Eindrucksvoller CINP-Kongress 2016 in Seoul überstrahlt kritische Situation der Psychopharmakologie


Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, München

Vom 3. bis 5. Juli fand der Weltkongress für Neuro-Psychopharmakologie, nach der ausrichtenden wissenschaftlichen Fachgesellschaft CINP (Collegium Internationale Neuropsychopharmacologicum) traditionell auch CINP-Kongress genannt, in Seoul statt. Das Rahmenthema „Future of neuropsychopharmacology. Innovation integrated with neuroscience“ ließ Positives erwarten. In finanziell kritischen, durch Innovationsmangel sowie Kodex geprägten Zeiten der pharmazeutischen Industrie war nur etwa die Hälfte der früher üblichen Besucherzahlen zu verzeichnen. Die größtenteils wohl selbstzahlenden Teilnehmer waren aber außerordentlich aktiv und die Vortragsräume waren gut besetzt. Die hohe Teilnehmerzahl aus dem asiatischen Raum – beispielsweise rund 200 Teilnehmer aus Japan – war erfreulich, während Deutschland, einst das gepriesene Land der Psychopharmakologie, nur mit zehn Teilnehmern repräsentiert war.

Die Vorträge waren, CINP-Kongressen entsprechend, auf hohem Niveau, sehr stark grundlagenwissenschaftlich und translational orientiert. In neurobiologischer und pharmakologischer Hinsicht wurden viele Facetten des dopaminergen und serotonergen Systems dargestellt, wobei mit Blick auf mögliche neue Arzneimittel insbesondere das glutamaterge System in all seiner Komplexität in verschiedenen Beiträgen erörtert wurde. Insbesondere die Möglichkeit, über glutamaterge Mechanismen Antidepressiva mit besonders schnellem Wirkungseintritt zu entwickeln, ohne mit den Limitierungen von Ketamin kämpfen zu müssen, stimmt aus klinischer Sicht hoffnungsvoll. Unter den Plenarvorträgen stach besonders der Vortrag „Computational neuropsychiatry and pharmacology“ hervor, in dem Prof. Kawato (Japan) die Hightech-Analysemöglichkeit großer multimodaler (d.h. mithilfe verschiedener Bildgebungsverfahren gewonnener) Imaging-Datensätze und den daraus zu ziehenden Erkenntnisgewinn darstellte. Der Vortrag von Prof. Cuthbert aus den USA (NIMH), der die Konzeption und die Möglichkeiten der neurobiologisch orientierten Research Domain Criteria (RDoC) für die Psychopharmaka-Entwicklung erläuterte, vermochte jedoch nicht zu überzeugen. Dies vor allem deswegen, weil als Phänotypen des RDoC-Systems nur wenige und reduktionistisch definierte neuropsychologische Dimensionen verwendet werden, die für den Kliniker keinen ausreichenden Bezug zur psychopathologischen Syndromatologie haben. Auch die neurobiologische Ebene scheint mit dem Vorrang von vorwiegend über fMRT definierten „circuits“ zu kurz gegriffen. Ein Symposium über die neue „Neuroscience based nomenclature“ von Psychopharmaka, die von einer Arbeitsgruppe der internationalen psychopharmakologischen Fachgesellschaften, unter anderen ECNP und CINP, entwickelt wurde, fand großen Anklang. Die PPT wird über diese neue Nomenklatur noch in einem der nächsten Hefte berichten.

Auch wenn keine unmittelbar vor Markteinführung stehenden innovativen Psychopharmaka angekündigt wurden, war doch das Klima des Kongresses, insbesondere auch durch die Teilnahme der engagierten, zum Teil sehr jungen und exzellenten Vortragenden und Zuhörer aus dem asiatischen Raum (Japan, Korea!!), sehr positiv und Hoffnung gebend. Insbesondere das vielen von uns nicht so bekannte hohe Niveau der asiatischen Forschung, vor allem der japanischen, war faszinierend. Man spürte, wie wichtig es ist, dass Forscher, die auf dem Gebiet der neurobiologischen Grundlagenforschung oder klinischen Psychopharmakologie tätig sind, sich auf internationalen Kongressen treffen und austauschen.

Wieder zurück in Deutschland erlebt man dann schockartig ein anderes Klima. Das Antidepressivum Vortioxetin fand auf dem Kongress in Seoul erhebliche Beachtung, insbesondere die Daten zur Besserung kognitiver Störungen bei Depressionen und der innovative Fokus auf diese Problematik. Es konnte aber in Deutschland im AMNOG-Prüfsystem nicht den geforderten „Zusatznutzen“ darstellen. Der Hersteller Lundbeck sieht sich wegen des in den nachfolgenden Verhandlungen vorgeschlagenen sehr niedrigen Preises (billigstes SSRI-Preisniveau!) zur Ankündigung gezwungen, Vortioxetin in Deutschland vom Markt zu nehmen.

Es ist unbestritten, dass es im nicht durch marktwirtschaftliche Mechanismen regulierten GKV-System Preiskontrollen geben muss, um das GKV-System vor finanziellen Überforderungen durch neu eingeführte, in der Regel hochpreisige Medikamente zu schützen. Andererseits ist es betrüblich, wie ein Arzneimittel unseres Fachgebiets, auf das viele Hoffnungen gesetzt wurden, an dieser Hürde scheitert. Über die Probleme des AMNOG-Systems, insbesondere über die rigide und restriktive AMNOG-Definition, wie der „Zusatznutzen“ zu definieren und zu beweisen ist, haben wir wiederholt in der PPT berichtet. Genau an dieser Hürde ist Vortioxetin, das einzige neue Antidepressivum der letzten Jahre, gescheitert. Wir haben auch in der PPT darüber berichtet, dass sich der volle „Nutzen“ eines Psychopharmakons oft erst Jahre nach der Markteinführung in der klinischen Erfahrung zeigt. Der Siegeszug von Clozapin und Quetiapin sind Musterbeispiele dafür. Auch die anfänglich in Deutschland, unter anderem von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft in ihrem Innovationsgrad angezweifelten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) können in diesem Kontext genannt werden. Heute sind sie international und auch in Deutschland Standardpräparate und haben volle Akzeptanz gefunden, sogar als Referenzsubstanz (ZVT =zweckmäßige Vergleichstherapie) im Rahmen der AMNOG-Evaluierung. Schade, dass neue Psychopharmaka jetzt nicht mehr eine solche Möglichkeit der Bewährung über einen längeren Zeitraum klinischer Erfahrung haben, wie dies in „alten Zeiten“ möglich war. Diese Problematik trifft auch neu eingeführte Arzneimittel anderer Fachgebiete. Ein Beitrag im letzten Heft des Deutschen Ärzteblatts („Datenlage oft unzureichend“ von Osterloh und Maybaum) widmet sich dieser Thematik und Möglichkeiten, wie man die Marktrücknahme neuer Arzneimittel nach negativem Ausgang des AMNOG-Verfahrens durch entsprechende Anreizsysteme der Preisgestaltung bzw. Modifikationen der Indikation GKV-zulässiger Verordnung verhindern kann.

Auch wenn diese und andere Schattenseiten, beispielsweise die erkennbare Herabstufung der Bedeutung der Psychopharmakotherapie in verschiedenen S3-Leitlininien unseres Fachgebiets, in Deutschland bedrückend sind, bleibt doch die faktische Bedeutung der Psychopharmakotherapie unverkennbar, wie der Kommentar zum Arzneiverordnungsreport 2015 von Fritze in diesem Heft zeigt. Der stetige Anstieg der Antidepressiva-Verordnungen ist besonders bemerkenswert, erklärbar unter anderem mit der Ausweitung der Antidepressiva-Indikationen (z.B. auf Angststörungen) . In der Originalarbeit von Lemke et al. wird über eine naturalistische Untersuchung zur 6-Monats-Wirksamkeit von Agomelatin berichtet und die in anderen Studien gefundene prädiktive Bedeutung des frühen Therapieansprechens in einer nichtselektierten Stichprobe von etwa 3000 depressiven Patienten bestätigt. Die Übersichtsarbeit von Luderer et al. zur Pharmakotherapie der ADHS im Erwachsenenalter dürfte für viele Leser von Interesse sein, da die ADHS im Erwachsenenalter und ihre Therapie im klinischen Alltag von großer Bedeutung ist. Einige weitere Beiträge, unter anderem ein Beitrag zum Interaktionspotenzial von Phosphodiesterase-5-Hemmern an CYP450-Enzymen sowie ein AMSP-Report zu einem Fall von Synkope unter Prothipendyl-Behandlung, runden das breite Spektrum dieses PPT-Hefts ab.

Psychopharmakotherapie 2016; 23(04)