Multiple Sklerose

Fortschritte in der Therapie


Dr. Bettina Hellwig, Konstanz

Die multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung des zentralen Nervensystems mit unterschiedlichen Verlaufsformen. Allen gemein ist, dass körpereigene Immunzellen die Myelinscheiden der Nervenfasern zerstören. Durch eine moderne Therapie kann die klinisch relevante und radiologisch nachweisbare Krankheitsaktivität heute so weit unterdrückt werden, dass die Krankheitsprogression und die Entwicklung von Behinderungen aufgehalten werden. Fortschritte in der Therapie wurden im September bei einem Symposium in Dresden vorgestellt. Das Symposium wurde von Biogen im Rahmen des 86. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Neurologie veranstaltet.

Ein entscheidender Faktor für die langfristige Stabilisierung der Erkrankung ist der möglichst frühzeitige Therapiebeginn. Eine immunmodulierende Therapie wird heute empfohlen, sobald sich bei der ersten klinischen Episode entsprechende kernspintomographische Veränderungen nachweisen lassen. Als Mittel der ersten Wahl gelten Beta-Interferone und Glatirameracetat, die insgesamt einen vergleichbaren Effekt auf die Schubrate haben und die Behinderungsprogression signifikant reduzieren können.

Frühzeitiger Therapiebeginn

Wie wirksam eine frühe Therapie ist, zeigen unter anderem Studiendaten zur einmal wöchentlichen Behandlung mit Interferon beta-1a i.m. (z.B. Avonex®): So hatten in der CHAMPIONS-Studie Patienten mit einem aus klinischem Gesichtspunkt isolierten Syndrom (Clinically isolated syndrome, CIS), die frühzeitig mit Interferon beta-1a behandelt wurden, gegenüber verzögert behandelten Patienten ein um 52% reduziertes jährliches Schubrisiko über zehn Jahre (p=0,02). Zudem reduzierte der sofortige Therapiestart das Risiko für die Entwicklung einer klinisch manifesten MS signifikant um 39% (p=0,001).

Individuell angepasste Basistherapie

Für eine wirksame individuell angepasste Basistherapie müssen sowohl der bisherige Krankheitsverlauf als auch die Lebensumstände des Patienten berücksichtigt werden. Dabei muss gemeinsam mit dem Patienten eine Therapie ausgewählt werden, die dieser optimal in sein Leben integrieren kann.

85% der Patienten, die Interferon beta-1a einmal wöchentlich intramuskulär anwenden, führen diese Therapie nach den Daten einer internationalen Beobachtungsstudie vorschriftsmäßig durch. Bei der Anwendung des Avonex® Pen lag die Adhärenzrate nach den Zwischenergebnissen der PERSIST-Studie in den ersten sechs Monaten sogar bei bis zu 97,1%.

Pegyliertes Interferon beta ist länger wirksam

Ein neues pegyliertes Interferon beta-1a, das sich in der Entwicklung befindet, muss nur alle zwei Wochen intramuskulär appliziert werden. Durch die Pegylierung bildet sich eine schützende Struktur um das Protein. Als Folge verlangsamen sich der Abbau und die Ausscheidung, und die Halbwertszeit verlängert sich.

In der ADVANCE-Studie (Phase III) wird derzeit ein pegyliertes Beta-Interferon über zwei Jahre bei mehr als 1500 Patienten mit schubförmig-remittierender MS getestet; nach den bisherigen Studienergebnissen scheint es genauso gut wirksam und verträglich zu sein wie die bisher eingesetzten Beta-Interferone.

Daclizumab hemmt T-Zellen

Eine weitere neue Therapieoption in der Entwicklung ist der monoklonale Antikörper Daclizumab high-yield process (HYP). Das neue Immunsuppressivum unterscheidet sich von Daclizumab durch die Art der Glykosylierung, die die antikörperabhängige zelluläre Zytotoxizität abschwächen soll. Wie Daclizumab bindet es auf T-Zellen an die CD25-Untereinheit des Interleukin-2-Rezeptors und verringert dadurch die Zahl der aktivierten T-Zellen und deren Aktivität.

In einer klinischen Studie der Phase II (SELECT-Studie; Daclizumab high-yield process in relapsing-remitting multiple sclerosis) konnte Daclizumab HYP in Dosen von 150 mg im Vergleich zu Plazebo, alle vier Wochen subkutan gespritzt, die Schubrate und die Behinderungsprogression in einem Zeitraum von einem Jahr halbieren. Zu den möglichen unerwünschten Wirkungen gehören Allergien und Erhöhungen der Leberwerte.

Anti-LINGO fördert Remyelinisierung

Ein völlig neues Therapieprinzip wird mit dem Antikörper Anti-LINGO entwickelt: Mit ihm könnte erstmals eine Reparatur der Nervenschäden bei der MS, also eine Remyelinisierung geschädigter Axone, möglich sein. Der Antikörper richtet sich gegen LINGO (leucine rich repeat and Ig domain containing nogo receptor interacting protein), einen natürlichen Inhibitor der Myelinbildung durch die Oligodendrozyten.

In Tiermodellen der MS kam es unter der Anwendung des neuen Antikörpers bei Mäusen zu einer Zunahme des Myelins. Dabei regenerierten sich die Myelinscheiden bereits nach einer einzigen Gabe innerhalb weniger Wochen.

In einer Studie der Phase II wurde der Antikörper bei 80 Patienten mit akuter Optikusneuritis getestet. Die Patienten erhielten Glucocorticoide und zusätzlich den Antikörper in einer Dosierung von 100 mg/kg Körpergewicht intravenös alle vier Wochen. Durch diese Therapie verbesserten sich die Symptome der Optikusneuritis.

Fampridin verbessert Gehfähigkeit

Fampridin (Fampyra®) beeinflusst den Krankheitsverlauf nicht, kann aber bei allen Verlaufsformen eines der wichtigsten Symptome verbessern: die Gehfähigkeit.

Das Arzneimittel ist seit 2011 auf dem Markt. Es wird zweimal täglich in einer Dosierung von 10 mg in Form einer Retardtablette eingenommen. Der Wirkstoff blockiert reversibel die Kaliumkanäle der Nervenzellen, die durch die Demyelinisierung freiliegen, und verbessert damit die Signalübertragung. Als Folge werden die Aktionspotenziale trotz der Demyelinisierung wieder effektiv weitergeleitet.

Fampridin kann bei etwa 40% der Anwender die Gehstrecke nachweisbar verlängern. In klinischen Phase-III-Studien wurde gezeigt, dass Fampridin die Gehfähigkeit von Patienten, die auf den Wirkstoff ansprechen, signifikant verbessern und so die körperliche und psychische Lebensqualität erhöhen kann. In der einarmigen multizentrischen Phase-IV-Studie ENABLE wird jetzt die Veränderung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität über 48 Wochen bei Patienten untersucht, die auf die Therapie ansprechen. Bis jetzt zeigten die Interimsdaten dieser Studie, dass sich die Lebensqualität der Responder frühzeitig und über 24 Wochen anhaltend sowohl in körperlicher als auch sozialer und psychischer Hinsicht verbesserte.

Quelle

Prof. Dr. Ralf Linker, Erlangen; Prof. Dr. med. Bernd Kieseier, Düsseldorf; Prof. Dr. med. Tjalf Ziemssen, Dresden; Prof. Dr. Dr. Sven Meuth, Münster; Symposium „MS-Therapie im Wandel – Therapieziele im Fokus“, veranstaltet von Biogen Idec GmbH im Rahmen des 86. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Dresden, 19. September 2013.

Psychopharmakotherapie 2014; 21(01)