Präklinische und klinische Evidenzen zur Psychopharmakotherapie und deren Umsetzung in Fachempfehlungen und Leitlinien


Prof. Dr. Walter E. Müller, Worms

Fachempfehlungen und Leitlinien sind wichtige Konzepte, strukturiertes Vorgehen beim Einsatz von Arzneimitteln zu vermitteln. Obwohl immer wieder betont wird und werden muss, dass sie nicht verpflichtend sind und den Therapeuten nicht aus der Verantwortung entlassen, sich immer wieder über den aktuellen Stand der jeweiligen Arzneimitteltherapie zu informieren, werden sie gerne als verbindlich für den Anwender interpretiert, gerade auch von Kontrolleinrichtungen wie KVen und Krankenkassen, was oft zu erheblichen Problemen führt. Häufig wird nicht gewusst, dass Leitlinien zwar dem aktuellen Stand der (wissenschaftlichen) Evidenzen entsprechen sollen, letztlich aber einen Kompromiss der jeweiligen Arbeitsgruppe mit Mitarbeitern verschiedener Fachgruppen darstellen. Gerade bei Leitlinien zu psychiatrischen Pharmakotherapien sind damit kritische Diskussionen unausweichlich, zum Teil schon vor ihrer Verabschiedung, so zum Beispiel bei der Leitlinie Depression wegen sehr starker Betonung von Psychotherapie und bei der Leitlinie Bipolare Störungen wegen einer möglichen Unterbewertung der UAW-Risiken von Lithium.

Auch der Kommentar zur aktuellen S3-Leitlinie Demenzen in diesem Heft (Ihl, Krefeld) äußert sich nicht gerade positiv und weist auf viele Probleme hin, die die Umsetzung der Leitlinie in der Praxis nicht eben erleichtern. Ein weiteres Problem tritt im Bereich Pharmakotherapie auf, wo zum ersten Mal Ginkgo positiv bewertet wird. Die Bewertung (Evidenz Ia) lässt allerdings aufhorchen, da die Empfehlung 0 („kann erwogen werden“) dies nicht widerspiegelt und in den Leitlinien für einen Evidenzgrad Ia (drei oder mehr positive randomisierte kontrollierte Studien) gar nicht vorgesehen ist (Tab. 3) und gleichwertig ist mit der Empfehlung für Musiktherapie. Die Erklärung liegt möglicherweise in einer kritischen Grundhaltung zu pflanzlichen Arzneimitteln und in einer Überbewertung fehlender präklinischer Wirkungskonzepte für Ginkgoblätter-Extrakt, nach dem Motto „wenn ich nicht weiß, wie es wirkt, kann es auch nicht gut sein“. Typisch für diese Einstellung vieler Kollegen in Pharmakologie und Klinik ist der einzige Satz zum Ginkgo-Extrakt in dem auch von mir oft benutzten deutschsprachigen Standardlehrbuch der Pharmakologie (Aktories, Förstermann, Hofmann, Starke. Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie. 10. Auflage 2009), es „ließe […] sich auch sagen, dass die Beschäftigung mit Goethes berühmtem Gedicht unser Gehirn besser schützt als ein Ginkgo-biloba-Präparat“. Dies ist umso kritischer zu sehen, als dieser Satz seit Jahrzehnten so aufgeführt wird und zeigt, wie wenig sich einige Kollegen bei vorliegenden Vorurteilen mit den kumulierenden neuen Daten beschäftigen. Darüber hinaus sind perfekte präklinische Konzepte kein Garant für klinische Wirksamkeit, was die neuere Forschung schmerzlich gezeigt hat (CRH-Antagonisten und NK-Antagonisten bei Angst und Depression, Glutamat-Agonisten bei Schizophrenie, Aβ-gerichtete Substanzen bei Alzheimer-Demenz). Wie falsch aber letztlich das Vorurteil eines fehlenden präklinischen Konzepts bei Ginkgo-Extrakt ist, zeigt der Beitrag von Müller et al., Frankfurt/Worms, mit präklinischen Wirkungen von Ginkgo, die sich sehr gut in die aktuellen (letztlich auch die älteren) Konzepte zur Pathophysiologie von Demenzen und deren Vorstufen einpassen. So lässt sich hoffen, dass bei der nächsten Fassung der Leitlinie die vorliegende nicht wirklich nachzuvollziehende Empfehlung angepasst wird.

Weniger strittig als die aufgeführte Demenz-Leitlinie sind dagegen die neuen S3-Leitlinien zum Parkinson-Syndrom, ausführlich und klar zusammengefasst in dem Beitrag von Reichmann, Dresden. Auch der Beitrag von Thiel et al., Bochum, gibt sehr klare Empfehlungen zu den komplexen Problemen bei einer vorliegenden Schwangerschaft im Rahmen einer Multiple-Sklerose-Erkrankung und zeigt eine gelungene Symbiose von vorliegenden Evidenzen und klinischer Erfahrung. Die Vorstellung des neuen Antiepileptikums Brivaracetam (Brandt und Bien, Bielefeld) und der Beitrag zum Interaktionspotenzial von trizyklischen Antidepressiva (Petri, Bad Wildungen) runden zusammen mit einigen Literaturberichten die breite Palette an Information im vorliegenden Heft der Psychopharmakotherapie ab.

Psychopharmakotherapie 2016; 23(03)