Komedikation und Polypharmazie in der Psychiatrie: Geschichte, Hintergründe, Konzepte und gegenwärtige Anwendung


Hans-Jürgen Möller, München, Susanne Stübner, Augsburg, und Renate Grohmann, München

Auf der Basis einer detaillierten Literaturrecherche wird ein Überblick über Geschichte und gegenwärtige Entwicklung, Hintergründe und Konzepte sowie gegenwärtige Anwendung von Komedikation/Polypharmazie in der Psychiatrie gegeben. Sowohl die potenziellen Nutzen als auch die potenziellen Risiken werden diskutiert. Die einseitige Sicht, dass jegliche Komedikation/Polypharmazie problematisch ist, wird hinterfragt. Komedikation/Polypharmazie ist unter anderem als Reaktion auf die beschränkte Wirksamkeit der gegenwärtigen monotherapeutischen Behandlungsstrategien in der Psychopharmakotherapie zu sehen.
Schlüsselwörter: Komedikation, Konzepte, Häufigkeit, Pharmakopsychiatrie, Polypharmazie
Psychopharmakotherapie 2014;21:230–6.

Mit der Erfindung der antipsychotischen, antidepressiven und stimmungsstabilisierenden Medikationen in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die psychopharmakologische Behandlung zu einer der wichtigsten Behandlungsansätze in der Psychiatrie. Die Entwicklung und Etablierung der Psychopharmakotherapie ist eine Erfolgsgeschichte, die die Psychiatrie seit Mitte der 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts revolutioniert hat. Neben den Möglichkeiten wurden aber auch immer mehr die Grenzen, beispielsweise verzögerter Wirkungseinsatz, unzureichende Wirksamkeit und Verträglichkeitsprobleme, beobachtet. In den letzten 20 bis 30 Jahren sind unter anderem neuere Antipsychotika und Antidepressiva entwickelt worden und auf den Markt gekommen, in der Hoffnung, diese Probleme verringern zu können. Der resultierende Fortschritt bezog sich jedoch hauptsächlich auf eine verbesserte Verträglichkeit, kaum auf verbesserte Wirksamkeit [42, 43, 60].

Zusammen mit der Entwicklung von besseren Psychopharmaka war und ist weiterhin die Komedikation/Polypharmazie eine weit angewendete Strategie, um die jedem Kliniker bekannten Einschränkungen der Monotherapie mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Psychopharmaka zu bewältigen.

Komedikation und Polypharmazie sind aus vielen Gründen und sehr häufig eingesetzte Strategien, die offensichtlich trotz vieler kritischer Kommentierungen und Warnungen schwer zu begrenzen sind [46]. Eine der letzten Ausgaben des International Journal of Neuropsychopharmacology (IJNP), des offiziellen Publikationsorgans des Collegium Internationale Neuropsychopharmacologicum (CINP), hat deshalb diese Thematik in mehreren Beiträgen aufgegriffen (Tab. 1). Der folgende Beitrag ist eine erheblich veränderte und gekürzte Fassung des Beitrags von Möller et al. [46] in dem genannten Spezialheft des IJNP.

Tab. 1. Komedikation/Polypharmazie: Beiträge in einem Schwerpunktheft des International Journal of Neuropsychopharmacology (Vol. 17, 2014)

  • Möller HJ, et al. History, background, concepts and current use of comedication and polypharmacy in psychiatry (pp 983–996)
  • Blier P. Rational site-directed pharmacotherapy for major depressive disorder (pp 997–1008)
  • Millan MJ. On „polypharmacy“ and multi-target agents, complementary strategies for improving the treatments of depression: a comparative appraisal (pp 1009–1037)
  • Andreazza A, Young T. The neurobiology of bipolar disorder: identifying targets for specific agents and synergies for combination treatment (pp 1039–1052)
  • Sachs GS, et al. Polypharmacy and bipolar disorder: what’s personality got to do with it? (pp 1053–1061)
  • Fleischhacker W, Uchida H. Critical review of antipsychotic polypharmacy in the treatment of schizophrenia (pp 1083–1093)

Geschichte, neuere Entwicklung und aktuelle Prävalenz

Komedikation und Polypharmazie scheinen bereits früher gut bekannte Phänomene gewesen zu sein, als es noch keine theoriebasierte Pharmakotherapie gegeben hat. Dies wird aus dem folgenden Zitat deutlich: „Die Polypharmazie gibt es nicht nur in der Psychiatrie oder in der jetzigen Ära der medikamentöse[n] Behandlung. Vor mehr als hundert Jahre[n] hat William Osler (1898, zitiert in Paris [48]) seine Kollegen kritisiert wegen der Behandlung von Patienten mit ‚Jagdgewehrmethoden‘, das heißt die Verabreichung von Arzneimitteln getrennt für jedes einzelne Symptom und das Fokussieren auf die Symptomatik anstatt auf den Krankheitsvorgang“ [48].

Eine sorgfältige Literaturrecherche mit den Begriffen Komedikation, Polypharmazie sowie Psychopharmakologie ergibt nur wenige Informationen zur Geschichte der Komedikation/Polypharmazie in der Psychiatrie. Aus diesem Grund sind wir noch weit davon entfernt, die Geschichte dieses Phänomens schreiben zu können.

Aus eigenen Erfahrungen als Arzt, der seit Anfang der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts in der Psychiatrie gearbeitet hat, weiß der Erstautor dieses Beitrags, dass die Anwendung bestimmter Kombinationen bereits damals üblich war. Zum Beispiel wurden im Bezirkskrankenhaus Haar in der Nähe von München schwer akute, meist erregte oder sogar aggressive psychotische stationäre Patienten zunächst mit einer Injektion aus Haloperidol, Chlorpromazin und Promethazin behandelt. Stationäre Patienten mit einer schweren Depression wurden mit einem trizyklischen Antidepressivum und einem Benzodiazepin behandelt, um Angst und Schlafstörungen von Anfang an zu reduzieren.

Die frühesten systematisch gesammelten Daten aus Deutschland stehen für die Jahre 1979 bis 1989 zur Verfügung. Sie basieren auf dem Projekt „Arzneimittelüberwachung Psychiatrie“ (AMÜP). Die Tabellen 2 und 3 zeigen jeweils die am häufigsten verabreichten Antipsychotika und Antidepressiva sowie die Dosen, durchschnittliche Behandlungsdauer und einige bevorzugte Arzneimittelkombinationen [24–26].

Interessanterweise war Biperiden die häufigste Komedikation bei der Gruppe der mit Haloperidol behandelten Patienten (um extrapyramidale Symptome [EPS] zu reduzieren, Tab. 2), während Clozapin erwartungsgemäß nur sehr selten mit Biperiden kombiniert wurde. Ein Neuroleptikum wurde sehr oft mit einem anderen kombiniert. Dazu gehört unter anderem die häufige Kombination von Haloperidol mit einem eher sedativen Phenothiazin wie Levomepromazin bei akut psychotischen Patienten. Fast alle Neuroleptika, außer Clozapin, wurden bei etwa 20% der Patienten mit einem Antidepressivum kombiniert, wahrscheinlich wegen einer Depression oder wegen Negativsymptomatik.

Tab. 2. AMÜP (1979–1989): Die am häufigsten angewendeten Neuroleptika (n>900) bei allen Patienten. Die Tabelle zeigt durchschnittliche Tagesdosen (DTD), durchschnittliche Behandlungsdauer (DBD) und Kombinationsdaten.

DTD
[mg/Tag]

DBD [Tage]

Plus einem anderen Antipsychotikum
>1 Tag [%]

Plus Biperiden
>1 Tag [%]

Plus Antidepressivum
>1 Tag [%]

Haloperidol

15,4

26

74,8

50,9

22,3

Perazin

302

32

59,4

23,2

26,3

Levomepromazin

107

13

81,5

32,4

18,5

Thioridazin

179

23

48,1

17,6

24,1

Fluspirilen

81,2

37,9

13,5

Clozapin

205

46

58,6

18,2

6,3

Bemerkenswert bei den Daten zu den Antidepressiva (Tab. 3) ist die hohe Prävalenz von Kombinationen mit einem Benzodiazepin, die je nach Antidepressivum in einer Größenordnung zwischen 20% und 50% lag. Die Tatsache, dass die meist sedativen Antidepressiva wie Amitriptylin und Doxepin am häufigsten eine Komedikation hatten, scheint etwas widersprüchlich zu sein. Da diese Daten naturalistisch sind, liegt dieser Befund wahrscheinlich daran, dass die Patienten eine schwere Depression hatten, die mit Angst und Schlafstörungen einherging, und dass diese sedativen Antidepressiva daher zusammen mit einem Benzodiazepin als Komedikation gewählt wurden. Die Ergebnisse aus randomisierten kontrollierten Studien sowie naturalistischen Studien deuten darauf hin, dass die Kombination eines Antidepressivums mit einem Benzodiazepin zu einem schnelleren Wirkungseintritt führen kann [32] und in der Folge auch protektiv im Sinne vom Auftreten suizidaler Gedanken sein könnte [54].

Tab. 3. AMÜP (1979–1989): Die am häufigsten verwendeten Antidepressiva (n>800) bei allen Patienten. Die Tabelle zeigt durchschnittliche Tagesdosen (DTD), durchschnittliche Behandlungsdauer (DBD) und Kombinationsdaten.

DTD
[mg/Tag]

DBD [Tage]

Plus Benzodiazepin >1 Tag [%]

Plus Antipsychotikum >1 Tag [%]

Amitriptylin

109

33

49

52

Clomipramin

111

36

26

47

Doxepin

98

22

48

46

Maprotilin

108

32

21

38

Tranylcypromin

17

32

37

90**

** Meistens in der festen Kombination mit Trifluperazin

Die hohe Komedikationsrate mit Neuroleptika (etwa 50%) ist bemerkenswert. Dies kann nicht nur an der psychotischen Depression liegen, die keine so hohe Prävalenz hat, sondern wahrscheinlich unter anderem daran, dass damals in Deutschland die sogenannten „niedrigpotenten Neuroleptika“ wie Thioridazin oft als Ersatzmittel für Benzodiazepine zur Reduzierung von Erregung und Schlafstörungen verabreicht wurden. Allerdings mögen auch andere Gründe für eine solche Komedikation zu berücksichtigen sein, wie die Verringerung anderer Symptome oder die Erwartung einer allgemeinen Wirksamkeitsverbesserung bzw. eines schnelleren Wirkungseintritts.

Zuletzt berichtete eine doppelblinde, randomisierte, kontrollierte Studie einen signifikant schnelleren Wirkungseintritt der antidepressiven Aktivität von Citalopram in der Kombination mit dem niedrigpotenten Neuroleptikum Pipamperon. Dieser spezielle Befund liefert neue Belege für den bereits zu früheren Zeiten üblichen klinischen Behandlungsansatz mit Neuroleptika [63]. Es muss jedoch betont werden, dass die Komedikation schon damals oft zeitlich begrenzt war.

In einer neueren naturalistischen Studie an stationär behandelten depressiven Patienten haben etwa 59% der Patienten eine Komedikation mit einem Benzodiazepin und rund 45% eine Komedikation mit einem Antipsychotikum erhalten [53]. Bei der Entlassung waren die Komedikationsraten sowohl für Beruhigungsmittel (10,6%) als auch für Neuroleptika (13,2%) deutlich niedriger (Abb. 1).

Abb. 1. Naturalistische Studie an stationär behandelten depressiven Patienten (Seemüller et al., 2010). Behandlungskombinationen mit Antidepressiva (AD) bei der Entlassung aus der stationären Behandlung (n=1014); AP=antipsychotisches Mittel

Daten aus dem Nachfolgeprojekt des AMÜP, dem Projekt „Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie“ (AMSP) [58], decken den Zeitraum der Pharmakopsychiatrie in Deutschland von 1994 bis 2009 ab. Die weitgehend noch unpublizierten Daten zeigen, dass die Häufigkeit der Komedikation insgesamt im Vergleich zu früher zugenommen hat [46], und zwar vor allem durch den Anstieg der Polypharmazie im Sinne von mehr als vier psychotropen Medikamenten (Abb. 2). Detailliertere Daten zu den Kombinationen bei der Depression und der Schizophrenie finden sich in Möller et al. 2014 [46]. All dies reflektiert die Behandlungsstrategien, die an verschiedenen psychiatrischen Universitäts- und Versorgungskliniken angewendet werden, und deutet darauf hin, dass die Komedikation und Polypharmazie wahrscheinlich nicht allein durch unreflektierte klinische Praxis-Usancen erklärt werden können, sondern zumindest zum Teil andere inhaltliche Gründe haben.

Abb. 2. Prävalenz einer Komedikation/Polypharmazie im Rahmen der Behandlung mit psychotropen Medikamenten bei stationären Patienten, die mit Psychopharmaka behandelt wurden. Daten aus dem deutschen Arzneimittelüberwachungssystem „Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie“ (AMSP)

Es gibt interessanterweise keine großen Unterschiede in der Prävalenz der Komedikation/Polypharmazie in verschiedenen Krankenhausarten wie Universitätskliniken, großen Versorgungskliniken oder psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern (Tab. 4). Auch sind die Prävalenzunterschiede zwischen verschiedenen deutschsprachigen Ländern/Regionen relativ gering. In Österreich werden tendenziell mehr psychotrope Medikamente pro Patient verschrieben (5,3) im Vergleich zur deutschsprachigen Schweiz (4,5) und zu Deutschland (4,1) [46].

Tab. 4. Relative Häufigkeit von Kombinationstherapie/Polypharmazie im Jahr 2009

1 Med.
[% aller Pat.]

2 Med.
[% aller Pat.]

3 Med.
[% aller Pat.]

4 Med.
[% aller Pat.]

>4 Med.
[% aller Pat.]

Durchschn. Anzahl Med.

AMSP Gesamt (n=3768)

12

18

19

16

35

4,3

Universitätsklinik

13

19

19

15

34

4,3

Bezirkskrankenhaus

10

17

19

17

38

4,4

Psychiatrische Abteilung

15

19

20

14

32

4,0

Deutschland

14

19

20

15

32

4,1

Schweiz

12

17

18

16

38

4,5

Österreich

3

11

17

17

51

5,3

Diese Daten zur Prävalenz der Komedikation/Polypharmazie lassen sich mit Daten aus anderen Studien und anderen Regionen der Welt schwer vergleichen. Es gibt zu viele Unterschiede bezüglich der Verfügbarkeit spezifischer Medikamente in einigen Ländern sowie dem Sammeln und Analysieren der Daten. Trotz dieser methodologischen Unterschiede können die allgemeinen Endergebnisse als ähnlich bewertet werden, das heißt generell eine große Häufigkeit von Komedikation/Polypharmazie [40], oft mit Zunahme in neuerer Zeit, ähnlich zu den beiden oben genannten Studien aus Deutschland. Dies scheint weit über die evidenzbasierten Indikationen für die Komedikation/Polypharmazie hinaus zu gehen [3, 4, 18, 20, 21, 30, 36–38, 57].

Allgemeine Aspekte und Konzepte

Die Begriffe Komedikation und Polypharmazie (Tab. 5) sind nicht gut definiert und werden unterschiedlich angewendet. Insbesondere ist unklar, ab dem wievielten gleichzeitig verordneten Medikament von Polypharmazie gesprochen wird. Einige Autoren schlagen vor, dass die Kombination von drei oder mehr Medikamenten für die gleiche Indikation als „Polypharmazie“ bezeichnet werden soll.

Nach Preskorn und Lacey [51] setzen Kliniker Komedikation/Polypharmazie aus verschiedenen Gründen ein:

  • Um zwei/mehrere pathophysiologisch abgegrenzte, aber komorbide Störungen beim gleichen Patienten zu behandeln
  • Um die gleiche Krankheit oder zwei/mehrere „komorbide“ Syndrome (z.B. Major Depression mit einer Panikstörung) beim gleichen Patienten zu behandeln
  • Um die Wirksamkeit der Primärbehandlung zu erhöhen (z.B. Kombination eines selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers [SSRI] mit einem anderen Antidepressivum wie Mirtazapin oder die Kombination eines SSRI mit einem atypischen Neuroleptikum wie Quetiapin bei Patienten mit Major Depression)
  • Um eine schnelle Verbesserung zu erreichen, während der verzögerte Wirkungseintritt einer anderen Medikation abgewartet wird (z.B. Einsatz von Lorazepam bei der akuten Manie, während auf die antimanischen Effekte eines Stimmungsstabilisators gewartet wird)
  • Um zwischenzeitlich auftretende akute Phasen einer Krankheit zu behandeln (z.B. zusätzliche Gabe eines Antidepressivums bei einer im Rahmen einer „Mood-Stabilizer“-Langzeitbehandlung aufgetretenen depressiven Episode bei einem Patienten mit einer bipolaren Störung)
  • Um die durch das primäre Arzneimittel verursachten Nebenwirkungen zu behandeln (z.B. zusätzliche Gabe eines Anticholinergikums bei einer durch ein Neuroleptikum verursachten Dystonie)
  • Um von einem Medikament zum anderen mit möglichst wenig Überlappungszeit umzustellen

Tab. 5. Was treibt Kliniker zu einer Komedikation/Polypharmazie?

  • Verzögerter Wirkeintritt
  • Eingeschränkte Wirksamkeit im Sinne von Änderungen in den Prä-/Post-Werten
  • Unzureichende Wirkung im Sinne von Ansprechen/Remission
  • Unzureichende Wirkung im Sinne von speziellen Syndromen einer komplexen Symptomatologie,
    z.B. Schlafstörungen oder Angst bei der Depression, depressive Symptome oder Negativsymptomatik bei Schizophrenie
  • Nicht-Ansprechen, Therapieresistenz
  • Irrationale Erwartungen bezüglich des Behandlungsergebnisses
  • Komorbiditäten
  • „Gegenmittel“ für Nebenwirkungen

Der Begriff Komedikation wird oft im Sinne einer Kombination zweier Arzneistoffe mit der gleichen Indikation angewendet. Dabei kann unter anderem unterschieden werden zwischen dem gleichzeitigen Beginn der Komedikation, beispielsweise um einen schnelleren Wirkungseintritt zu erreichen, oder dem sukzessiven Ansetzen, der „Add-on“-Behandlung, wenn die zuerst eingesetzte Medikation keinen ausreichenden klinischen Erfolg zeigt. Die wirksamkeitsverstärkende Kombination eines Medikaments mit einer bestimmten Indikation (z.B. Antidepressivum) mit einem Medikament einer anderen Indikation (z.B. mit Antipsychotikum) wird in Deutschland oft Augmentation genannt, während im angloamerikanischen Schrifttum diese Begriffe meist synonym verwendet werden.

In den meisten Fällen werden Komedikationsstrategien durchgeführt, um die allgemeine Wirksamkeit zu erhöhen, um die Wirksamkeit in einem bestimmten Teilbereich (z.B. die Negativsymptomatik bei der Schizophrenie) zu verbessern oder um Nebenwirkungen zu reduzieren (Tab. 5). Aus klinischer Sicht scheint diese Vorgehensweise unter bestimmten Bedingungen indiziert zu sein, beispielsweise wenn es zumindest einige Hinweise gibt, dass die Komedikationsstrategie wirksam ist und keine unakzeptablen Nebenwirkungen verursacht [51]. In diesem Sinne werden einige Komedikationen von einigen Leitlinien als sinnvoll betrachtet, besonders um Therapieresistenz, zum Beispiel im Rahmen schizophrener oder depressiver Erkrankungen, zu überwinden [6, 14, 15]. Besonders in der akuten sowie langfristigen Behandlung bipolarer Störungen sind Kombinationen mit nicht nur zwei, sondern unter bestimmten Bedingungen sogar mit drei Psychopharmaka als indiziert beschrieben worden, beispielsweise die Kombination eines Antidepressivums mit einem Stimmungsstabilisator in der Behandlung der akuten bipolaren Depression sowie die Kombination von, falls nötig, bis zu drei Stimmungsstabilisatoren bei der Erhaltungstherapie einer bipolaren Störung [27–29].

Während Komedikationen unter den oben genannten Konditionen noch als rational eingestuft werden können, erscheint Polypharmazie vielen per se als irrational und problematisch, unter anderem auch in Hinblick auf das erhöhte Nebenwirkungsrisiko. Trotzdem ist zu bedenken, dass unter bestimmten Bedingungen bzw. in einem bestimmten Fall die Kombination verschiedener Medikamente zur Erhöhung der Wirksamkeit bei einer bestimmten psychiatrischen Behandlungskonstellation sinnvoll sein kann [56].

Geht man über den Bereich der psychiatrischen Erkrankungen hinaus und denkt an Komorbiditätskonstellationen zwischen psychiatrischen und somatischen Erkrankungen, wie sie insbesondere bei älteren Patienten häufig vorkommen, so ist Polypharmazie ein häufig nicht zu vermeidendes Phänomen. Die Behandlung jeder dieser Krankheiten mit einer entsprechenden Medikation ist selbstverständlich komplett rational. Trotzdem kann dies zu einer erhöhten Nebenwirkungsrate, zu Problemen bei der Compliance aufgrund komplizierter Medikamentenregime mit verschiedenen Mitteln zu verschiedenen Zeiten und zu Problemen wegen pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Interaktionen führen, die vom behandelnden Arzt sorgfältig zu berücksichtigen sind.

Einige Studien haben die Problematik der pharmakokinetischen Interaktionen und höheren Nebenwirkungsrate bei Komedikation/Polypharmazie mit untersucht [12, 17, 19, 31, 34, 55]. Eine AMSP-Analyse hat gezeigt, dass die Häufigkeit von Nebenwirkungen zunimmt, wenn mehr als drei Medikamente verschrieben werden [46] (Abb. 3). Dies macht die problematischen Aspekte der Komedikation/Polypharmazie deutlich, die immer bei entsprechenden klinischen Entscheidungen zu berücksichtigen sind.

Abb. 3. Anteil der Patienten (%) in der jeweiligen Gruppe (überwachte Patienten, Patienten mit schwerwiegenden Nebenwirkungen, Patienten mit lebensbedrohlichen Nebenwirkungen, Tote), die 1, 2, 3 oder >3 Medikamente eingenommen haben (Daten aus 2001–2008)

Pharmakoökonomische Aspekte der Komedikation/Polypharmazie wurden bisher nicht weitreichend empirisch untersucht [9, 50, 62, 65].

Die Zunahme der Komedikation/ Polypharmazie könnte zumindest teilweise von anderen Gründen als den pharmakologischen Eigenschaften oder der Wirksamkeit der jeweiligen Medikamente getrieben werden. Zum Beispiel könnten die höheren Erwartungen hinsichtlich Remission und Genesung eine Rolle spielen.Wenn es sich um Komedikations-/Polypharmazie-Prävalenzdaten aus dem Bereich der Psychiatrie handelt, könnten Selektionseffekte eine Rolle spielen. So werden die meisten depressiven Patienten heute von Allgemeinärzten behandelt. Folglich werden nur die refraktäreren und resistenteren Fälle den Psychiatern überlassen, und das sind meistens gerade die Patienten, die einer Komedikation/Polypharmazie bedürfen.

Rationalität/Irrationalität

Besonders aus der Sichtweise der evidenzbasierten Medizin [23, 44] ist die Bedingung, dass adäquate klinische Studien die überlegene Wirksamkeit der Kombinationstherapie beweisen können, das Schlüsselkriterium für die Rationalität einer Komedikation. Daneben [46, 51] kommen einige andere Gesichtspunkte in Betracht (Tab. 6, 7). Einige diese Vorschläge scheinen sinnvoll zu sein, wohingegen andere zu rigide wirken, beispielsweise die Forderung, dass jedes Medikament nur einen Wirkansatz haben soll. Eine zusätzliche Bedingung, die hier nicht erwähnt wurde, nämlich dass die Kombination kosteneffektiv sein soll, scheint zwar plausibel, ist allerdings wahrscheinlich schwer zu erfüllen, da die relevanten Daten meist nicht zur Verfügung stehen.

Tab. 6. Prinzipielle Aspekte zur Rationalität/Irrationalität einer Komedikation/Polypharmazie (KM/PP)

  • Bessere Wirksamkeit der KM/PP bewiesen/nicht bewiesen im Sinne der evidenzbasierten Medizin
  • Bessere Wirksamkeit der KM/PP bewiesen/nicht bewiesen im Sinne der klinischen Erfahrung
  • Pharmakologische Plausibilität/Unwahrscheinlichkeit der KM/PP
  • Positives Beispiel: Kombination eines schwachen D2-Blockers mit einem starken D2-Blocker
  • Berücksichtigung/Nichtberücksichtigung pharmakokinetischer und/oder pharmakodynamischer Probleme der KM/PP
  • Negatives Beispiel: Die Kombination führt zu einem niedrigeren Plasmaspiegel der primären medikamentösen Behandlung
  • Das Nichterkennen von Noncompliance bzw. von einem zu niedrigen Plasmaspiegel als Grund für eine KM/PP

Tab. 7. Kriterien für eine rationale Komedikation in der Psychiatrie [mod. nach 51]

  • Das Wissen, dass die Kombination einen positiven Effekt auf die Pathophysiologie der Störung hat
  • Überzeugende Evidenz, dass die Kombination effektiver als die Monotherapie ist
  • Die Kombination sollte nicht mit signifikant höheren Risiken bzgl. Sicherheit und Verträglichkeit als die Monotherapie verbunden sein
  • Es sollte weder pharmakokinetische noch pharmakodynamische Interaktionen der Medikamente geben
  • Von den Wirkungsmechanismen der Medikamente soll erwartet werden, dass sie das Ansprechen erhöhen
  • Die Medikamente sollten jeweils lediglich einen Wirkungsmechanismus haben
  • Die Medikamente sollten keinen breiten Wirkungsmechanismus haben
  • Die Medikamente sollten nicht den gleichen Wirkungsmechanismus haben
  • Die Medikamente sollten nicht entgegenwirkende Wirkungsmechanismen haben
  • Jedes Medikament sollte einen einfachen Metabolismus haben
  • Jedes Medikament sollte eine mittlere Halbwertszeit haben
  • Jedes Medikament sollte eine lineare Pharmakokinetik haben

Überzeugende oder zumindest relevante klinische Daten zum Vorteil einer Komedikation stehen lediglich für einige wenige Kombinationsbehandlungen zur Verfügung, beispielsweise für die Lithium-Augmentation, die Thyroxin-Augmentation oder die Augmentation mit Antipsychotika sowie weniger überzeugend für die Komedikation mit Antidepressiva bei der Behandlung der therapierefraktären Depression [7, 11, 39, 47]. In der Behandlung der Schizophrenie ist die Kombinationsbehandlung vorwiegend im Bereich der therapieresistenten Schizophrenie untersucht. Die Evidenzlage ist größtenteils ungenügend. Neben dem Ziel, das globale Therapie-Ansprechen zu verbessern, wird Kombinationstherapie in der Schizophreniebehandlung auch eingesetzt, um syndromale Verbesserungen, beispielsweise hinsichtlich depressiver Symptomatik oder Negativsymptomatik, zu erreichen [16, 33, 59, 64]. Sehr häufig kommt eine Kombinationsbehandlung bei der Behandlung bipolarer Erkrankungen mit unterschiedlichen Zielsetzungen in den einzelnen Phasen der Erkrankung zum Einsatz [2, 52], wobei nur einige der angewandten Ansätze ausreichend evidenzbasiert sind, wie die Kombination eines Antipsychotikums mit einem „Mood Stabilizer“ in der Behandlung der akuten Manie.

Häufig weisen die verfügbaren Daten weder auf eine Verbesserung noch auf eine Verschlechterung des klinischen Zustands hin [1, 22]. Dies könnte tatsächlich der Fall sein; es könnte aber auch daran liegen, dass die jeweiligen Studien unzureichende statistische Power hatten [44]. Für eine Reihe anderer psychischer Erkrankungen fehlen Daten für die Kombinationstherapie, sodass Ärzte sich mehr auf ihre eigenen klinischen Erfahrungen als auf die Ergebnisse klinischer Studien verlassen [8, 45]. Zum Beispiel ist entgegen allen Erwartungen von Klinikern die Komedikation eines Antipsychotikums mit einem Antidepressivum bei einem Patienten mit depressivem Syndrom im Rahmen einer schizophrenen Episode nicht ausreichend evidenzbasiert [64].

Angesichts dieser Evidenzlage und der Tatsache, dass aus verschiedenen Gründen Komedikations-/Polypharmazie-Strategien insgesamt nur wenig empirisch untersucht worden sind, muss kritisch diskutiert werden, ob Kliniker ihre Entscheidung zur Komedikation/Polypharmazie auch auf psychopharmakologisch abgeleitete theoretische Annahmen eines möglichen Vorteils [7] oder auf eigene positive klinische Erfahrungen stützen können, oder aber ob Komedikation und Polypharmazie nur durch Wirksamkeitsbelege im Sinne der evidenzbasierten Medizin gerechtfertigt sind. Was ist mit plausiblen theoretischen Argumenten, beispielsweise für die Kombination eines schwachen D2-Antagonisten (wie Quetiapin oder Clozapin) mit einem starken D2-Antagonisten (wie Haloperidol oder Risperidon) bei refraktären akut psychotischen Patienten, wenn für diesen Ansatz empirische Daten fehlen? Geht die evidenzbasierte Medizin möglicherweise mit ihren Anforderungen zu weit und zerstört dabei die positive Auswirkung theoretischer Überlegungen und klinischer Erfahrungen auf ein sinnvolles klinisches Handeln [41, 44]?

Hilfreich, aber auch nicht immer zielführend, sind in der schwierigen Entscheidungssituation – zwischen Hilfe-Verweigerung wegen zu rigoroser Bedenken oder aber zu leichtfertigem Umgang mit Komedikation/Polypharmazie und dadurch bedingten erhöhten Risiken – Vorschläge, die eine Kombinationstherapie in der klinischen Praxis im Sinne eines sorgfältig durchgeführten therapeutischen Einzelfallversuchs empfehlen, wie sie in der Arbeit von Preskorn and Lacey [51] beschrieben werden:

  • Jedes Arzneimittel ist individuell adäquat untersucht, aber ihre Wirksamkeit ist als inadäquat gefunden worden.
  • Die Kombination erfüllt die meisten Kriterien für eine rationale Polypharmazie in der Psychiatrie und hat idealerweise unterstützende Daten aus der Literatur bezüglich ihrer Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit
  • Die Kombination ist insgesamt jedem einzelnen Mittel bezüglich Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit überlegen
  • Nach einer Stabilisierungsphase wird ein Versuch unternommen, die Dosis von einem der Mittel langsam zu reduzieren, um das fortbestehende Bedürfnis nach einer Kombinationstherapie zu überprüfen

Als Irrationalität muss in der Regel eingestuft werden, wenn eine Komedikation zu einem reduzierten Plasmaspiegel der ersten Medikation führt [13], beispielsweise bei der Kombination eines Antipsychotikums mit Carbamazepin.

Schlussfolgerungen

Komedikation und sogar Polypharmazie können unter bestimmten Bedingungen sinnvoll und rational sein [7, 46, 51]. Aus klinischer Sicht geht die Forderung zu weit, immer einen Wirksamkeitsbeweis nach den strengen Regeln der evidenzbasierten Medizin zu verlangen, weil dies für viele Kombinationen, die aus einer klinischen bzw. theoretischen Perspektive als geeignet betrachtet werden, unter anderem aus pragmatischen Gründen nicht möglich ist [44].

Interessanterweise hat eine neuere Umfrage festgestellt, dass Ärzte, die mehr antipsychotische Komedikation/Polypharmazie verschreiben, mehr klinische Erfahrung und weniger Sorgen bezüglich der Risiken der Polypharmazie aufweisen [10]. Dies verdeutlicht, dass die Komedikation/Polypharmazie wahrscheinlich nicht nur durch fehlendes Wissen, wie oft unterstellt, induziert wird, sondern möglicherweise durchaus durch ein hohes Maß klinischer Erfahrung und Reflexion begründet wird. Demzufolge wäre es naiv, die Komedikation/Polypharmazie a priori extrem einzuschränken oder zu verbieten.

Stattdessen ist ein differenzierteres Verständnis notwendig, bei dem theoretische Überlegungen wie auch klinische Erfahrungen als berechtigte Begründungen angesehen werden sollten, wenn eine Evidenz auf der Ebene adäquater klinischer Studien nicht vorliegt, trotzdem aber klinisches Handeln erforderlich ist. Komedikation, insbesondere die Polypharmazie, sollte dabei immer im Sinne des Nutzen-Risiko-Verhältnisses, unter anderem auch im Hinblick auf pharmakodynamische und pharmakokinetische Wechselwirkungen, kritisch betrachtet werden [5] und es sollten sinnvolle Strategien zur Reduzierung der Polypharmazie implementiert werden [35, 49, 61]. Ferner sollten die gesundheitsökonomischen Konsequenzen berücksichtigt werden.

Die Komedikation/Polypharmazie gehört zu den wenigen Möglichkeiten, mit denen der Arzt unter bestimmten Umständen therapieresistenten und schwerkranken Patienten helfen kann. Allerdings sollte dabei von vornherein auch eine Rückführungsstrategie geplant werden, um zu vermeiden, dass schließlich der Patient eine immer höhere Zahl von Medikamenten verschrieben bekommt. Das Ideal einer Monotherapie sollte immer wieder in den Fokus gerückt werden. In diesem Sinne scheint aus einer edukativen Perspektive der gedankliche Ansatz von Preskorn and Lacey [51] ein guter Maßstab zu sein:

  • Monotherapie: Das Ideal
  • Komedikation: Oft gebraucht
  • Dreifache Kombination: Könnte gegebenenfalls notwendig sein
  • Vierfache Kombination: Denk zuerst daran, dass drei Arzneimittel keinen Effekt haben!

Literatur

Das Literaturverzeichnis als PDF.


Prof. Dr. H.-J. Möller, Dr. Renate Grohmann, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ludwig-Maximilians-Universität, Nussbaumstraße 7, 80336 München, E-Mail: hans-juergen.moeller@med.uni-muenchen.de

Priv.-Doz. Dr. Susanne Stübner, Bezirkskrankenhaus Augsburg, Dr.-Mack-Straße 1, 86156 Augsburg

Comedication and polypharmacy in psychiatry: History, background, concepts and current use

On the basis of a detailed literature search, this paper gives an overview of the history, current developments, background, concepts and current use of comedication/polypharmacy in psychiatry. Both potential benefits and potential risks are discussed. The one-sided view that any kind of comedication/polypharmacy is problematic is questioned. Comedication/polypharmacy should be seen among other things as a reaction to the limited efficacy of modern monotherapeutic psychopharmacological treatment strategies.

Key words: Comedication, concepts, frequency, pharmacopsychiatry, polypharmacy

Psychopharmakotherapie 2014; 21(06)