkung.

Für JA 3 sind sieben „Arbeitspakete“ definiert. Unter der Ägide des IQWiG wird das Arbeitspaket „Quality Management, Scientific Guidance and Tools“ aufgeschnürt. Hier sollen unter anderem Standards für die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen den EUnetHTA-Beteiligten erarbeitet werden.

Wie geht es nach Abschluss der JA 3 weiter? Die Europäische Kommission hat hierfür bereits fünf Vorschläge zur Diskussion gestellt. Diese reichen (abgesehen von der schlichten Beendigung des Projekts) von der freiwilligen Weiterführung mit einem EU-Budget bis zur verpflichtenden Beteiligung und Übernahme der HTAs in nationale Regularien, dann mit einem gemischten Finanzierungsmodell, das neben einem EU-Budget auch eine Beteiligung der Industrie vorsieht. Hierfür ist zu klären, welche Barrieren in der nationalen Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten existieren.

Die Harmonisierung der Berichterstattung über medizinische Verfahren bedeutet, so Rüther, eine Einigung auf einen gemeinsamen (Minimal-)Standard, den Austausch über Themen und die gemeinsame Erarbeitung von Informationen, aber nicht von EU-weiten HTA-Berichten. Ob das Ziel eine gegenseitige Anerkennung oder gar Vereinheitlichung sein soll, bleibe zu diskutieren. In Deutschland gebe es mit dem IQWiG eine Institution, die auf hohem methodischem Standard medizinische Verfahren bewertet, sodass es die europäischen HTA im Grunde nicht benötigt.

Spezialfall Orphan-Drugs

Für die Zusatznutzenbewertung von Orphan-Drugs (Arzneimittel für seltene Erkrankungen, d.h. Erkrankungen mit <5/10000 Betroffenen) gilt abweichend vom Prozedere für andere Arzneimittel ein medizinischer Zusatznutzen allein aufgrund ihrer Zulassung als belegt (§35a Abs. 1 SGB V). Der G-BA hat lediglich über das Ausmaß des Zusatznutzens zu entscheiden. Das IQWiG ist nicht involviert. Erst wenn der Umsatz eines solchen Arzneimittels zulasten der GKV innerhalb von zwölf Kalendermonaten 50 Mio. Euro übersteigt (Apothekenverkaufspreise inkl. Umsatzsteuer), muss der pharmazeutische Unternehmer nach Aufforderung durch den G-BA den Zusatznutzen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie nachweisen.

Welche Erfahrungen der G-BA mit diesem Sonderstatus der Orphan-Drugs gemacht hat, erörterte Priv.-Doz. Dr.med. Matthias Perleth, Berlin, Leiter der Abteilung Fachberatung Medizin beim G-BA. Die Zahl der Orphan-Drug-Zulassungen und damit der G-BA-Beschlüsse ist über die letzten fünf Jahre kontinuierlich gestiegen. Bis zum 20. Oktober 2016 hatte der G-BA für 37 Orphan-Drugs eine Zusatznutzenbewertung vorgenommen und dabei für drei Arzneistoffe einen „beträchtlichen“, für 14 einen „geringen“ und für 20 einen „nicht quantifizierbaren Zusatznutzen“ festgestellt. (Zum Vergleich: Im regulären Zusatznutzenbewertungsverfahren wurden bis zu diesem Zeitpunkt Bewertungen für 190 Arzneistoffe ausgesprochen, dabei wurde in zwei Fällen ein „erheblicher“, 44-mal ein „beträchtlicher“, 38-mal ein „geringer“ und 24-mal ein „nicht quantifizierbarer“ Zusatznutzen konstatiert; in 78 Fällen lautete das Urteil „kein Zusatznutzen“.)

Der Beschluss über den Zusatznutzen eines Orphan-Drug kann befristet werden. Das kann, wie Perleth erläuterte, zum Beispiel geboten sein, wenn noch Fragen zur Wirksamkeit und Sicherheit für Subpopulationen bestehen oder Studienauswertungen nachzureichen sind. Als Beispiel nannte er das Gentherapeutikum Alipogentiparvovec (Glybera®), das mit einer Auflage der European Medicines Agency (EMA), weitere Sicherheitsdaten vorzulegen, zugelassen wurde. Der G-BA hat hier beschlossen, dass der Zusatznutzen zwar allein aus rechtlicher Sicht zu unterstellen, aber nicht quantifizierbar sei, und hat den Beschluss in Erwartung weiterer Sicherheitsdaten bis zum 1. Juni 2016 befristet (inzwischen um ein Jahr verlängert).

Entgegen einer landläufigen Meinung sind offenbar auch für Orphan-Drugs oft randomisierte kontrollierte Studien (RCT) durchführbar, stellte Perleth fest, denn die Mehrzahl der Orphan-Drugs wurde mit RCT-Daten zugelassen. Die primären Endpunkte der vorgelegten Studien wurden vom G-BA allerdings nur bei 60% der Anwendungsgebiete als patientenrelevant eingestuft, während die pharmazeutischen Unternehmer dies in 91% der Fälle als gegeben sahen. Diskrepante Einschätzungen betrafen meistens bildgebende Verfahren zum Nachweis eines progressionsfreien Überlebens und Laborparameter; diese Endpunkte werden vom G-BA in der Regel als Surrogatparameter eingestuft. Problematisch sind auch sehr komplexe Endpunkte, deren Patientenrelevanz schwierig zu beurteilen ist. Als erfreulich bezeichnete Perleth, dass für immerhin 64% der Anwendungsgebiete Daten zur Lebensqualität vorgelegt wurden, auch wenn diese aus Sicht des G-BA meist nicht verwertbar waren.

Der vom AMNOG garantierte Zusatznutzen (bis zu einem Jahresumsatz von 50 Mio. Euro) ist ein ökonomischer Anreiz für die Entwicklung und Markteinführung von Orphan-Drugs. Weitere Anreize auf europäischer Ebene sind die Marktexklusivität, niedrigere Gebühren und Unterstützung bei der Zulassung. Perleth zitierte eine aktuelle amerikanische Publikation, derzufolge Hersteller von Orphan-Drugs um 10% profitabler sind als Non-Orphan-Drug-Hersteller; hierzu trägt bei, dass die Zulassungsstudien für Orphan-Drugs im Schnitt weniger kosten, dass aber die Preise für Orphan-Drugs deutlich höher sind als für Non-Orphan-Drugs [1].

Nutzenbewertung – Versorgungsmedizin

Welche Bedeutung hat die Nutzenbewertung für die Versorgungsmedizin, oder besteht hier sogar ein Widerspruch? Mit dieser Frage setzte sich Prof. Dr.med. Stefan Braune, niedergelassener Neurologe aus Prien am Chiemsee, kritisch auseinander. Zwar ergebe sich ein direkter Einfluss auf die Versorgungsrealität daraus, dass der Zusatznutzen den medizinischen Wert eines Arzneimittels wissenschaftlich objektiv begründen soll und Grundlage der Preisfindung sei. Allerdings sei die zugrunde gelegte Methodik nicht repräsentativ für den Versorgungsalltag. Randomisierte kontrollierte Studien (RCT) lieferten in der Regel nur Aussagen zu einer Vergleichstherapie, und zwar für eine definierte ausgewählte Patientenpopulation, für einen begrenzten Beobachtungszeitraum; zudem stünden im Rahmen von Studien mehr Ressourcen zur Verfügung als in der Versorgungsrealität. Die Praktikabilität einer Therapie, Adhärenz und strukturelle Einflüsse in der Versorgungsrealität würden durch RCT nicht abgebildet. Durch die Beschränkung auf RCT und selektive zweckmäßige Vergleichstherapien sei keine praxisrelevante Nutzenbewertung möglich. Braune forderte, „Real World“-Daten bei der Nutzenbewertung gleichwertig mit RCT zu betrachten.

Nach Vorlage und Diskussion umfangreicher Dossiers zum Nutzen eines Arzneimittels sei die eigentliche Preisfindung nicht transparent und objektivierbar, kritisierte Braune. Wobei er zugestand, dass die Nutzenbewertung, wie mit dem AMNOG beabsichtigt, bei der Preisbildung Wirkung zeigt – allerdings mit der Folge, dass mehrere Arzneimittel wieder vom Markt genommen wurden, weil die pharmazeutischen Unternehmen keine auskömmlichen Preise durchsetzen konnten. Letztlich würden dadurch Neuzulassungen verhindert, mutmaßte Braune.

Seiner Meinung nach gaukelt das AMNOG einen funktionierenden „objektiven“ Entscheidungsprozess vor und blockiert dadurch notwendige gesellschaftspolitische Diskussionen um die Fragen „Was wollen wir uns leisten?“ und „Was können wir uns leisten?“. Er forderte IQWiG und G-BA auf, diese Diskussion aktiv zu fördern. Als Beispiel für einen alternativen Ansatz nannte er das in Großbritannien gebräuchliche Konzept der Quality-adjusted life years (QALY). Im Vergleich damit sei das AMNOG ein „Feigenblatt“.

Im Anschluss an Braunes Vortrag entspann sich eine Diskussion über die Kosten von Arzneimitteln, unter anderem mit der Anregung, den Mehrwertsteuersatz für Arzneimittel zu senken. Beklagt wurde ein fehlendes Arzneimittelpreisbewusstsein in der öffentlichen Wahrnehmung, angesichts von Tagestherapiekosten, die sich zum Teil, beispielsweise bei Antidepressiva, im niedrigen Cent-Bereich bewegen. Für hochpreisige Arzneimittel wie monoklonale Antikörper oder Immunsuppressiva sei ein Kontrollmechanismus gleichwohl nötig, gestand Braune zu.

Evidenzbasierte Medizin nur mit klinischer Erfahrung

Um das Verhältnis zwischen randomisierten kontrollierten klinischen Studien und der therapeutischen Realität ging es auch in dem Vortrag von Prof. Dr.med. Hans-Jürgen Möller, München, mit dem Thema „Evidenzbasierte Medizin: Anspruch und Wirklichkeit“. Goldstandard der evidenzbasierten Medizin sind Metaanalysen und randomisierte kontrollierte klinische Studien, inzwischen zunehmend auch Netzwerkanalysen. Die damit gewonnenen Erkenntnisse finden Niederschlag in Therapieempfehlungen und Leitlinien. Die Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse geht aber weit über diese evidenzbasierten Daten hinaus, stellte Möller fest und betonte die Bedeutung der klinischen Erfahrung für die Therapieentscheidung. Den Stellenwert der klinischen Erfahrung illustrierte er damit, dass grundlegende Entwicklungen („Meilensteine“) der Psychopharmakotherapie, die Entdeckung der Wirkung von Antipsychotika und Antidepressiva, auf sorgfältigen klinischen Beobachtungen beruhten.

Die Betonung des Stellenwerts der klinischen Erfahrung steht durchaus in Einklang mit der EbM-Definition von Sackett et al., die die Integration der individuellen klinischen Expertise mit der besten verfügbaren externen Evidenz fordert (Kasten). Die externe Evidenz ist dabei gar nicht so einfach messbar wie oft angenommen, führte Möller aus. So gebe es keinen internationalen Konsens über Systeme zur Evidenzgraduierung. Während die meisten Leitlinien den Ergebnissen von Metaanalysen den höchsten Evidenzgrad zuschrieben, erachteten andere Leitlinien Ergebnisse einzelner, nach hohen methodischen Standards durchgeführter RCT für wichtiger.

Evidence based medicine (EbM) – Definition von David Sackett et al. [2]

“Evidence based medicine is the conscientious, explicit, and judicious use of current best evidence in making decisions about the care of individual patients. The practice of evidence based medicine means integrating individual clinical expertise with the best available external clinical evidence from systematic research.”

Bei Leitlinien sind im internationalen Vergleich – trotz gleicher wissenschaftlicher Quellen – Unterschiede zu berücksichtigen, zum Beispiel in kulturellen Ansichten und Krankheitsverständnis, in regulatorischen Rahmenbedingungen, Verfügbarkeit von Arzneimitteln und anderen Therapiemöglichkeiten oder im Gesundheitsfinanzierungssystem.

Zur Beurteilung von Evidenz und zur Ableitung von Empfehlungen befürwortete Möller einen konsensbasierten Ansatz. Entsprechende Modelle gebe es bei der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) und beim International College of Neuropsychopharmacology (CINP). Als Beispiel nannte Möller die aktuell erschienene Leitlinie des CINP zu bipolaren Störungen (Tab. 1) [3]. Als schwierig erwies sich hier die Beurteilung der Sicherheit und Verträglichkeit, die zum Teil differenzierende Zusätze erforderlich machte. Nach diesem System erhielt Clozapin aufgrund seiner vielen Nebenwirkungen und des lebensbedrohenden Agranulozytoserisikos den Grad 3; Olanzapin Grad 2, weil es viele Nebenwirkungen, aber keine akut lebensbedrohenden hat; Lamotrigin ebenfalls Grad 2, weil es zwar wenig Nebenwirkungen hat, wovon eine aber lebensbedrohend ist.

Tab. 1. Evidenzbeurteilung in der CINP-Leitlinie zu bipolaren Störungen [3]

Graduierung in Bezug auf Wirksamkeit

Level 1: Gute forschungsbasierte Evidenz, gestützt von mindestens 2 Placebo-kontrollierten Studien ausreichender Größe und guter Qualität. Falls auch randomisierte kontrollierte Studien (RCT) mit negativem Ergebnis existieren, sollten mehr RCT mit positivem Ergebnis vorhanden sein.

Level 2: Angemessene („fair“) forschungsbasierte Evidenz aus einer randomisierten, doppelblinden Placebo-kontrollierten Studie. Falls mehr Studien existieren, erfüllen sie nicht die Kriterien von Level 1.

Level 3: Irgendeine („some“) Evidenz aus vergleichenden Studien ohne Placebo-Arm oder aus Post-hoc-Analysen

Level 4: Nicht beweiskräftige Daten oder schlechte Qualität von RCT

Level 5: Negative Daten

Graduierung in Bezug auf Sicherheit und Verträglichkeit

Level 1: Sehr gute Verträglichkeit, wenige, vorübergehende unerwünschte Wirkungen, die kein wesentliches Leiden hervorrufen, nicht lebensbedrohlich sind und die körperliche Gesundheit insgesamt nicht beeinträchtigen

Level 2: Mäßige Verträglichkeit, viele unerwünschte Wirkungen, die unter Umständen anhalten und signifikantes Leiden hervorrufen, aber nicht lebensbedrohlich sind, obwohl sie die körperliche Gesundheit des Patienten insgesamt beeinträchtigen können

Möglicher Zusatz: Wirkstoffe mit seltenen lebensbedrohlichen unerwünschten Wirkungen können hier eingestuft werden, aber nur wenn das Letalitätsrisiko bei Anwendung geeigneter Maßnahmen (z.B. Laborkontrolle, Titrationsschemata) als vernachlässigbar angesehen werden kann

Level 3: Problematische Verträglichkeit, viele, anhaltende unerwünschte Wirkungen, die signifikantes Leiden verursachen und die körperliche Gesundheit des Patienten insgesamt beeinträchtigen oder lebensbedrohlich sind

Möglicher Zusatz: Wirkstoffe mit insgesamt mäßiger Verträglichkeit (Level 2) und seltenen lebensbedrohlichen unerwünschten Wirkungen sollten hier eingestuft werden, selbst wenn das Letalitätsrisiko bei Anwendung geeigneter Maßnahmen (z.B. Laborkontrolle, Titrationsschemata) als vernachlässigbar angesehen werden kann

Kritisch äußerte Möller sich zur Evidenzlage für die Psychotherapie. So hätten Psychotherapiestudien nach den Methodenkriterien von GRADE per se einen niedrigen Evidenzgrad.

Problem Off-Label-Use

Die klinische Expertise und die wissenschaftliche Evidenz können es nahelegen, ein Arzneimittel außerhalb seiner zugelassenen Indikation (off-Label) einzusetzen. Welche haftungs- und erstattungsrechtlichen Probleme im Zusammenhang mit diesem Off-Label-Use auftreten können, erörterte Prof. Dr.med. Wolfgang Jost, Wolfach. Als Beispiele für medizinisch begründeten Off-Label-Use nannte Jost die Anwendung von Botulinumtoxin bei hereditärer spastischer Spinalparalyse (HSP) sowie die leitliniengerechte Therapie der Parkinsonpsychose mit Quetiapin, obwohl hierfür nur Clozapin explizit zugelassen ist. Ein großes Problem sind generell seltene Erkrankungen (wie die HSP), für die keine zugelassene Therapie existiert.

Ein Arzt ist arzneimittelrechtlich nicht daran gehindert, ein Arzneimittel außerhalb seiner zugelassenen Indikation zu verordnen, stellte Jost fest, er kann im Gegenteil sogar dazu verpflichtet sein, wenn dies dem fachlichen Standard entspricht. Zu bedenken sind aber die erhöhten Sorgfaltspflichten, vor allem in Hinblick auf die Aufklärung des Patienten, zumal die arzneimittelrechtliche Herstellerhaftung entfallen kann. Wegen des hohen Aufwands und erstattungsrechtlicher Konsequenzen (Regress) scheuen zu seinem Bedauern viele Ärzte den Off-Label-Use.

Arzneimittel dürfen zulasten der GKV off-Label verordnet werden, wenn sie zur Therapie einer lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung eingesetzt werden sollen, wenn keine andere Therapie verfügbar ist und wenn begründete Aussicht auf Behandlungserfolg besteht. Es gilt für den Arzt, alle drei Faktoren (Diagnose; bereits erfolglos oder mit unzureichender Wirkung durchgeführte zugelassene Therapien; einschlägige Studien, Leitlinien etc. mit Literaturverweis) in jedem Einzelfall richtig zu dokumentieren, um nicht in Regress genommen zu werden. Die verordnungsfähigen Therapien sind in Anlage VI der Arzneimittel-Richtlinie des G-BA zusammengefasst. Alternativ kann der Patient die Therapie zunächst selbst bezahlen und sich dann von der Krankenkasse die Kosten erstatten lassen; das setzt allerdings voraus, dass die Krankenkasse die geplante Verordnung vorab prüfen konnte.

Offenbar aus Kostengründen werden die Grenzen für den zulässigen Off-Label-Use von den Krankenkassen sehr eng gefasst, beklagte Jost („Es wurde noch nie jemand für Off-Label-Use eines billigen Arzneimittels belangt.“). Wenn die Krankenkasse die Kostenübernahme ablehnt, der Off-Label-Use also strittig ist, besteht grundsätzlich noch die Möglichkeit der zulassungsüberschreitenden Anwendung in einer klinischen Studie nach §35c SGB V; hierzu berechtigt sind Vertragsärzte, die nach §116b und §117 SGB V an der ambulanten Versorgung teilnehmen (ambulante spezialfachärztliche Versorgung bzw. Hochschulambulanzen). Diese Lösung scheitert aber oft an dem hohen Aufwand für solche Studien, stellte Jost fest.

Alternativ empfahl er in strittigen Fällen die Einschaltung einer Selbsthilfegruppe. Nach Ablehnung einer Kostenübernahmeerklärung durch die Krankenkasse kann der Patienten innerhalb von vier Wochen widersprechen. Falls die Krankenkasse erneut eine Ablehnung ausspricht, besteht die Möglichkeit eines Sozialgerichtsverfahrens. Sowohl beim Widerspruch als auch beim Sozialgerichtsverfahren können Selbsthilfegruppen Patienten beraten und führen. Auf diese Weise entsteht eine Datensammlung über strittigen Off-Label-Use. Bei einer Zunahme der positiven Bescheide zur Kostenübernahme durch die Krankenkassen kann die Selbsthilfegruppe über kurz oder lang beim G-BA eine generelle Kostenübernahme beantragen. Für besonders wichtig hielt Jost, dass die Versorgungslücke bei seltenen Erkrankungen geschlossen wird.

Selbsthilfegruppen – ein nicht zu unterschätzender Partner

Was Selbsthilfegruppen tatsächlich bewegen können, schilderte Magdalena Kaminski, Bochum, 1. Vorsitzende der Deutschen Parkinson Vereinigung e.V. (dPV), am Beispiel der Initiative zur Aut-idem-Ausnahme für Parkinson-Patienten. Eine Mitgliederumfrage der dPV im Sommer 2013 ergab zahlreiche Hinweise auf schlechte Erfahrungen mit dem Austausch von Parkinson-Medikamenten. Die dPV sprach dieses Problem bei einer Reihe von Gesundheitspolitikern an. Nachdem der G-BA im September 2014 Parkinson-Medikamente nicht in die 1. Tranche der Substitutionsausschlussliste aufgenommen hatte, organisierte die dPV eine Unterschriftenaktion für die Beantragung einer Online-Petition. Sie konnte rund 57000 Unterschriften an den Bundestag übersenden und erreichte so die Veröffentlichung einer Online-Petition, Parkinson-Patienten generell von der Aut-idem-Regelung auszunehmen. Im Dezember 2015 wurde die Petition dann allerdings überraschend geschlossen mit der Begründung, eine Ausnahme für Parkinson-Patienten verletze den Gleichheitsgrundsatz; zudem sei der Petitionsausschuss nicht zuständig. Die dPV informierte die Öffentlichkeit in einem Pressegespräch über die Problematik des Arzneimittelaustauschs bei Parkinson-Patienten, und sie verfolgt das Thema weiter durch Ausbau der Kontakte in der Gesundheitspolitik, durch Konzeption eines Modellprojekts zur Versorgungsforschung, für das Fördermittel im Rahmen des Innovationsfonds beantragt werden sollen, und durch begleitende PR-Maßnahmen, zum Beispiel die Erstellung von Broschüren mit Patientenbeispielen. Aus Frau Kaminskis Schilderungen wurde deutlich, dass Selbsthilfegruppen politisch durchaus etwas bewegen können, dabei aber einen langen Atem brauchen.

Leitlinien und Personalplanung

In Leitlinien werden Kriterien für eine bestmögliche Diagnose und Therapie einer Erkrankung formuliert. Darüber hinaus können sie auch benutzt werden, um den damit verbundenen Personalbedarf zu ermitteln. Dieses Konzept wird derzeit verfolgt, um für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen die nötige Personalausstattung zu definieren und auf dieser Basis die Entgelte der Kostenträger festzulegen. Zum aktuellen Stand referierte Dr. med. Iris Hauth, Geschäftsführerin und Ärztliche Direktorin des St. Joseph-Krankenhauses Berlin-Weißensee und somit Gastgeberin des GESENT-Kongresses, in ihrem Vortrag „Pauschalierendes Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) in neuen Gewändern“.

Ein besonderer Aspekt der Arzneimittelsicherheit

Arzneimittelfälschungen sind ein Thema von weltweiter Bedeutung. Einen Einblick in aktuelle Erkenntnisse und Maßnahmen gab Prof. Dr. Walter Schwerdtfeger, Königswinter, ehemaliger Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Schätzungen zufolge sind weltweit etwa 10%, in den Entwicklungsländern bis zu 50% der gehandelten Arzneimittel gefälscht. Betroffen sind alle wichtigen Arzneimittelgruppen. Der Schaden für die Weltwirtschaft wird auf jährlich mindestens 100 Mrd. US-Dollar geschätzt. Konkrete Daten werden durch die Operation PANGEA gewonnen. Hier werden einmal im Jahr eine Woche lang weltweit koordinierte Kontrollen des Arzneimittelmarkts durchgeführt; dabei sind auch internationale Polizei- und Zollbehörden, pharmazeutische Unternehmen sowie Zahlungs- und Zustelldienstleister beteiligt. PANGEA IX wurde vom 30. Mai bis 7. Juni 2016 in 103 Staaten durchgeführt. Dabei wurden 34000 Packungen geprüft und von diesen rund 50% beschlagnahmt, insgesamt rund 12,2 Mio. Tabletten, Kapseln und Ampullen im Marktwert von rund 53,4 Mio. US-Dollar. Unabhängig vom wirtschaftlichen Schaden können Arzneimittelfälschungen lebensbedrohlich sein. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation gehen weltweit jährlich etwa eine Million Todesfälle auf gefälschte Arzneimittel zurück.

Um dem Problem Arzneimittelfälschungen auf europäischer Ebene Herr zu werden, haben das europäische Parlament und der Rat im Juni 2011 die Richtlinie 2011/62/EU erlassen. Demzufolge müssen Arzneimittel künftig ein individuelles Erkennungsmerkmal und eine Vorrichtung gegen Manipulation tragen. Zudem soll eine EU-Datenbank eingerichtet werden, in der die Zertifikate über eine gute Herstellungspraxis und eine gute Vertriebspraxis sowie über die Registrierung der Importeure, Hersteller und Vertriebshändler von Wirkstoffen öffentlich zugänglich sind. Nicht zuletzt wurde ein verbindliches Logo für den legalen Versandhandel mit Arzneistoffen geschaffen.

Um die Qualität und Identität importierter Wirkstoffe zu sichern, dürfen diese gemäß Richtlinie 2001/83/EG nur eingeführt werden, wenn die zuständige Behörde des Herkunftslands schriftlich bestätigt, dass Herstellung und Kontrolle der Herstellbetriebe nach Standards erfolgen, die denen in der EU zumindest gleichwertig sind, und dass Informationen über Verstöße gegen diese Regeln vom ausführenden Drittstaat unverzüglich an die EU weitergeleitet werden. Dies setzt voraus, betonte Schwerdtfeger, dass die zuständigen Behörden des Drittstaats die Erfüllung dieser Maßgaben lückenlos überprüfen, fachlich beurteilen können und in jedem Einzelfall auch durchsetzen. Hier habe er große Zweifel.

Zum Schutz vor gefälschten Fertigarzneimitteln soll zum 9. Februar 2019 ein Sicherungssystem eingeführt werden, das für Deutschland von der Initiative securPharm e.V. entwickelt wurde. Der pharmazeutische Unternehmer erzeugt bei der Fertigung des Arzneimittels ein individuelles Erkennungsmerkmal (2D-Code) der Verpackung, das in einer Online-Datenbank hinterlegt wird. Bei der Abgabe an den Patienten wird das Arzneimittel anhand dieses Codes auf seine Echtheit geprüft und der Code aus der Datenbank ausgebucht. Schwerdtfeger bezeichnete diesen Ansatz als schöne Initiative, die aber noch nicht in allen Details ausgearbeitet sei.

Aus seiner Sicht könnte Arzneimittelfälschungen auch dadurch vorgebeugt werden, dass die Herstellung der Arzneimittel in zuverlässig kontrollierbare Regionen (zurück)verlagert werde – auch wenn dies bei pharmazeutischen Herstellern oft ungern gehört werde. Von Diskutanten wurden Reimporte und Rabattverträge als weitere Problemfelder genannt, die Arzneimittelfälschungen begünstigen können.

Literatur

1. Hughes DA, Poletti-Hughes J. Profitability and market value of orphan drug companies: A retrospective propensity-matches case-control study. PLoS One 2016;11:e0164681.

2. Sackett D, et al. Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ 1996;312:71–2.

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Dr. Heike Oberpichler-Schwenk, Redaktion Psychopharmakotherapie, Birkenwaldstr. 44, 70191 Stuttgart, E-Mail: ppt@wissenschaftliche-verlagsgesellschaft.de

Psychopharmakotherapie 2017; 24(02)