Realität der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung im Kontrast zur Nationalen Versorgungsleitlinie Depression


Hans-Jürgen Möller, München

Auf der Basis der wenigen vorliegenden Untersuchungen und sonstigen Informationen wird zu klären versucht, inwieweit die Empfehlungen der Nationalen Versorgungsleitlinie Depression der realen ambulanten psychotherapeutischen Versorgung depressiver Patienten entsprechen. Die Ergebnisse zeigen, dass die nationale Versorgungsleitlinie einen Idealstandard beschreibt, der nicht die Realität abbildet. Mögliche Hintergründe für diese Diskrepanz werden aufgezeigt, unter anderem mangelnde Versorgungsdichte mit psychologischen/ärztlichen Psychotherapeuten, Stadt-Land-Gefälle der Versorgungsdichte, lange Wartezeiten bis zum Therapiebeginn, störungs- und patientenbezogene Charakteristika und diesbezüglich Selektionsprozesse.
Schlüsselwörter: Leitlinien, depressive Störungen, Psychotherapie
Psychopharmakotherapie 2014;21:12–20.

Empfehlungen der Versorgungsleitlinie Depression

Die Nationale Versorgungsleitlinie zur Behandlung depressiver Patienten (Patienten mit depressiver Episode) in Deutschland [10] empfiehlt bei Patienten mit mittelgradiger depressiver Episode eine Antidepressiva-Behandlung oder eine Psychotherapie. Beide Verfahren sollen dem Patienten als gleichwertige Alternativen angeboten werden (S. 125 der Versorgungsleitlinie). Bei schwerer depressiver Episode soll in der Akutbehandlung eine Kombination von Antidepressiva-Behandlung und Psychotherapie angeboten werden. Diese Festlegungen werden auf Seite 130 der Leitlinie bezogen auf die Realität der Versorgung relativiert. Dort werden drei Möglichkeiten der Abfolge dargestellt:

  • Psychotherapie erfolgt nach Pharmakotherapie der akuten depressiven Episode im Sinne einer Verbesserung der Erhaltungstherapie (die umgekehrte Abfolge wird nicht erwähnt)
  • Die eine oder andere Behandlungsform wird zusätzlich bei Nichtwirksamkeit oder ungenügender Wirksamkeit einer alleinigen Therapieform eingeführt
  • Beide Behandlungsformen werden gleichzeitig angewendet

Bezüglich der Akutbehandlung depressiver Patienten wird auf der Basis von Übersichtsarbeiten und Metaanalysen in der Leitlinie kein zusätzlicher Effekt einer Kombinationsbehandlung auf der Ebene der Symptomreduktion gesehen, lediglich Zusatzeffekte in anderen Bereichen (Compliance, soziale Anpassung, geringeres Rezidivrisiko).

Für spezielle Subgruppen wird hingegen ein Zusatzeffekt einer Kombinationstherapie auch in der Symptomreduktion gesehen, unter anderem für schwere depressive Episoden, für chronisch depressive Patienten und ähnliche. In dem Zusammenhang werden signifikante additive Effekte einer Kombinationstherapie gegenüber einer alleinigen Psychotherapie bei schwerer Depression (oder einer Kombinationstherapie gegenüber einer alleinigen Pharmakotherapie bei chronisch depressiven Patienten) festgestellt. Die Feststellungen hinsichtlich der schweren Depression könnten in die Richtung interpretiert werden, dass bei schwerer Depression die Pharmakotherapie unbedingt ihren Platz haben sollte und eine reine Psychotherapie als nicht ausreichend angesehen wird. Allerdings schlägt dies in der sehr komplexen Therapieempfehlung (S. 131) nur in einer sehr vorsichtigen Formulierung durch, wenn es heißt: „Bei schweren und rezidivierenden sowie chronischen Depressionen, Dysthymie und Double Depression sollte die Indikation zur Kombinationsbehandlung aus Pharmakotherapie und geeigneter Psychotherapie vorrangig vor einer alleinigen Psychotherapie oder Psychopharmakotherapie geprüft werden“ (Empfehlungsgrad B).

Aus den dargelegten erklärenden Ausführungen wird ersichtlich, dass erst eine genauere Lektüre den tieferliegenden Sinn einer sehr komplexen Therapieempfehlung erschließt. Es sollte offensichtlich vermieden werden, dass Patienten mit schwerer Depression gegebenenfalls nur psychotherapeutisch behandelt werden. Insofern ist auch die vielzitierte und in Vorträgen viel gezeigte schematische Zusammenfassung der Therapieempfehlungen für leichte, mittelschwere und schwere Depression in einer Abbildung, die im Kontext der vorangestellten Zusammenfassung der Leitlinien-Empfehlungen zu finden ist, interpretationsbedürftig.

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Therapie-Leitlinien sind keine Richtlinien und sind somit nicht verpflichtend [20]. Schon deshalb können sie nicht als Indikator für die Realität der Versorgung angesehen werden. Sie geben einen als ideal angesehen Korridor von Entscheidungsmöglichkeiten an, in dem sich der therapeutisch tätige Arzt oder Psychologe in seinen therapiebezogenen Entscheidungen bewegen kann, wobei aber nicht alle Optionen maximal auszuloten oder gar zu realisieren sind. Das gilt für die Nationale Versorgungsleitlinie Depression noch mehr als für sonstige medizinische Therapie-Leitlinien, da bei der Nationalen Versorgungsleitlinie nicht nur eine betroffene Berufsgruppe (Ärzte), sondern eine weitere Berufsgruppe (Psychologen), vertreten durch die jeweiligen Fachgesellschaften, Mitspracherecht hat und ihre berufsbezogenen Kompetenzen, Schwerpunktsetzungen und Interessen einbringt. Als Resultat ergibt sich daraus ein besonders komplexer und anspruchsvoller Idealstandard von therapiebezogenen Empfehlungen, die selten voll in die alltägliche Versorgungssituation umgesetzt werden können. Internationale Leitlinien zur Therapie der Depression, wie die Leitlinie der WFSBP (World federation of societies of biological psychiatry) zur Depressionsbehandlung [3], bringen stärker den sequenziellen Ansatz in der klinischen Entscheidungsfindung zum Ausdruck und vermeiden so einen aus pragmatischen und gesundheitsökonomischen Gründen nicht einlösbaren Idealversorgungsanspruch.

Die Einschränkungen gegenüber dem in der Nationalen Versorgungsleitlinie zum Ausdruck gebrachten Idealstandard sind unter anderem dadurch bedingt, dass beispielsweise ein psychotherapeutisches Behandlungsangebot nicht überall verfügbar (u.a. Stadt-Land-Gefälle in der Psychotherapeuten-Dichte, generelles Missverhältnis zwischen Bedarf und Angebot, vgl. [24]) und meistens nicht umgehend zu realisieren ist. Im Gegensatz zu medikamentösen Maßnahmen sind psychotherapeutische Maßnahmen zudem in weit größerem Umfang von Kompetenz und Motivation des Patienten abhängig. Auch sind ökonomische Grenzen zu berücksichtigen: Durchschnittlich ist eine psychotherapeutische Behandlung kostenaufwendiger als eine Antidepressiva-Behandlung. Ein Maximalangebot für jeden Patienten würde die personellen und institutionellen Ressourcen des Versorgungssystems sowie den Finanzierungsrahmen der Krankenkassen sprengen. Somit geht es um einen sinnvollen Indikations- und Selektionsprozess. Von einer Verpflichtung, bei jedem Patienten mit mittelgradiger oder schwerer depressiver Episode eine Psychotherapie anzubieten oder gar durchzuführen, kann deshalb nicht ausgegangen werden. Nur beiläufig sei bemerkt, dass im Gegensatz zur Antidepressiva-Therapie für die psychotherapeutischen Verfahren jegliche nach gleichen Kriterien durchgeführte Nutzenbewertung fehlt. Das gilt auch für die in der nationalen Versorgungsleitlinie vorrangig berücksichtigten, als GKV(Gesetzliche Krankenversicherung)-Leistung anerkannten Psychotherapieverfahren.

Psychotherapeutische Versorgungsmöglichkeiten

Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) nahmen Ende 2010 13800 psychologische Psychotherapeuten an der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung Erwachsener teil. Die Anzahl der im Erwachsenenbereich psychotherapeutisch tätigen Ärzte wurde mit 5420 von insgesamt 138472 angegeben [24]. Die Versorgungsdichte schwankt erheblich zwischen Stadt und Land. Während Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie im Durchschnitt 400 Fälle im Quartal behandeln, liegen sowohl die Fachärzte für psychosomatische Medizin und Psychotherapie als auch die psychologischen Psychotherapeuten bei etwa 50 Fällen im Quartal. Die psychotherapeutischen Praxen sind bundesweit sehr stark überlaufen. Monatlich fragen – so eine Fragebogen-Studie der Bundespsychotherapeutenkammer [4] – durchschnittlich 17,7 Patienten pro Praxis nach einer psychotherapeutischen Behandlung. Die ambulanten Psychotherapeuten können im Monat 4,2 Erstgespräche anbieten, das heißt, dass nur für knapp jede vierte Anfrage ein psychotherapeutisches Erstgespräch erfolgen kann. 51,6% der Patienten, denen ein Erstgespräch angeboten wird, nehmen danach keine Behandlung auf. Angesichts dieser Zahlen muss unter anderem von einer Unterversorgungssituation hinsichtlich der ambulanten Psychotherapie, insbesondere in bestimmten Regionen, für bestimmte Psychotherapien, für bestimmte Subgruppen ausgegangen werden, und dies ganz besonders hinsichtlich der schnellen Verfügbarkeit und umgehenden Therapierealisierung, die unter anderem zusätzlich durch die Notwendigkeit der Durchführung eines Antragsverfahrens zur Kostenerstattung im Rahmen der GKV und analoger Genehmigungsverfahren im Rahmen der privaten Krankenversicherung (PKV) [1, 24, 25] limitiert werden. Diese Charakteristika der Versorgungsstruktur geben den Hintergrund ab, vor dem sich die psychotherapeutische Versorgung abspielt, die somit durch vielfältige Einschränkungen gekennzeichnet ist. Die Vorstellung eines Aus-dem-Vollen-Schöpfen ist fehl am Platz, stattdessen handelt es sich um ein Angebot, das schon durch die strukturellen Gegebenheiten limitiert ist und noch zusätzlich durch andere Faktoren (Patientenvariablen, Krankheitsvariablen, Therapeutenvariablen) eingeschränkt wird. Dabei geht es schließlich nicht nur um Resultate einer Verknappung, sondern zum Teil auch um sinnvolle Indikations- und Selektionsprozesse.

Mögliche Behandlungspfade

Die Realität der therapeutischen Versorgung depressiver Patienten ist nämlich gekennzeichnet durch solche unterschiedliche Indikations- und Selektionsprozesse, die einerseits durch die Konfigurationen des Versorgungssystems bedingt sind, andererseits durch die Vorgehensweisen und Präferenzen des an Depression leidenden Patienten sowie die Vorgehensweisen und Entscheidungsprozesse von Ärzten und Psychotherapeuten. Dabei spielt die primäre Anlaufstelle im Versorgungssystem eine große Rolle, ob zuerst ein psychopharmakologisches oder ein psychotherapeutisches Behandlungsangebot gemacht wird. Grob zusammengefasst sind vorrangig folgende Konstellationen und Behandlungspfade zu berücksichtigen (vergleiche dazu auch die in einer umfangreichen Analyse von Versorgungsdaten ausgewählter Krankenkassen empirisch ermittelten Behandlungspfade [12]):

  • Der Patient geht primär zu einem psychologischen Psychotherapeuten. Dieser wird ihm in der Regel, wenn indiziert, eine Psychotherapie empfehlen, im Idealfall nach Aufklärung darüber, dass auch eine Psychopharmakotherapie mit Antidepressiva (allein oder zusätzlich) möglich wäre.
  • Der Patient geht primär zum ärztlichen Psychotherapeuten. Dieser würde in der Regel in analoger Weise vorgehen.
  • Der Patient geht primär zum Allgemeinarzt oder zum nicht primär psychotherapeutisch, sondern vorrangig psychopharmakologisch ausgerichteten Psychiater. Dieser wird ihm in der Regel, sofern indiziert, eine Antidepressiva-Therapie anbieten, im Idealfall nach Aufklärung, dass auch eine Psychotherapie (allein oder in Kombination) möglich wäre.
  • Falls der jeweilige Erstkontakt-Arzt/-Psychologe erkennt, dass das seiner Kompetenz entsprechende Verfahren, also Psychotherapie oder Psychopharmakotherapie, nicht indiziert ist (bei der Psychotherapie kann unter anderem auch der Schweregrad der Depression oder eine fehlende Motivation eine Grenze setzen, was im Gegensatz zur Psychopharmakotherapie ein besonderes Problem ist!), wird er dem Patienten die jeweils andere Therapiemöglichkeit empfehlen und ihn, falls er diese Therapie nicht selbst anbieten kann, an einen Kollegen mit der jeweiligen anderen Kompetenz überweisen.
  • Bei Patienten mit schwerer depressiver Episode kann die Situation eintreten, dass der jeweilige Erstbehandler primär, oder oft sekundär, zu dem Schluss kommt, dass eine Kombination mit dem jeweils anderen, von ihm gegebenenfalls nicht angebotenen Verfahren notwendig ist. Diese Kombinationsmöglichkeit ist in der nationalen Versorgungsleitlinie expressis verbis vorgegeben, wird aber bei weitem nicht immer durchgeführt, insbesondere meistens nicht von Anfang an. Dies hat viele Hintergründe, die einerseits mit den Versorgungsgegebenheiten zusammenhängen, andererseits unter anderem aber auch mit der Erkrankung selbst. Bei Patienten mit schwerer depressiver Episode ist eine Psychotherapie anfangs häufig wegen unzureichender Belastbarkeit des Patienten in dieser Phase nicht möglich (Gefahr der Verschlimmerung der Depressivität, Gefahr der Zunahme oder des Neuauftretens von Suizidalität). Erst nach Besserung der Depression unter Antidepressiva-Behandlung kann dann im weiteren Verlauf auch eine Psychotherapie durchgeführt werden, meistens im Sinne einer Kombinationsbehandlung. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die alleinige Antidepressiva-Therapie keinen ausreichenden Erfolg gebracht hat. Eine alleinige Psychotherapiebehandlung bei Patienten mit schwerer depressiver Episode ist wegen der mangelnden Belastbarkeit des Patienten (siehe oben) kaum durchzuführen und hinsichtlich einer ausreichenden Wirksamkeit fragwürdig. Wie dargestellt geht es bei der diesbezüglichen Indikationsstellung um einen auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Patienten zugeschnittenen speziellen Indikationsprozess und keinesfalls um einen von vornherein festgelegten und in jedem Fall durchzuführenden Kombinationstherapieansatz.

Diese durch das Versorgungssystem und durch objektive Indikationsaspekte gegebenen Rahmenbedingungen werden durch die Präferenzen und Entscheidungen des Patienten weiter differenziert. Es gibt Patienten, die generell die Psychopharmakotherapie vorziehen, beispielsweise aus pragmatischen Gründen (einfacher zu realisieren) oder aus konzeptuellen Überlegungen (Depression als neurobiologische Störung, medizinisches Krankheitsmodell). Es gibt andere Patienten, die generell die Psychotherapie vorziehen, insbesondere aus konzeptuellen Gründen (Depression als psychologische Störung) oder aus grundsätzlicher Ablehnung von Psychopharmaka („toxisch, machen abhängig“ u.a.).

Patienten, die primär zum psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeuten gehen, haben in der Regel eine positive Einstellung zur Psychotherapie und nehmen deswegen einen diesbezüglichen Therapievorschlag gerne an. Patienten, die primär zum Allgemeinmediziner oder zum Psychiater gehen, sind oft dem medizinischen Krankheitsverständnis näher und nehmen deshalb meistens gern den Vorschlag einer Psychopharmakotherapie an. Allerdings findet sich unter ihnen auch eine prozentual geringere Gruppe, die nach der psychotherapeutischen Alternative fragt oder die entsprechende Aufklärung des Arztes mit Interesse annimmt und sich gegebenenfalls in diese Richtung entscheidet.

Hinsichtlich der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung ergeben sich Restriktionen unter anderem durch das notwendige Begutachtungsverfahren: Psychotherapie wird im ambulanten Bereich nur nach einem positiv entschiedenen Antragsverfahren von den Krankenkassen (primär ist hier die GKV gemeint, für die PKV existieren analoge Beschränkungen) erstattet. Nach fünf Probesitzungen kann der Antrag gestellt werden. Seine Bearbeitung dauert in der Regel etwa vier bis acht Wochen. Nach positivem Entscheid, der keinesfalls immer zu erwarten ist, kann dann die Behandlung begonnen werden, sofern ein Psychotherapeut verfügbar ist.

Hinsichtlich der stationären Versorgung depressiver Patienten ergeben sich vergleichbare Beobachtungen. Bestimmte Patienten gehen primär in eine psychotherapeutische Klinik, weil sie eine psychotherapeutische Behandlung wünschen. Andere gehen in eine psychiatrische Klinik, weil sie vorrangig eine psychopharmakologische Behandlung erwarten oder weil der einweisende Arzt wegen der Schwere der Depression und/oder bestehender Suizidalität dorthin überweist und dabei primär eine psychopharmakologische Behandlung für angemessen hält. Stellt sich im Rahmen einer stationären Behandlung der Bedarf oder die Erkenntnis ein, dass die jeweilig andere Behandlung sinnvoller und indiziert wäre, so ist die Überweisung in eine psychiatrische Klinik in der Regel problemlos und ohne Verzögerung möglich, während die Überweisung in eine psychotherapeutische Klinik Probleme macht, unter anderem dadurch, dass eine Genehmigung durch die Krankenkasse nach entsprechender Antragsstellung erforderlich ist.

Diese Ausführungen zeigen, dass die Versorgungsrealität wesentlich komplexer ist, als die nationale Versorgungsleitlinie erkennen lässt. Dort schematisch festgelegte Therapieempfehlungen werden in der Versorgungsrealität in sehr differenzierter Weise und in sequenziellen Prozessen individualisierend umgesetzt, wobei die primäre Anlaufstelle des Patienten für das weitere Vorgehen zum Teil determinierend ist. Neben den dargelegten generellen Tendenzen in der Versorgung entwickeln unterschiedliche Institutionen unterschiedliche Usancen und Behandlungsstereotype.

Versorgungsforschung zur Einbeziehung psychotherapeutischer Maßnahmen

Für die Versorgung ergeben sich folgende spezielle Ergebnisse, wobei in der Darstellung vorrangig auf die Versorgung im ambulanten Bereich fokussiert wird:

  • Wie die nachfolgende Studie zeigt, werden insbesondere die schweren Depressionen vorrangig von Allgemeinmedizinern und Fachärzten somatischer Disziplinen und im Vergleich dazu in geringerem Maße von Psychiatern versorgt. In dieser Studie zur Inanspruchnahme des Versorgungssystems bei psychischen Erkrankungen auf der Basis der patientenbezogenen Versorgungsdaten von drei Ersatzkassen in Deutschland (DAK, KKH, HKK) aus den Jahren 2005 bis 2007 mit insgesamt über drei Millionen Patienten mit psychischen Erkrankungen zum Index-Zeitpunkt waren 110462 Patienten mit schwerer Depression und 524 unterschiedlichen Versorgungsverläufen [12]. Es zeigte sich, dass die Versorgung bei niedergelassenen Allgemeinärzten oder Fachärzten somatischer Disziplinen, teilweise in Kombination mit psychiatrisch-nervenärztlicher Versorgung, dominierte. Die initiale Versorgung zu Beginn des Beobachtungszeitraums (Index-Versorgung) erfolgte überwiegend (74%) bei einem Arzt für Allgemeinmedizin oder einem Facharzt einer somatischen Fachrichtung. In diesen Fällen lag die Wahrscheinlichkeit, im Beobachtungszeitraum nicht mehr in einen anderen Versorgungsbereich zu wechseln, bei 53%. Die Übergangswahrscheinlichkeit zu einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie lag bei 36%, die Wahrscheinlichkeit des Übergangs in einen anderen Versorgungsbereich/zu einer anderen Fachdisziplin bei 11%. Im Falle einer ambulanten Versorgung bei einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie/Nervenheilkunde, die 20% aller Indexfälle betrug, lag die Wahrscheinlichkeit, keinen weiteren Wechsel in einen anderen Versorgungsbereich oder zu einer anderen Fachdisziplin vorzunehmen, bei 26%, die Wahrscheinlichkeit eines Übergangs zu einem Arzt für Allgemeinmedizin/Facharzt einer somatischen Disziplin bei 63% und die Übergangswahrscheinlichkeit in einen anderen Versorgungsbereich/zu einer anderen Fachdisziplin bei 11%. 2,5% der Indexpopulation begannen die Behandlung ambulant bei einem Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 0,7% bei einem psychologischen Psychotherapeuten. Sehr selten erfolgte die Index-Versorgung im stationären Bereich (somatische Fachabteilung 0,1%, psychiatrische Fachabteilung 2,2%, psychosomatische Fachabteilung 0,2%, Rehabilitation 0,2% [12]). Aus den Daten wurden von den Autoren fünf vorrangige Behandlungspfade errechnet:
  • Ambulanter Allgemeinarzt/somatischer Facharzt ohne Wechsel,
  • ambulanter Psychiater ohne Wechsel,
  • ambulanter Allgemeinarzt/somatischer Facharzt zu ambulantem Psychiater,
  • ambulanter Psychiater zu ambulantem Allgemeinmediziner/somatischem Facharzt,
  • ambulanter Allgemeinmediziner/somatischer Facharzt zu stationär psychiatrische Fachabteilung.

Diese Versorgungspfade betreffen 77,5% der Patienten. Demgegenüber beziehen sich alle restlichen 84 Versorgungspfade auf nur etwa 15% der Patienten und wurden von den Autoren deshalb als „selten“ bezeichnet.

  • Laut einem vom Berufsverband Deutscher Neurologen (BDN) in Auftrag gegebenen Gutachten zu Strukturen und Finanzierung der neurologischen und psychiatrischen Versorgung [2] zeigt sich, dass im ambulanten Bereich (S. 41 des Gutachtens) die psychotherapeutische Leistungsmenge (in Abrechnungspunkten berechnet) im Wesentlichen von psychologischen Psychotherapeuten erbracht wird (18,2 Mrd.), während die diesbezügliche Leistungsmenge der ärztlichen Psychotherapeuten um ein Vielfaches niedriger (4,6 Mrd.) ist.
  • Im ambulanten Bereich ist in der Akutphase der mittelschweren und schweren Depression die alleinige medikamentöse Therapie wesentlich häufiger, Psychotherapie allein oder in Kombination spielt eine wesentlich geringere Rolle. Eine vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) durchgeführte Expertenbefragung ergab, dass im deutschen Versorgungsalltag lediglich etwa 10% der depressiven Patienten in der Akutbehandlung eine begleitende Psychotherapie bekommen. In einer Modellrechnung des IQWiG wurde darauf basierend eine Schätzung von 15% angenommen [16].
  • Nach einer im Jahr 2011 durchgeführten Erhebung der Bundespsychotherapeutenkammer betrug die Wartezeit für ein psychotherapeutisches Erstgespräch durchschnittlich 12,5 Wochen [4]. Bis zum Psychotherapiebeginn dauert es durchschnittlich sechs Monate [24]. Schon allein wegen dieser Zeithorizonte kommt eine psychotherapeutische Behandlung in der Akutbehandlung einer depressiven Episode im ambulanten Bereich meistens nicht in Betracht.
  • Die von Walendzik et al. [25] berichteten Ergebnisse weisen darauf hin, dass die psychotherapeutische Versorgung von depressiven Männern im ambulanten Bereich noch schlechter ist als die von Frauen. Darauf weisen auch Albani et al. [1] hin, die eine Unterrepräsentation der Männer von 28% beschreiben.
  • Im Rahmen des Kompetenznetzwerks Depression/Suizidalität wurden für eine ambulante Studie mit Patienten mit leichter bis mittelgradiger Depression (bis zu einem Hamilton Depression Score von 22) rekrutiert, die primär in allgemeinärztlicher Betreuung standen und denen dann im Rahmen der experimentellen Studie verschiedene Therapien, unter anderem eine kognitive Verhaltenstherapie (9 Stunden als Gruppenpsychotherapie) angeboten wurde; es zeigte sich, dass von der Ausgangsstichprobe von 1099 depressiven Patienten nach Berücksichtigung aller Ausschlusskriterien nur 368 Patienten in die Studie aufgenommen werden konnten [14]. Wie eine Nachfrage bei Frau Prof.Dr. Henkel, Davos, Koautorin der Publikation dieser Studie, ergab, war bei einer Reihe von Patienten unter den Ausschlussgründen die grundsätzliche Ablehnung von psychotherapeutischer Behandlung. Von den in den KVT(Kognitive Verhaltenstherapie)-Arm aufgenommenen 61 Patienten absolvierten nur 23 (38%) die Therapie, das heißt, 38 von 61 Patienten (62%) waren Drop-outs. Neben der Randomisierung auf entweder den Antidepressiva- bzw. Plazebo-Arm oder den Psychotherapie- bzw. Psychotherapie-Pseudoplazebo-Arm wurde ein „Passungsarm“ angeboten, bei dem die Patienten entscheiden konnten, ob sie lieber das Antidepressivum (Sertralin) oder die Psychotherapie bekommen wollten. Nur 33 von 82 Patienten (40%) aus der selektierten Gesamtpatientengruppe, die sich prinzipiell für eine Studie, bei der unter anderem in einem der beiden Randomisierungsarme Psychotherapie angeboten wurde, entschieden hatten, wählten die Psychotherapie. Von diesen 33 Patienten brachten nur 14 (42%) die Psychotherapie zum Abschluss.
  • In einer großen in Deutschland durchgeführten Anwendungsbeobachtungsstudie zu Escitalopram, die bei ambulant behandelten depressiven Patienten durchgeführt wurde, wurde nur in einem geringen Teil der Fälle (2%) eine begleitende Psychotherapie dokumentiert, obwohl eine begleitende Psychotherapie kein Ausschlusskriterium für die Aufnahme in die Studie war [19].
  • In der im Rahmen des Kompetenznetzwerks Depression/Suizidalität durchgeführten naturalistischen Studie mit rund 1000 stationär behandelten depressiven Patienten aus deutschen Universitäts- und Versorgungkliniken war der Anteil psychotherapeutisch behandelter Patienten mit etwa 20% relativ niedrig [23], insbesondere wenn man bedenkt, dass es sich dabei zu einem großen Teil um therapierefraktäre oder anderweitig komplizierte Patienten handelt.
  • Dies kontrastiert zu den Angaben von Schneider et al. [22] aus einer unter Aspekten der Versorgungsqualität durchgeführten Untersuchung, bei der über 90% der stationär behandelten depressiven Patienten psychotherapeutisch behandelt wurden, allein oder in Kombination. Als Psychotherapieverfahren kam am häufigsten die KVT zur Anwendung. Diese außerordentlich hohe Psychotherapiequote spiegelt sicherlich nicht die deutsche Versorgungsrealität wider, sondern ist vermutlich die Folge einer inflationären Anwendung des Psychotherapiebegriffs oder einer besonderen Selektion der einbezogenen Kliniken.

Wirksamkeit von Psychotherapie

Da der Erkenntnisstand von Leitlinien schnell veraltet, ist eine regelmäßige und engmaschige Überarbeitung notwendig. Solange es eine solche Überarbeitung der Nationalen Versorgungsleitlinie Depression nicht gibt (Gültigkeitsdatum ursprünglich nur bis 2013, seit kurzem verlängert ohne Revision auf 2014), scheint es deshalb notwendig, den aktuellen Erkenntnisstand zur Wirksamkeit der Psychotherapie in der Depressionsbehandlung auf Basis der wissenschaftlichen Literatur orientierend zu berücksichtigen. Dies ist auch deshalb erforderlich, weil Leitlinien durch die jeweilige Zusammensetzung des Gremiums eine besondere Fokussierung bekommen können.

Zur Wirksamkeit von Psychotherapie bei Depression (MDD, major depressive disorder) existieren eine Reihe von kontrollierten Studien, insbesondere zur KVT. Die Studienergebnisse wurden im Rahmen von Metaanalysen zusammengefasst. Nachfolgend soll auf die wichtigsten und methodisch sorgfältigsten Metaanalysen aus jüngster Zeit eingegangen werden. Eine umfassende Darstellung aller diesbezüglichen Metaanalysen aus den letzten Jahren ist aus Platzgründen nicht möglich.

In einer der neuesten Metaanalysen [17] wurden die positiven Ergebnisse früherer Metaanalysen bestätigt: Es bestand ein signifikanter Unterschied zwischen Psychotherapie und den Kontrollbedingungen, während zwischen Psychotherapie und Psychopharmakotherapie (Antidepressiva-Therapie, Einbezug publizierter und nicht publizierter Antidepressiva-Studien) kein signifikanter Unterschied gefunden wurde.

In ihrer Metaanalyse zur KVT bei Depression (MDD) fanden Cuijpers et al. [5] eine relativ hohe Effektstärke für die Psychotherapie bei fehlendem signifikanten Unterschied zur Antidepressiva-Therapie. Auf den auch von Publikationen zu Antidepressiva-Studien bekannten Publikationsbias durch Unterdrückung negativer Studien wird nachdrücklich hingewiesen. Nach entsprechender Adjustierung schrumpfte die Effektstärke der Psychotherapie von 0,71 auf 0,53 (siehe dazu auch [7]). Auch war die Effektstärke in „higher quality studies“ deutlich niedriger als die von „lower quality studies“ (0,53 vs. 0,90). Es wird betont, dass die KVT die am meisten untersuchte Psychotherapie in diesem Bereich ist. Insofern ist die Gleichstellung aller im Rahmen der GKV zugelassenen Psychotherapien in der Nationalen Versorgungsleitlinie Depression unter Gesichtspunkten der evidenzbasierten Medizin bedenklich. Gerade hinsichtlich der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie besteht weiterhin dringender Bedarf nach Wirksamkeitsstudien, dem in neueren, noch laufenden Studien ansatzweise nachgegangen wird [13].

In einer weiteren neueren Metaanalyse von Cuijpers et al. [6], in diesem Fall zur interpersonellen Psychotherapie (IPT), zu der ebenfalls eine relativ große Zahl von Wirksamkeitsstudien existiert, ergab sich eine Effektstärke von 0,63 im Vergleich zu Kontrollkonditionen. Bei der Gegenüberstellung mit anderen Psychotherapieformen, die in dem Zusammenhang untersucht worden waren, ergab sich kein signifikanter Unterschied zugunsten von IPT. In dieser Studie erwies sich (bei anderer Studienauswahl als bei [17]) die Antidepressiva-Therapie der IPT überlegen mit einer Effektstärke von 0,19 und einer Number needed to treat (NNT) von 9,43.

Im Kontext der Gesamtthematik dieses Beitrags interessieren auch die Ergebnisse zur Kombination aus Psychopharmakotherapie (Antidepressiva-Therapie) und Psychotherapie. Ein Übersichtsartikel zu dieser Fragestellung [15] konnte bei der damaligen Studienlage keinen generellen Vorteil für die Kombinationstherapie erkennen. Allerdings ergaben sich Hinweise für einen Vorteil einer zusätzlichen Psychotherapie bei Patienten, die nicht ausreichend auf die Antidepressiva-Therapie angesprochen haben. Dieser Eindruck wird auch in einigen Einzelstudien geweckt, die speziell auf depressive Patienten mit Residualsymptomatik nach lege artis durchgeführter Antidepressiva-Therapie fokussieren (siehe diesbezügliche Ausführungen in [15]).

In der umfassenden neueren Metaanalyse von Cuijpers et al. [8] ergab sich eine durchschnittliche Effektstärke der kombinierten Therapie gegenüber der Psychotherapie von 0,35. In den Studien, bei denen KVT involviert ist, wurde dieser Unterschied signifikant. In dieser Metaanalyse zeigte sich ebenfalls ein Trend zur größeren Wirksamkeit der Kombinationstherapie bei speziellen Subgruppen, unter anderem bei älteren Patienten mit Depression, Patienten mit chronischer Depression sowie in Studien, bei denen trizyklische Antidepressiva (TZA) oder selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) eingesetzt wurden, im Vergleich zu Studien, in denen ein „medication protocol“ oder andere Antidepressiva untersucht wurden.

In einer anderen Metaanalyse zur Kombinationstherapie [11], in diesem Fall hinsichtlich der Psychotherapie nur auf KVT bezogen und nur unter Berücksichtigung von Studien, in denen moderne Antidepressiva („modern generation antidepressants“) verwendet wurden, fand sich kein signifikanter Unterschied der Kombinationstherapie zur Antidepressiva-Monotherapie im Hinblick auf die Reduktion der depressiven Symptomatik oder Suizidalität oder Gesamtbesserung. Lediglich hinsichtlich der sozialen Beeinträchtigung gab es Vorteile für die Kombinationstherapie.

Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass es grundsätzliche methodologische Unterschiede zwischen der Durchführung von Psychopharmakastudien und Psychotherapiestudien gibt [20]. Letztere sind unter anderem nie doppelblind (ist prinzipiell nicht möglich in der Psychotherapie) und folgen in der Auswertung in der Regel auch nicht dem LOCF(Last observation carried forward)-Prinzip. Allein diese beiden Faktoren führen zu einer Überbewertung der Psychotherapie-Ergebnisse, ein Gesichtspunkt, dem die Nationale Versorgungsleitlinie offensichtlich nicht kritisch Rechnung getragen hat und die unter anderem in der Evidenzbewertung, bedingt durch eine zu grobrastrige Evidenzgraduierung, nicht zu Konsequenzen führt. Die erheblichen Verfälschungseffekte, die hier zu berücksichtigen sind, gehen unter anderem andeutungsweise aus der oben erwähnten Metaanalyse von Khan et al. [17] hervor, wenn man lediglich statt einer echten Verblindung zwischen Studien mit „blinded raters“ und Studien mit „non-blinded raters“ unterscheidet. Zu betonen ist, dass selbst eine randomisierte Untersuchung mit „blinded raters“ nicht einer echten doppelblinden Prüfung in der methodischen Wertigkeit gleichzustellen ist. Analoges gilt für die Gegebenheiten in der Kontrollgruppe: Eine Pseudoplazebo-Bedingung, wie in guten Psychotherapie-Studien üblich, ist nicht gleichzusetzen mit einer echten Plazebo-Bedingung. Die Pseudoplazebo-Bedingung kann sogar wegen eines unzureichenden Plazebo-Effekts (z.B. weil der Patient erkennt, dass eine sinnvolle Therapie nicht angeboten wird) die Effektstärke der untersuchten Psychotherapie scheinbar erhöhen (siehe z.B. die Ergebnisse der MIND-Studie, [14]). Diese methodischen Probleme sollten auch im Rahmen der Revision der Nationalen Versorgungsleitlinie und bei vielleicht in Zukunft erfolgenden Nutzen- oder Kosten-Nutzen-Analysen zur Psychotherapie depressiver Patienten berücksichtigt werden

Bei dieser Datenlage zur Wirksamkeit scheint es weiterhin berechtigt und sinnvoll, auch unter dem Aspekt personeller und finanzieller Ressourcen, eine schrittweise Indikationsstellung hinsichtlich der Indikation zur Psychotherapie und insbesondere zur Kombinationstherapie aus Psychopharmakotherapie und Psychotherapie vorzunehmen, auch bei der schweren depressiven Episode [9]. Eine genauere Lektüre der Nationalen Versorgungsleitlinie scheint dieser Sichtweise nicht zu widersprechen. Auch einige Studien zur Kombinationstherapie sind im Sinne eines sequenziellen Entscheidungsprozesses angelegt. Unabhängig davon scheint die derzeitige allgemeine Versorgungslage dieser Sichtweise zu entsprechen, insbesondere im ambulanten Bereich, auch bei schwerer Depression.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

  • Die Nationale Versorgungsleitlinie zur Depressionsbehandlung in Deutschland beschreibt einen Idealstandard, der hinsichtlich der Akutbehandlung der mittelschweren und schweren depressiven Episode nicht der Versorgungsrealität entspricht, die durch erhebliche Limitationen insbesondere hinsichtlich einer allgegenwärtigen und schnellen Verfügbarkeit psychotherapeutischer Versorgungsmöglichkeiten gekennzeichnet ist.
  • Die Versorgungsrealität ist viel komplexer und wird geprägt durch unterschiedliche Versorgungsgegebenheiten, krankheitsbezogene Indikationsstellungen, Präferenzen/Motivation seitens des Patienten und Ähnliches, die insgesamt dazu führen, dass in der primären Akutversorgung von Patienten mit einer mittelschweren oder schweren depressiven Episode die Psychopharmakotherapie vorrangig ist.
  • Die Versorgung depressiver Patienten, auch mittelgradig und schwer depressiver Patienten, findet vorrangig im ambulanten Bereich statt. Allgemeinärzte und Fachärzte somatischer Disziplinen tragen dabei die Hauptversorgungslast, erst nachrangig Psychiater und in relativ geringem Maße ärztliche und in noch geringerem Maße psychologische Psychotherapeuten.
  • Die Entscheidung für Psychopharmakotherapie und/oder Psychotherapie ergibt sich aus der komplexen Gesamtsituation in individualisierender und meist sequenzieller Weise, wobei die primäre Anlaufstelle im ambulanten Versorgungsbereich einen determinierenden Einfluss hat.
  • In der ambulanten Akutbehandlung von Patienten mit mittelschwerer oder schwerer Depression ist die Psychopharmakotherapie bei weitem vorrangig, während Psychotherapie insbesondere im ambulanten Bereich wenig allein oder in Kombination zur Anwendung kommt (u.a. Problem der Verfügbarkeit von Psychotherapeuten, Verzögerung durch Antragsverfahren).
  • Die Evidenz zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren, insbesondere KVT, bei Patienten mit depressiver Episode als alleinige Therapie (vorrangig bei leichter bis mittelschwerer depressiver Episode) oder in Kombinationstherapie (insbesondere auch bei schwerer depressiver Episode) ist gut. Allerdings werden methodische Unterschiede und dadurch bedingte Verzerrungen in der Wirksamkeitsbewertung bisher nicht in der Evidenzgraduierung berücksichtigt, was dringend in einer Revision der Nationalen Versorgungsleitlinie sowie auch bei eventuell geplanten Nutzenbewertungen notwendig wäre.

Diskussion

Aus all dem ist zu schließen, dass die derzeitige psychotherapeutische Behandlung in der ambulanten Versorgung depressiver Patienten nicht den Idealstandards der Nationalen Versorgungsleitlinie zu entsprechen scheint, insbesondere wenn das dargestellte sequenzielle Vorgehen als Problem angesehen wird. Eine Verbesserung im Sinne einer konkreteren Umsetzung der Nationalen Versorgungsleitlinie, das heißt ein möglichst frühes und zur Psychopharmakotherapie gleichrangiges Angebot von Psychotherapie, wäre nur möglich, wenn die Ressourcen und Infrastruktur für Psychotherapie im ambulanten Bereich erheblich verbessert werden könnten. Dabei geht es unter anderem um eine Verkürzung der Wartezeiten und eine Reduzierung des Stadt-Land-Gefälles. Eine Verbesserung der Ressourcen wäre wahrscheinlich mit einer erheblichen Steigerung der Kosten für die Krankenkassen verbunden, was angesichts der chronisch angespannten Haushaltslage der Krankenkassen gesundheitspolitisch kaum durchsetzbar scheint. Eine gewisse Reduzierung der Wartezeiten wäre aber vielleicht schon möglich durch Weglassung des Antragsverfahrens: Der Patient könnte sofort behandelt werden und im Rahmen der anfänglichen „Probe-Therapie“ würde sich herausstellen, ob er dafür geeignet ist. Eine andere Möglichkeit, die Wartezeiten zu verkürzen und gegebenenfalls auch die Engpässe in der Verfügbarkeit von Psychotherapeuten zu reduzieren, wäre die stärkere Implementierung und Krankenkassen-Finanzierbarkeit von internetbasierten Psychotherapien.

Eventuell wäre auch eine Ressourcenverschiebung im Bereich der Krankenkassen-Finanzierung denkbar, wenn beispielsweise die im Rahmen der GKV zur Verfügung stehenden Psychotherapien stärker nach Evidenzgesichtspunkten differenziert werden würden und dies gegebenenfalls im Rahmen von Nutzenbewertungs-Verfahren, wie sie für die Psychopharmakotherapie in Deutschland bereits eingeführt sind, weiter evaluiert würden, auch im Sinne von Kosten-Nutzen-Analysen. Dabei wären dann auch Selektionsaspekte, wie sie in unterschiedlichem Maße für die verschiedenen Psychotherapieverfahren charakteristisch sind, zu berücksichtigen. Letzteres gilt auch für den Vergleich von Psychotherapie und Psychopharmakotherapie, wobei die medikamentöse Therapie wohl am voraussetzungsärmsten ist. Durch solche Nutzen- und Kosten-Nutzen-Analysen ließen sich möglicherweise finanzielle Freiräume schaffen, die in anderen Bereichen der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung depressiver Patienten sinnvoll zur Optimierung eingesetzt werden könnten. Die stärkere Berücksichtigung der Selektionsaspekte würde auch deutlich machen, dass eine vielleicht aus humanitären Überlegungen abgeleitete Idealvorstellung im Sinne einer grundsätzlichen Erstrangstellung der Psychotherapie gegenüber der Psychopharmakotherapie, also bei der Wahl zwischen zwei an sich möglicherweise gleich gut wirksamen Therapieverfahren, wegen der erheblichen Selektionsprozesse gerade im psychotherapeutischen Bereich und dort wieder hinsichtlich einzelner Psychotherapieverfahren nicht sinnvoll ist.

Bei der notwendigen Revision der Nationalen Versorgungsleitlinie sollte deutlicher zum Ausdruck gebracht werden, was gemacht werden soll, wenn zwei in der Evidenzlage als gleichwertig eingeschätzte Therapieverfahren, also Psychopharmakotherapie und Psychotherapie, empfohlen werden. Heißt das, dass man sowohl das eine als auch das andere anbieten kann, je nach den Gegebenheiten für die einzelfallbezogene Entscheidung (Kompetenz des Arztes/Psychotherapeuten, objektive und subjektive Bedürfnislage des Patienten u.a.) oder muss dem Patienten prinzipiell beides angeboten werden, damit ihm die Wahlmöglichkeit gegeben wird, wie im Sinne eines „shared decision-making“? Auch hinsichtlich der Empfehlung zur Kombination von Psychopharmakotherapie und Psychotherapie bei schwerer Depression bestehen erhebliche Unklarheiten. Soll von Anfang an diese Kombinationstherapie erfolgen oder erst wenn die Monotherapie mit einem der beiden Verfahren nicht zu einem ausreichenden Behandlungserfolg geführt hat? All diese Entscheidungen ziehen unter anderem erhebliche gesundheitsökonomische Konsequenzen – bei naiver Betrachtung im Sinne einer zusätzlichen finanziellen Belastung – nach sich, müssen aber bei der Abfassung von Leitlinien berücksichtigt werden. Gerade kürzlich wurde in einer Untersuchung die fehlende Eindeutigkeit von Leitlinienempfehlungen festgestellt und in der entsprechenden Publikation eine präzisere Sprache hinsichtlich der Verbindlichkeit von Leitlinienempfehlungen gefordert [21], ein auch für die Überarbeitung der Nationalen Versorgungsleitlinie sehr wichtiger Hinweis, da die jetzige Version zum Teil unterschiedliche Interpretationen in dem hier diskutierten Sinn zulässt. Dabei wäre auch eine klarere Differenzierung der einzelnen Psychotherapieverfahren hinsichtlich der Evidenzbasierung erforderlich. Nur von „Psychotherapie“ in den Empfehlungen zu sprechen, scheint angesichts der unterschiedlichen Evidenzlage wenig angemessen.

Angesichts der großen Zahl einbezogener Fachgesellschaften für Psychotherapie entsteht der Verdacht, dass diese unpräzise Aussage im Sinne eines erstrebten Konsenses gewählt wurde. Besser wäre es stattdessen, wie in der kürzlich erschienenen Nationalen Versorgungsleitlinie zur Therapie des Typ-2-Diabetes, auch unterschiedliche Positionen zum Ausdruck zu bringen, beispielsweise mit der dort benutzten Formulierung „Aufgrund unterschiedlicher Konzepte der Experten der die Inhalte der NVL verantwortenden Organisationen – inklusive unterschiedlicher Interpretation und unterschiedlicher Gewichtung der berücksichtigenden Evidenz – konnte bei einzelnen Schritten … keine Einigung erreicht werden …“ Da immer wieder auf Interessenskonflikte hinsichtlich der Beteiligung an Leitlinien hingewiesen wird (kürzlich z.B. [18]) und in der Regel einseitig nur mögliche Verflechtungen mit der pharmazeutischen Industrie ins Blickfeld gerückt werden, sollte bei der Überarbeitung der Nationalen Versorgungsleitlinie zur Behandlung depressiver Patienten darauf geachtet werden, dass auch andere mögliche finanzielle und nichtfinanzielle Interessenskonflikte berücksichtigt und deklariert werden.

Interessenkonflikte

HJM hat Honorare für die Beratung oder Teilnahme an einem Expertenbeirat von Janssen, Lilly, Lundbeck, Pfizer, Roche, Servier und Takeda sowie Honorare für Vortäge, Stellungnahmen oder Artikel von Lundbeck, Pfizer und Servier erhalten. Er ist Past-Präsident des CINP.

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Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, Psychiatrische Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, Nussbaumstraße 7, 80336 München, E-Mail: Hans-Juergen.Moeller@med.uni-muenchen.de

The recommendations for a broad use of psychotherapy in the National (German) Treatment Guideline are in contrast to the real care situation of depressed outpatients in Germany

On the basis of the few available studies and other information, this article will attempt to analyse whether the recommendations of the (German) National Treatment Guideline on Depression correspond with the real care situation of depressed outpatients. The results show that the National Treatment Guideline describes an ideal standard that does not correspond with reality. Potential background factors for this discrepancy are discussed, including an insufficient availability of psychological/medical psychotherapists, differences in the number of practices in urban and rural areas, long waiting times until psychotherapy begins, disorder- and patient-related characteristics and respective selection processes.

Key words: Guidelines, depressive disorders, psychotherapy



Psychopharmakotherapie 2014; 21(01)