Verordnung von Neuro-Psychopharmaka


Anmerkungen zum Arzneiverordnungsreport 2015

Jürgen Fritze, Pulheim

Wegen methodischer Probleme auch des Arzneiverordnungsreports (AVR) 2015 als Quelle pharmakoepidemiologischer Daten rechtfertigen sich Analysen auf Wirkstoffebene jedenfalls bei den Antidementiva nicht mehr. Seit Jahren imponiert das Wachstum der Antidepressiva und Antikonvulsiva. Die Gründe für die über die Jahre recht stabile und erhebliche Variabilität insbesondere der Verordnung von Psychopharmaka zwischen den Bundesländern bleiben unklar und warten auf Detailanalysen der – öffentlich nicht zugänglichen – Rohdaten.
Schlüsselwörter: Psychopharmaka, Antidementiva, Antiepileptika, Parkinsonmittel, Pharmakoepidemiologie
Psychopharmakotherapie 2016;23:162–4.

Vor Kurzem hat der federführende Herausgeber Prof. Laux in diesem Journal bereits den Arzneiverordnungsreport (AVR) 2015 [4] kritisch rezensiert [3]. Zentrales Motiv des vorliegenden bisher jährlichen Beitrags auf Basis des AVR war und ist, dem einzelnen Arzt zu ermöglichen, die Rationalität seines Verordnungsverhaltens gegenüber der Gesamtheit zu „benchmarken“. Das ist ein – bescheidener – Beitrag zur ansonsten bisher fehlenden systematischen Qualitätssicherung der Pharmakotherapie bei neurologischen und psychiatrischen Indikationen. Wie zum AVR 2013 und AVR 2014 detailliert beschrieben [1, 2], verhindern methodische Probleme des AVR insbesondere auf Ebene der einzelnen Wirkstoffe und der Kosten sinnvolle weiterführende pharmakoepidemiologische Auswertungen der Daten zu den Neuro-Psychopharmaka. Diese Probleme wurden auch im AVR 2015 nicht ausgeräumt, weshalb auch diesmal auf diese Detailinformationen verzichtet werden muss. Im Sinne des genannten Motivs werden, wie seit 2008, zusätzlich die regionalen Daten der GKV-Arzneimittel-Schnellinformation (www.gkv-gamsi.de) bezogen auf die regionale Zahl der GKV-Versicherten (KM6-Statistik; www.bmg.bund.de/themen/krankenversicherung/zahlen-und-fakten-zur-krankenversicherung/mitglieder-und-versicherte.html) herangezogen.

Verordnungsspektren

Die verordneten Tagesdosen (DDD) von Antidepressiva haben erneut – um 4,5% – zugenommen (Abb. 1) und sind damit seit 1990 mehr als 8-fach gestiegen, wobei sich eine Sättigung allenfalls andeutet. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) – angeführt von Citalopram – dominieren mit 44%, gefolgt von Trizyklika (20%), Venlafaxin und Mirtazapin (je knapp 13%). Warum die Verordnungen von Lithium (Abb. 2) seit Jahren nur zwischen 20 und 21 Mio. DDD pendeln und damit kaum 10% des entsprechend den Krankheitsprävalenzen nominal möglichen Volumens erreichen, bleibt erklärungsbedürftig. Die Verordnung von Neuroleptika (Abb. 1) steigt seit etwa 2005 jährlich um 2 bis 5% vermutlich infolge von Indikationserweiterungen moderner Antipsychotika auf bipolare Störungen und Off-Label-Use. Die sogenannten atypischen Antipsychotika der zweiten Generation machen 60% (und 87% der Umsätze) aus, darin führend Quetiapin mit 17%. Die verordneten DDD der Antidementiva sind nach dem Einbruch 2004 infolge des grundsätzlichen gesetzlichen Ausschlusses nichtverschreibungspflichtiger Arzneimittel (Ginkgo biloba) durch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) 2014 erneut – um 2,7% – gestiegen.

Abb. 1. Verordnungen (definierte Tagesdosen [DDD]) von Psychopharmaka zulasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2015]

Die Entwöhnungsmittel Acamprosat, Naltrexon und Nalmefen werden weiterhin kaum verordnet (Abb. 2); kaum 5% der geeigneten Zielgruppe dürften erreicht werden. Naltrexon und Nalmefen werden vom AVR nicht berichtet, weil sie nicht zu den 3000 meistverordneten Wirkstoffen gehören. Bei den Psychostimulanzien – hier mit 90% Methylphenidat dominant – ist seit 2008 ein Sättigungseffekt zu verzeichnen (Abb. 2). Das Wachstum der Antikonvulsiva (hier auch als Mood-Stabilizer) hat sich 2014 fortgesetzt; angeführt von Pregabalin (21%), Levetiracetam (18%), Valproinsäure (15%), Gabapentin (12%) und Carbamazepin (11%). Bei den Parkinsonmitteln (Abb. 2) führt Levodopa (mit Decarboxylasehemmer; knapp 45%) gefolgt von Pramipexol (15%), Anticholinergika (9,8%), Ropinirol (8%), Entacapon und Amantadin (je 7,7%), Rasagilin (6,6%) und Rotigotin (4%). Der Rückgang der Verordnung (DDD) von Tranquillanzien (Lorazepam führend mit 37%, gefolgt von Diazepam mit 24%) und Hypnotika (fast 80% Zopiclon und Zolpidem) setzt sich fort.

Abb. 2. Verordnungen (DDD) von Neuro-Psychopharmaka zulasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2015]

Regionale Verordnungsgewohnheiten

Die föderale Struktur Deutschlands bietet die Möglichkeit des Benchmarkings der Versorgung – hier mit Arzneimitteln – als quasi ideales Instrument der Qualitätskontrolle. Solches Benchmarking ist auch geboten, um zu prüfen, inwieweit der gesetzliche Anspruch der gesetzlich Versicherten auf eine gleichmäßig bedarfsgerechte Versorgung (§ 70 SGB V) eingelöst wird. Die dem AVR zugrunde liegenden Daten enthalten den regionalen Bezug, werden aber bisher vom AVR nicht in diesem Sinne genutzt. Regionalen Bezug (auf jede Kassenärztliche Vereinigung) bieten nur die auf derselben Datenbasis erstellten Berichte des GKV-Arzneimittel-Schnellinformationssystems (GAmSi) des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Diese berichten aber nur über die jeweils 30 umsatzstärksten Fertigarzneimittel, ansonsten nur aggregiert auf Ebene von Indikationsgruppen.

Das GAmSi gibt aggregierte Informationen zu „Psychopharmaka“ und fasst unter diesem Begriff wie der AVR Antidepressiva, Neuroleptika, Tranquillanzien, Phasenprophylaktika (z.B. Lithium) und Psychostimulanzien zusammen. Danach gab es, wie in den Vorjahren auch, im Jahr 2014 (kumuliert bis 12/2014) ein Süd-Nord-Gefälle (mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Hamburg) mit den höchsten Verordnungsraten im Saarland (Abb. 3). Die Variabilität zwischen den Bundesländern (Variationskoeffizient [VK] 7,7% für die Tagesdosen je GKV-Versicherten) liegt seit Jahren in ähnlicher Größenordnung. Dahinter scheint keine generelle Affinität zur Pharmakotherapie zu stehen, denn die Verordnung aller Arzneimittel je Versicherten (VK=13%) zeigt eine andere Verteilung (Abb. 4), die mit dem Alter (Abb. 5; VK=11%) zusammenzuhängen scheint. Dies gilt ähnlich für die Parkinsonmittel (Abb. 6; VK=17%). Für die Variabilität der Antiepileptika (Abb. 7; VK=14%) drängt sich ein solcher Zusammenhang nicht so auf.

Abb. 3. Verordungen von Psychopharmaka (DDD/GKV-Versicherten) nach Bundesländern (Stand 12/2014) [GKV-Arzneimittel-Schnellinformationssystem, GAmSi]

Abb. 4. Verordnungen (alle Pharmaka; DDD/GKV-Versicherten) nach Bundesländern (Stand 12/2014) [GAmSi]

Abb. 5. Anteil [%] der gesetzlich Ver-sicherten älter als 64 Jahre nach Bundesländern [KM6]

Abb. 6. Verordungen von Parkinsonmitteln (DDD/GKV-Versicherten) nach Bundesländern (Stand 12/2014) [GAmSi]

Abb. 7. Verordungen von Antiepileptika (DDD/GKV-Versicherten) nach Bundesländern (Stand 12/2014) [GAmSi]

Interessenkonflikterklärung

JF erhielt in den letzten zwei Jahren Honorare für Beratertätigkeit von Amgen, Lundbeck, Roche, St. Jude Medical, Sanvartis, Verband der privaten Krankenversicherung

Literatur

1. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen: Daten und Kritik zum Arzneiverordnungsreport 2014. Psychopharmakotherapie 2015;22:250–2.

2. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen: Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2013. Psychopharmakotherapie 2014;21:153–66.

3. Laux G. Arzneiverordnungs-Report 2015 [Rezension]. Psychopharmakotherapie 2016; 23:7.

4. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungsreport 2015. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg 2015, ISBN 978-3-662-47185-2.

Prof. Dr. Jürgen Fritze, Asternweg 65, 50259 Pulheim, E-Mail: juergen.fritze@dgn.de

Prescribing patterns of psychotropic and neurotropic drugs in Germany

Methodological concerns question the justification to base pharmacoepidemiological analyses on the Drug Prescription Report 2015 at least for antidementia drugs. The medical rationale of the heterogeneity of prescribing patterns within Germany is unclear and requires in depth analyses of the raw data which are not available to the public.

Key words: Psychotropic drugs, antidementia drugs, antiepileptics, Parkinson drugs, pharmacoepidemiology

Psychopharmakotherapie 2016; 23(04)