Wachstumsstörungen unter Therapie mit Methylphenidat


Benedikt Stegmann, Marina Hiltl und Ekkehard Haen, Regensburg, für die KinderAGATE

Zur Therapie von Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen wird Methylphenidat bereits seit mehr als 50 Jahren eingesetzt. Eine hohe diesbezügliche Wirksamkeit gilt als unumstritten, allerdings kann eine langfristige Therapie mit dem Psychostimulans auch zu einer Verminderung der Wachstumsgeschwindigkeit von Kindern führen.
Schlüsselwörter: Wachstumsstörungen, Methylphenidat, Psychostimulanzien, Aufholwachstum
Psychopharmakotherapie 2013;20:278–80.

Fallbeschreibung

Ein 15-jähriger Jugendlicher mit einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F 90.0 nach ICD-10) sowie Lese- und Rechtschreibschwäche wird seit 2010 (Alter bei Therapiebeginn: 12 Jahre) mit Methylphenidat (MPH; Ritalin®) behandelt. Begonnen wurde die Therapie mit der Einnahme von 10 mg morgens. Seit der vierten Behandlungswoche bis zur Wiedervorstellung des Patienten Ende Oktober 2012 wurde sie fortgesetzt mit je 10 mg morgens und mittags. Laut Aussage der Mutter profitierte er gut davon.

Bei der Wiedervorstellung des Patienten im Alter von 14 wurde festgestellt, dass die derzeitige Körpergröße (147 cm) nur auf der ersten Größenperzentile liegt. Dem Untersuchungsheft des Jugendlichen kann entnommen werden, dass die Körpergröße zunächst um die 50. Perzentile lag, sich jedoch bereits im Alter von 48 Monaten nur noch knapp über der 3. Perzentile einordnen ließ. Bei Behandlungsbeginn im Jahre 2010 war er 138 cm groß, entsprechend der 7. Größenperzentile.

Es stellt sich die Frage, ob sich das geringe Größenwachstum auf die Therapie mit Methylphenidat zurückführen lässt.

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen

Neben der fehlenden systematischen Erfassung von Untersuchungen zur Off-Label-Anwendung von Psychopharmaka gelten insbesondere fehlende Kenntnisse über arzneimittelbedingte Risiken von Psychopharmaka in der Behandlung von hyperkinetischen Störungen als Problem in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Hyperkinetische Störungen (HKS) nach ICD-10 bzw. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) nach der US-amerikanischen Klassifikation DSM (Diagnostic and statistical manual of mental disorders) manifestieren sich in der Regel bereits im Vorschul- oder frühen Kindesalter. Ging man bis vor wenigen Jahren noch davon aus, dass es sich hierbei um eine Erkrankung handelt, die ausschließlich das Kindesalter betrifft, so weiß man heute, dass die Krankheit eine hohe Stabilität aufweist. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass bei bis zu 30% der Betroffenen Symptome noch im frühen Erwachsenenalter auftreten [12]. Daraus resultiert ein unter Umständen langjähriger Therapiebedarf.

Diagnose und Epidemiologie

Zu den Kardinalsymptomen der einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung nach ICD-10 gehören gesteigerte Impulsivität, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen, wobei je nach Subtyp bestimmte Symptome im Vordergrund stehen.

Die Prävalenzraten sind von der angewandten Methodik und dem Klassifikationssystem abhängig. Nach internationalen Schätzungen sind derzeit 3 bis 5% der Schulkinder von einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung betroffen [11]. Aufgrund der Persistenz im Erwachsenenalter sowie der Unsicherheit bezüglich einheitlicher diagnostischer Kriterien wird gegenwärtig von einer Prävalenz von 1 bis 6% ausgegangen [8].

Therapie

Bei einer pharmakologischen Behandlung, die nicht für jeden Patienten angezeigt ist und immer Teil eines multimodalen Therapiekonzepts unter Einschluss psychoedukativer und verhaltenstherapeutischer Strategien sein muss, gilt das Psychostimulans Methylphenidat als Mittel der ersten Wahl. Es ist wirksam gegen alle Kernsymptome von HKS/ADHS [9]. Zu den sehr häufigen (>10% der Anwendungen) und häufigen (1%<x<10%) unerwünschten Wirkungen zählen Schlaflosigkeit, Nervosität, Appetitminderung, Bauch- und Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen sowie Änderung des Blutdrucks und der Herzfrequenz (üblicherweise eine Erhöhung) [7]. Des Weiteren steht Methylphenidat im Verdacht, Tics auszulösen [6]. Nach der Einnahme hoher Dosen wurden Psychosen beobachtet [3]. Insbesondere bei langfristiger Einnahme im Kindesalter sind Störungen des Wachstums und der altersentsprechenden Gewichtszunahme von Interesse.

Wachstumsstörungen unter Methylphenidat

Bereits vor über 30 Jahren wurde festgestellt, dass eine langfristige Therapie mit Psychostimulanzien zu einer Verminderung der Wachstumsgeschwindigkeit von Kindern führen kann [13]. In unterschiedlichen klinischen Studien wurden daraufhin Ausmaß, Persistenz und mögliche Ursachen der Wachstumshemmung untersucht [4, 10]. Diese Studien belegen eine Verminderung des Größenwachstums von etwa 1 cm pro Jahr bei Kindern, die mindestens drei Jahre lang eine Dosis oberhalb von 20 mg Methylphenidat täglich erhalten haben.

Einfluss auf das Gewicht

Während Effekte auf das Größenwachstum nach etwa einem Behandlungsjahr zu beobachten sind, zeigt sich ein MPH-assoziierter Gewichtsverlust bereits nach drei bis vier Monaten Behandlungsdauer [13].

Aufholwachstum

Nach Faraone et al. (2008) nahm das Wachstumsdefizit in der großen Mehrheit der Studien über die Zeit der MPH-Behandlung hinweg ab und die im Vergleich zu Kontrollen niedrigere Wachstumsgeschwindigkeit normalisierte sich innerhalb von zwei bis drei Jahren [1].

Bei jungen Erwachsenen, die als Kinder mehrere Jahre lang mit MPH behandelt wurden, lässt sich im Vergleich zu unbehandelten Gleichaltrigen keine geringere Körpergröße feststellen. Hierzu trägt womöglich auch ein Rebound-Effekt mit beschleunigtem Aufholwachstum bei, der in nahezu allen Studien gefunden wurde [9]. Einschränkend muss jedoch festgehalten werden, dass die Patienten in fast allen diesen Studien keine ununterbrochene, sondern eine intermittierende Stimulanzientherapie mitgemacht hatten, sodass die Frage, ob eine mehrjährige ununterbrochene Therapie vor und während der Pubertät die Endgröße der Patienten beeinflusst, hieraus nicht beantwortet werden kann.

Aktuelle Studiendaten

Jüngst veröffentlichte neuere Studien erlauben eine detailliertere Abschätzung des Effekts von Stimulanzien auf das Größenwachstum. In der MTA-Studie (Multimodal treatment of ADHD) wurde eine große Stichprobe (n=579) aus einem homogenen Altersbereich (7–9 Jahre) auf vier Behandlungsarme verteilt:

  • Nichtpharmakologische Behandlung
  • „treatment as usual“ (durchschnittliche MPH-Dosis 23 mg/Tag)
  • Kombiniert pharmakologische und verhaltenstherapeutische Behandlung (durchschnittliche MPH-Dosis 31 mg/Tag)
  • Intensive pharmakologische Behandlung (durchschnittliche MPH-Dosis 38 mg/Tag)

Die Behandlung erfolgte sieben Tage die Woche dreimal täglich (immediate release) über 14 Monate ohne Behandlungspausen. In den vier Behandlungsarmen betrug das mittlere Wachstum 6,2 cm, 5,6 cm, 4,9 cm beziehungsweise 4,3 cm mit einem geschätzten Wachstumsdefizit von 1,2 cm pro Jahr in der am intensivsten medizierten Gruppe [9] (Standardabweichungen in der Originalliteratur fehlen). Eine ebenfalls jüngere Übersichtsarbeit über unerwünschte Arzneimittelwirkungen während der Behandlung von ADHS kommt zu einem ähnlichen Ergebnis [2]. Hinsichtlich der Abschwächung der Wachstumsstörung während des Therapieverlaufs ist jedoch auch die MTA-Studie nur schwierig zu interpretieren, da nach Abschluss der aktiven Studienphase nach 14 Monaten die pharmakologische Behandlung teilweise fortgeführt, teilweise abgesetzt und teilweise neu begonnen wurde [9], ohne dass weitere Messungen der Körpergröße dokumentiert wurden. Sichere Aussagen, inwieweit die erreichte Endgröße im Erwachsenenalter gegenüber den unbehandelten Kontrollen eventuell reduziert war, lassen sich daher derzeit nicht treffen.

Ähnliches gilt für ein mögliches Aufholwachstum innerhalb von Medikationspausen. Einige Studien berichten über einen positiven Effekt auf das Größenwachstum beim Aussetzen der Medikation während der Sommerferien, andere Studien finden diesen Effekt wiederum gar nicht oder erst nach einem erneuten Aussetzen der Behandlung in zwei aufeinander folgenden Jahren [1].

Die Datenlage im Hinblick auf eine Dosisabhängigkeit der Wachstumsverzögerung ist hingegen deutlich stichhaltiger. Insbesondere die Ergebnisse der MTA-Studie, aber auch veröffentlichte Metaanalysen [3, 4], lassen auf einen Zusammenhang zwischen MPH-Dosis und Ausmaß des Wachstumsdefizits schließen. Neben einer hohen Dosis werden eine hohe bereits erreichte Körpergröße bzw. ein großes Körpergewicht als weitere Risikofaktoren genannt, die jedoch noch differenzierter untersucht werden müssen [1].

Als mögliche Ursache für Wachstumsdefizite wird insbesondere eine verminderte Kalorienaufnahme aufgrund einer MPH-assoziierten Appetitlosigkeit genannt [1, 3]. Aus der dopaminergen Wirkung von MPH lässt sich außerdem pharmakologisch eine verminderte Freisetzung des Wachstumshormons Somatotropin ableiten. In der Mehrzahl der Studien fand sich jedoch kein Hinweis auf Effekte von MPH auf dieses Hormon [4]. Als weitere Hypothese wird eine Arzneimittel-unabhängige ADHS-assoziierte Veränderung des Wachstums diskutiert [9].

Wachstumsstörungen auch unter anderen Wirkstoffen zur Behandlung von ADHS

In Deutschland wird neben MPH vor allem Dexamfetamin eingesetzt. Seit Ende 2011 befindet sich der Wirkstoff auch als zugelassenes Fertigarzneimittel auf dem Markt (Attentin®). Durchgeführte Studien deuten darauf hin, dass sich die Effekte von MPH und Dexamfetamin auf das Größenwachstum der Patienten nicht wesentlich unterscheiden [9]. Atomoxetin (Strattera®), das ebenfalls zur Behandlung von hyperkinetischen Störungen zugelassen ist, scheint auch das Körperwachstum zu bremsen. In der Metaanalyse von Kratochvil et al. (2006) zeigt sich ein Wachstumsdefizit von 2,7 cm im Vergleich zur erwarteten Größe laut durchschnittlicher Größenperzentile nach zweijähriger Behandlung von 6- bis 7-jährigen Kindern mit Atomoxetin [5].

Fazit

Das Psychostimulans Methylphenidat wird bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert zur Behandlung von Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen eingesetzt. Eine hohe diesbezügliche Wirksamkeit gilt als unumstritten.

Das zwischen 2010 und 2012 unter Therapie mit Methylphenidat geringe Größenwachstum des 14-jährigen Jungen in der vorliegenden Kasuistik lässt sich durch den Wirkstoff erklären. Nach seiner Wiedervorstellung Ende Oktober 2012 wurde die Therapie abgesetzt. Laut Aussage der Mutter komme der Junge ohne das Arzneimittel gut zurecht und habe gute Noten in der Schule. Weiterhin habe die Mutter den Eindruck, dass der Junge seit dem Absetzen von Methylphenidat mehr und regelmäßiger esse. In einer endokrinologischen Abklärung ließ sich ein Wachstumshormonmangel bei dem Patienten ausschließen. Die prospektive Endgröße liegt mit 171 cm im Normbereich.

In den ersten zwei bis drei Behandlungsjahren mit Methylphenidat kann es zu einem Wachstumsdefizit kommen, dessen klinische Bedeutung in der Mehrzahl der Fälle als gering eingeschätzt wurde [9]. Es ist jedoch von einer hohen interindividuellen Schwankungsbreite auszugehen, deutliche Wachstumsdefizite sind in Einzelfällen möglich. Vermutlich kommt es während des fortschreitenden Therapieverlaufs zu einer Abschwächung des Wachstumsdefizits und zu einem Aufholwachstum, sodass in der Regel im Erwachsenenalter keine Wachstumsminderung mehr nachzuweisen ist.

Neben der Aufklärung von Patienten und Eltern sollten während einer MPH-Therapie Körpergröße, Gewicht und Appetit entsprechend dem Alter des Kindes überwacht und mindestens alle sechs Monate in einem Wachstumsdiagramm erfasst werden [7]. Bei deutlicheren Wachstumsverzögerungen sind weitere Maßnahmen, beispielsweise Ernährungsberatung oder Arzneimittelpausen in den Ferien, in Betracht zu ziehen [9]. Dies sollte jedoch selbstverständlich unter Kontrolle eines in der Behandlung von ADHS erfahrenen Arztes erfolgen.

Interessenkonflikterklärung

EH gibt als mögliche Interessenkonflikte an: Vortragstätigkeit, Mitarbeit in wissenschaftlichen Beiräten und Teilnahme als Prüfarzt an klinischen Studien im Auftrag von Janssen-Cilag, Lilly, Pfizer, GlaxoSmithKline, AstraZeneca, Bristol-Myers Squibb, Otsuka, Bayer Vital, Südmedica GmbH, Servier.

BS und MH geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Literatur

1. Faraone SV, Biedermann J, Morley CP, Spencer TJ. Effect of stimulants on height and weight: a review of the literature. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2008;47:994–1009.

2. Graham J, Banaschewski T, Buitelaar J, et al. European guidelines on managing adverse effects of medication for ADHD. Eur Child Adolesc Psychiatry 2011;20:17–37.

3. Greiner C, Enß E, Haen E. Arzneimittelinduzierte Psychose nach Einnahme von langsam freisetzendem Methylphenidat. Psychiat Prax 2009;36:89–91.

4. Klein RG, Landa B, Mattes JA, et al. Methylphenidate and growth in hyperactive children. A controlled withdrawal study. Arch Gen Psychiatry 1988;45:1127–30.

5. Kratochvil CJ, Wilens TE, Greenhill LL, et al. Effects of long-term atomoxetine treatment for young children with attention-deficit/hyperactivity disorder. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2006;45:919–27.

6. Menke F, Wenzel-Seifert K, Babl M, Haen E. Tics in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. AGATE Arzneimittelinformationsdienst, 2011.

7. Novartis Pharma GmbH. Fachinformation Ritalin® 10-mg-Tabletten, Stand Dezember 2012. Verfügbar unter www.fachinfo.de (Zugriff am 29.12.2012).

8. Petermann F, Ruhl U. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). In: Wittchen H-U, Hoyer J (Hrsg.). Klinische Psychologie & Psychotherapie. 2. Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer, 2011: 673–95.

9. Pitzer M. Wachstumsstörungen durch Methylphenidat? Arzneiverordnung in der Praxis 2012;6:138–9.

10. Safer DJ, Allen RP, Barr E. Growth rebound after termination of stimulant drugs. J Pediat 1975;86:113–6.

11. Schlack R, Hölling H, Kurth B-M, Huss M. Die Prävalenz der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2007;50:827–35.

12. Schmidt S, Petermann F. Entwicklungspsychopathologie der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Z Psych, Psychol und Psychother 2008;56:265–74.

13. Vitiello B. Understanding the risk of using medication for attention deficit hyperactivity disorder with respect to physical growth and cardiovascular function. Child Adolesc Psychiatr Clin North Am 2008;17:459–74.

Benedikt Stegmann, Prof. Dr. Dr. Ekkehard Haen, Klinische Pharmakologie am Lehrstuhl mit Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg, Universitätsstraße 84, 93053 Regensburg, E-Mail: benedikt.stegmann@klinik.uni-regensburg.de

Dr. Marina Hiltl, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Bezirksklinikum Regensburg, Universitätsstraße 84, 93053 Regensburg, E-Mail: marina.hiltl@medbo.de

Reduced growth rate under therapy with methylphenidate

Methylphenidate is already used for therapy of attention-deficit and hyperactivity disorders for more than 50 years. A high efficacy goes unquestioned. However, a long-term therapy might lead to a reduced growth rate in children.

Key words: Growth disorders, methylphenidate, psychostimulants, catch-up growth

Psychopharmakotherapie 2013; 20(06)