Marktrückzug des neuen Antidepressivums Vortioxetin


Kommentar und Umstellungshinweise

Gerd Laux, Haag i. OB/München

Trotz des hohen Bedarfs an neuen Psychopharmaka mit besserer Wirksamkeit, zum Beispiel auf bestimmte Zielsymptome, und/oder besserer Verträglichkeit wurden in den letzten Jahren kaum neue Substanzen eingeführt. Nun meldet Lundbeck den Marktrückzug des neuen multimodalen Antidepressivums Vortioxetin. Die Umstände diese Marktrückzugs werden im Folgenden kritisch kommentiert. Infolge des Marktrückzugs müssen Patienten, die mit Vortioxetin behandelt werden, auf ein anderes Antidepressivum umgestellt werden. Hierzu werden praktische Hinweise gegeben.
Schlüsselwörter: Vortioxetin, AMNOG, Marktrückzug, Zusatznutzen
Psychopharmakotherapie 2016;23:209–11.

Hintergrund des Marktrückzugs von Vortioxetin ist, dass mit dem Inkrafttreten des Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes – kurz AMNOG – der Hersteller beim gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) ein Dossier einreichen muss, mit dem er im Vergleich zu einer festgelegten sogenannten „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ (zVT, d.h. zumeist preisgünstigstes Generikum) für die neue Substanz einen „Zusatznutzen“ zu belegen hat. Nur wenn der G-BA diesen Zusatznutzen als belegt akzeptiert, hat der pharmazeutische Unternehmer die Aussicht, in den folgenden Preisverhandlungen mit den gesetzlichen Krankenkassen einen Erstattungsbetrag über dem betreffenden Festbetrag zu erzielen.

Das AMNOG-Verfahren ist ein sehr formales und methodisch getriebenes Verfahren. Aufgrund des häufigen Fehlens direkter Vergleichsstudien muss oft ein indirekter Vergleich auf metaanalytischer Ebene erfolgen. Von Biometrikern und Statistikern ausgewählte kontrollierte Studien mit theorielastigen Kriterien werden für die Entscheidung herangezogen, klinische Gesichtspunkte werden überwiegend ausgeblendet, praktischer Behandlungserfahrung kommt kein Stellenwert zu, nur randomisierte, möglichst Placebo-kontrollierte Doppelblindstudien finden Berücksichtigung. Das Verfahren leidet an der fehlenden Berücksichtigung klinischer Experten. Dies beginnt bei der Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie durch den G-BA. Bei der Festlegung der Vergleichstherapie werden generische Präparate bevorzugt berücksichtigt, auch wenn diese, wie beispielsweise Fluvoxamin, kaum verordnet werden. Das AMNOG sieht die Zusammenarbeit mit Fachgesellschaften „nur nachrangig vor“, aufgrund des stark formalisierten Bewertungsprozesses – Zwang zur standardisierten zVT, die einen individuellen Zusatznutzen nicht vorsieht, kaum Berücksichtigung von Leitlinien, keine klinisch relevanten Endpunkt-Definitionen, keine Subgruppen-Analysen – kann keine adäquate Beurteilung des Zusatznutzens innovativer Arzneimittel erfolgen [6].

Die Depression ist eine komplexe Erkrankung mit Subtypen, verschiedenen Leit- und Zielsymptomen. Die heterogenen Patientenkollektive egalisieren sich aufgrund der Einheits-Studiendesigns. Im Bewertungsverfahren werden nur globale Mittelwerte ohne klinische Bewertungsaspekte berücksichtigt.

Nur vier Substanzen zur Behandlung psychischer Störungen wurden bisher einer Nutzenbewertung unterzogen. Für keine konnte bisher ein Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie festgestellt werden, Lurasidon und jetzt Vortioxetin wurden daraufhin vom Markt genommen [5].

Im Fall von Vortioxetin ergab sich folgender Zeitablauf:

  • 12/2013: Zulassung durch die European Medicines Agency (EMA)
  • 4/2015: Einreichen des Nutzenbewertungsdossiers beim G-BA durch Lundbeck
  • 5/2015: Inverkehrbringen der Substanz
  • 8/2015: Veröffentlichung des IQWiG-Gutachtens: „Kein Zusatznutzen“ Stellungnahmeverfahren
  • 9/2015: Anhörung beim G-BA
  • 10/2015: Veröffentlichung der Bewertung des G-BA: „Kein Zusatznutzen“
  • Bis 30. April 2016: Festsetzung eines Marktpreises, der ab 1.Mai 2016 Gültigkeit hat

Vortioxetin wurde auf dem Preisniveau von Agomelatin eingeführt, im Rahmen des AMNOG-Verfahrens wurde am 27. Juni 2016 der endgültige Erstattungspreis durch die Schiedsstelle auf niedrigstem generischen Preisniveau (Tagestherapiekosten weniger als 10 Cent) festgesetzt.

Dieser Preisbezug wurde bemerkenswerterweise nicht zur zVT Citalopram hergestellt, sondern zu Fluvoxamin, dem billigsten SSRI, das überhaupt nicht Gegenstand des Dossiers war und unter den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) der Wirkstoff mit den meisten Nebenwirkungen und der geringsten Verordnungshäufigkeit ist.

Lundbeck sah sich deshalb außerstande, Brintellix® in Deutschland weiterhin kostendeckend anzubieten, und hat es zum 15. August 2016 außer Vertrieb genommen. Es sei wirtschaftlich nicht tragbar, ein innovatives und patentgeschütztes Produkt zur Behandlung der Depression mit allen damit verbundenen, notwendigen Forschungsinvestitionen zu einem generischen Preis anzubieten. Ein Behandlungstag kostet derzeit weniger als 1,50 Euro und liegt damit unterhalb der Preise der vorangegangenen Antidepressiva-Neueinführungen. Lundbeck war in den Verhandlungen zu deutlichen Zugeständnissen bereit; angeboten wurde ein Preis, der weit unter dem europäischen Durchschnittspreis für Brintellix® von 1,25 Euro lag. Kompromissvorschläge, zu denen – neben einer deutlichen Preisreduktion – auch eine mögliche Beschränkung auf eine Behandlung in der zweiten oder dritten Therapielinie („second line bei SSRI-Non-Response“) gehörte, wurden nicht akzeptiert. Ein Teil der vorgelegten positiven Studien, beispielsweise zur Wirksamkeit vs. Agomelatin, zur Fahrtauglichkeit vs. Mirtazapin, zu kognitiven Effekten vs. Duloxetin, wurde nicht berücksichtigt.

Eigenschaften von Vortioxetin

Vortioxetin wird aufgrund seines neuartigen pharmakologischen Profils der Klasse der multimodalen Antidepressiva zugeordnet, da es unterschiedliche pharmakologische Wirkungsmechanismen besitzt, nämlich einen 5-HT3-, 5-HT7- und 5-HT1D-Rezeptor-Antagonismus, einen 5-HT1B-Rezeptor-Partialagonismus und zugleich eine Inhibition des 5-HT-Transporters. Die maximale Plasmakonzentration liegt nach 7 bis 11 Stunden vor, die mittlere Eliminationshalbwertszeit beträgt 66 Stunden. Die Elimination erfolgt vor allem durch hepatische Metabolisierung, primär durch Oxidation via Cytochrom P450-2D6 (CYP2D6), und Ausscheidung der inaktiven Metaboliten über den Urin (⅔) und den Stuhl (⅓). Die Anfangsdosis von Vortioxetin beträgt 10 mg pro Tag, die Maximaldosis liegt bei 20 mg pro Tag. Vortioxetin darf nicht in Kombination mit Monoaminoxidase-(MAO-)Hemmern verabreicht werden.

Wirksamkeit – klinische Studien

Die Substanz wurde in umfangreichen, weltweiten Studien an über 6700 Patienten mit Major Depression versus Placebo sowie versus Vergleichssubstanzen untersucht. Die Zulassung basiert auf zehn Kurzzeitstudien über jeweils sechs bis acht Wochen sowie einer Langzeitstudie zur Rezidivprävention. Vergleichssubstanzen waren Agomelatin, Venlafaxin und Duloxetin [1].

Vortioxetin ist das erste Antidepressivum, für das günstige Effekte auf kognitive Funktionen (Gedächtnis, Exekutivfunktionen) gezeigt werden konnten [2, 3].

Es liegt auch eine Studie zur Fahrtauglichkeit vor – sie wurde randomisiert, doppelblind und Placebo-kontrolliert an 21 gesunden, jungen Probanden versus Mirtazapin durchgeführt [11]. Die Messergebnisse unter Vortioxetin entsprachen denen unter Placebo, während am Tag 2 unter Mirtazapin signifikante Verschlechterungen zu registrieren waren.

Verträglichkeit, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen

Häufigste unerwünschte Arzneimittelwirkung ist eine Serotonin-typische Übelkeit und Erbrechen. Das Risiko einer sexuellen Dysfunktion ist gering, praxisrelevant sind die fehlende Gewichtserhöhung und fehlende Effekte auf EKG, Blutdruck, Herzfrequenz, Leber- und Nierenwerte.

Umstellungsempfehlungen

Bislang wurden rund 45000 Patienten mit Vortioxetin behandelt.

Prinzipiell kann jede Änderung der antidepressiven Pharmakotherapie zu einer Instabilität des Krankheitsbilds (bis hin zur Suizidalität) und/oder körperlichen Symptomen führen, sodass eine engmaschige psychiatrische und somatische Überwachung notwendig ist.

Typische Absetzsymptome können sein: Schwindel, Übelkeit, Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Magen-/Darmprobleme und Insomnie.

Für Vortioxetin wurden Absetzsymptome erhoben für die Therapiebeendigung nach einer Kurzzeitbehandlung (6 bis 12 Wochen) oder einer Langzeitbehandlung (24 bis 64 Wochen). Es wurde kein klinisch relevanter Unterschied gegenüber Placebo festgestellt. Dennoch wird empfohlen, gerade bei höheren Dosierungen (15 bis 20 mg/Tag) eine Reduktion auf 10 und dann 5 mg/Tag für mindestens eine Woche vorzunehmen, bevor die Medikation gestoppt wird.

Bei der Umstellung muss vor allem ein Serotoninsyndrom (u.a. Fieber, Schwitzen, gastrointestinale Beschwerden, Tremor, Rigidität, Myoklonien, Gefahr von epileptischen Anfällen, Hyperreflexie, Agitiertheit und in schweren Fällen Verhaltens- und Bewusstseinsänderungen) vermieden werden.

Vortioxetin hat eine Halbwertszeit von 66 Stunden, Steady-State-Plasmakonzentrationen werden nach etwa zwei Wochen erreicht. Dies muss bei der Umstellung auf andere Antidepressiva berücksichtigt werden.

Zu den häufigsten Umstellungen dürften diejenigen auf (Es)citalopram, Sertralin und Venlafaxin zählen. Hierfür lassen sich die in Tabelle 1 zusammengefassten Empfehlungen geben [7, 8].

Tab. 1. Empfehlungen zur Umstellung einer Vortioxetin-Behandlung auf andere Antidepressiva

Beispiel 1: Vortioxetin Escitalopram

Stopp Vortioxetin

  • Tag 1: Dosisreduktion Vortioxetin auf 5 mg/Tag
  • Tag 8: Stopp Vortioxetin

Start Escitalopram

  • Keine Wash-out-Periode erforderlich
  • Tag 9: Start Escitalopram in normaler Dosis von 10 mg/Tag

Beispiel 2: Vortioxetin Sertralin

Stopp Vortioxetin

  • Tag 1: Dosisreduktion Vortioxetin auf 5 mg/Tag
  • Tag 8: Stopp Vortioxetin

Start Sertralin

  • Tag 8–14: Wash-out-Periode von einer Woche ist nötig wegen CYP2D6-Inhibition durch Sertralin und serotonergen Wirkungen
  • Tag 15: Start Sertralin in normaler Dosis von 50 mg/Tag

Beispiel 3: Vortioxetin Venlafaxin

Stopp Vortioxetin

  • Tag 1: Dosisreduktion Vortioxetin auf 5 mg/Tag
  • Tag 8: Stopp Vortioxetin

Start Venlafaxin

  • Tag 8–14: Wash-out-Periode von einer Woche ist nötig
  • Tag 15: Start mit 37,5 mg Venlafaxin
  • Tag 22: Blutspiegel von Vortioxetin ist jetzt 0, deshalb Dosiserhöhung möglich

Zweierlei Maß?

Angesichts der Milliardensummen, die in den letzten Jahren für die Durchführung Placebo-kontrollierter Studien investiert wurden, können die Hersteller heute kaum noch damit rechnen, für ihre neuentwickelte Substanz eine entsprechende Vergütung zu erhalten. Durch das AMNOG-Verfahren mit einer biometrisch-statistisch dominierten Zusatznutzen-Bewertungs-Hürde wenden sich die pharmazeutischen Unternehmen aussichtsreicheren Arzneimittel-Entwicklungen zu (z.B. Onkologie, Herz-Kreislauf), die im Markt refinanzierbar sind. In Deutschland übernimmt die GKV für die oft nur kurze Zeit lebensverlängernde Krebs-Behandlung Tagestherapiekosten von bis zu 300 Euro, ebenso Kosten für fragwürdige „komplementär-alternative“ Therapien ohne Wirksamkeitsnachweis. Die Therapie mit wirksamen Antidepressiva liegt hingegen auf dem „Kaugummi-Preisniveau“ (durchschnittliche Tagestherapiekosten etwa 30 Cent! [10] – Patientengruppen und ihre Interessen werden eben sehr unterschiedlich wahrgenommen und gehört. Im „reichen“ Deutschland wird offenbar psychischen Erkrankungen wenig „Wert“ zuteil [9], in vielen europäischen Ländern erfolgt für Vortioxetin eine faire Kostenpreiserstattung mit Nutzenanerkennung.

Die ZNS-Forschung und Entwicklung von Neuro-Psychopharmaka ist unter anderem wegen fehlender Tiermodelle und Langzeit-Verläufen aufwendiger und wird durch AMNOG weiter erschwert – es ist deshalb zu einem Stillstand in der Entwicklung neuer Psychopharmaka gekommen [4, 5]. Das gegenwärtige System der frühen Nutzenbewertung (AMNOG) und die darauf aufbauende Preisregulierung in der GKV für die Behandlung chronischer Erkrankungen haben nachhaltig negative Konsequenzen ausgelöst. Sinnvoll wäre es, einen „Zusatznutzen“ erst nach mehrjähriger Praxiserfahrung zu evaluieren, auch könnten Kostenerstattungen für definierte Subgruppen und Indikationen im Sinne der „personalisierten, individuellen Therapie“ erfolgen.

Brintellix® bleibt nach dem Marktrückzug in Deutschland auch weiterhin, so wie in der gesamten Europäischen Union, zugelassen und uneingeschränkt verkehrsfähig. Daher bleibt ein Bezug des Arzneimittels auch in Zukunft möglich, Vortioxetin ist im europäischen Ausland weiterhin verfügbar und kann durch Apotheken importiert werden.

Interessenkonflikterklärung

GL gibt als potenzielle Interessenkonflikte folgende Firmen an: Bayer, Janssen-Cilag, Lundbeck, Otsuka, Servier

Literatur

1. Alvarez E, Perez V, Dragheim M, Loft H, et al. A double-blind, randomized, placebo-controlled, active reference study off Lu AA 21004 in patients with major depressive disorder. Int J Neuropsychopharmacol 2012;15: 589–600.

2. Al-Sukhni M, Maruschak NA, McIntyre RS. Vortioxetine: a review of efficacy, safety and tolerability with a focus on cognitive symptoms in major depressive disorder. Expert Opin Drug Saf 2015;14:1291–304.

3. Connolly KR, Thase ME. Vortioxetine: a new treatment for major depressive disorder. Expert Opin Pharmacother 2016;17:421–31.

4. Diener HC. Neuzulassung von Arzneimitteln in Deutschland. Wissenschaft versus Ökonomie. Arzneimitteltherapie 2015;33:275–6.

5. Gründer G. Bedeutung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes für die Psychopharmakotherapie. Nervenarzt 2016;87:356–66.

6. Hamer H, Meyer-Lindenberg A. Auswirkungen des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) auf die neurologische und psychiatrische Versorgungsqualität. Nervenarzt 2016;87:351–2.

7. http://wiki.psychiatrienet.nl/index.php/SwitchAntidepressants (Zugriff am 26.07.2016).

8. Katona CL, Katona CP. New generation multi-modal antidepressants: focus on vortioxetine for major depressive disorder. Neuropsychiatr Dis Treat 2014;10:349–54.

9. Müller T. Depressionen – Ein Euro Tagestherapiekosten – das ist den Kassen zu teuer. Leitartikel Ärzte Zeitung 20.7.2016.

10. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2015. Heidelberg: Springer, 2015.

11. Theunissen EL, Street D, Hojer AM, et al. A randomized trial on the acute and steady-state effects of a new antidepressant, vortioxetine (LU AA21004), on actual driving and cognition. Clin Pharmacol Therap 2013;93:493–501.

Univ.-Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Laux, Institut für Psychologische Medizin (IPM), Oberwallnerweg 7, 83527 Haag i. OB, E-Mail: ipm@ipm-laux.de

Vortioxetine – withdrawal from the German market

Despite unmet needs regarding global and special efficacy, tolerability and time of onset progress regarding new antidepressants is stagnating. The novel multimodal antidepressant vortioxetine being the first antidepressant agent demonstrating meaningful clinical efficacy in the improvement of cognition in adults with MDD is now withdrawn from the German market due to economic reasons based on the judgement “missing additional benefit”. The circumstances and arguments regarding fixing prices based on low generic values without consideration of special effectiveness through the authorities are discussed. Implications for the development of new psychotropic drugs in the future are outlined. Patients treated with vortioxetine must be switched to other antidepressants (e.g., sertraline, escitalopram, venlafaxine). Hints and recommendations for the procedure are given.

Key words: Vortioxetine, AMNOG (German Act on the Reform of the Market for Medicinal Products), market withdrawal, additional benefit

Psychopharmakotherapie 2016; 23(05)