Trinkmengenreduktion: ein ergänzendes Therapieziel bei Alkoholabhängigen?


Karl Mann, Mannheim, und Joachim Körkel, Nürnberg

Der Erfolg einer Behandlung von Alkoholabhängigen wird in Deutschland traditionell an der dauerhaften Erreichung der Abstinenz gemessen. Meist müssen sich Patienten bereits zu Beginn der Therapie zum Abstinenzziel bekennen. Wenn dies der Fall ist, bestehen gute Chancen auf Besserung. Allerdings schreckt dieses Vorgehen viele Patienten vom Entschluss zu einer Therapie ab und stellt damit eine hohe Hürde dar. So ist unter anderem zu erklären, dass sich hierzulande weniger als 10% der Betroffenen tatsächlich auf eine spezialisierte Behandlung einlassen, mit allen Konsequenzen für das Individuum und die Gesellschaft. Internationale Studienergebnisse zeigen, dass dauerhafte Abstinenz nur von einer Minderheit der Patienten erreicht wird, die Reduktion von Trinkmengen dagegen erstaunlich vielen Betroffenen gelingt. Sie ist verbunden mit einer Verbesserung der allgemeinen Gesundheit und sozialer Indikatoren. Verhaltenstherapeutische Programme zum reduzierten, selbstkontrollierten Trinken werden seit über 30 Jahren erfolgreich angeboten und haben dazu beigetragen, dass die Trinkmengenreduktion in vielen Ländern als alternatives Therapieziel eingeführt wurde. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) veröffentlichte 2010 Behandlungsrichtlinien, in denen die Reduktion der Gesamtalkoholmenge und der schweren Trinktage zumindest als intermediäres Behandlungsziel anerkannt werden. Im Jahr 2012 wurde Nalmefen als erster Arzneistoff zur Trinkmengenreduktion von der Europäischen Komission in Europa zugelassen. Damit eröffnet sich auch für Alkoholabhängige ein Schaden minimierender Ansatz, der in anderen Bereichen der Suchtmedizin längst etabliert ist. Argumente und Befunde in diesem Zusammenhang werden referiert und daraus die Empfehlung abgeleitet, die bisherige Vorgehensweise in Deutschland zu erweitern und auch alkoholabhängige Patienten mit dem Ziel der Trinkmengenreduktion zu behandeln.
Schlüsselwörter: Alkoholabhängigkeit, Behandlungsziel, Schadenminimierung, kontrolliertes Trinken, medikamentöse Therapie
Psychopharmakotherapie 2013;20:193–8.

Nach einer aktuellen Modellrechnung könnten in Deutschland jährlich 2000 Leben gerettet werden, wenn die therapeutischen Möglichkeiten bei Alkoholabhängigen stärker genutzt würden [31]. Angesichts von über 40000 dem Alkoholkonsum zugeschriebenen Todesfällen [10] und einer entsprechend hohen Anzahl wegen vorzeitiger Mortalität oder Morbidität „verlorener Lebensjahre“ (Disability adjusted life years, DALYs) [25] erscheinen verstärkte therapeutische Anstrengungen überfällig. Allerdings tun sich Ärzte und andere Heilberufe nach wie vor sehr schwer im Umgang mit Alkoholabhängigen oder Menschen mit schädlichem Gebrauch von Alkohol. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie eine Erweiterung der Therapieziele auf der Basis neuester evidenzbasierter Befunde die Chance eröffnet, deutlich mehr Patienten zu behandeln und damit eine nachhaltige Verbesserung zu erreichen. Eine zweite Gruppe, die von einer Zielöffnung profitieren könnte, sind die circa 30 bis 50% der Patienten, die in Abstinenzbehandlungen nicht angemessen platziert sind, da sie „stillschweigend“ einen reduzierten Konsum anstreben [4, 21].

Erste „Besserungsversuche“

Die ersten Beschreibungen von „Trunksucht“ und Alkoholentzug gehen ins 18. und 19. Jahrhundert zurück [41]. Allerdings blieben professionell geleitete Besserungsprogramme für Alkoholabhängige noch lange in den Händen von Pfarrern oder Pädagogen [11]. Ein wesentlicher Schritt in der Bekämpfung des Alkoholismus erfolgte in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA. Ein alkoholabhängiger Arzt und ein alkoholabhängiger Börsenmakler (Bob and Bill) stützten sich gegenseitig in ihren Abstinenzbestrebungen und gründeten auf der Basis dieser Erfahrungen die „Anonymen Alkoholiker“ (AA) [2]. Diese Selbsthilfegruppe verbreitete sich in den folgenden Jahren über den gesamten Erdball und ergänzte auch in Deutschland ältere Bewegungen wie zum Beispiel die der Guttempler. Mit ihren eindeutigen „Geboten“ (die „12 Schritte“) machen die AA klare und für jeden Betroffenen nachvollziehbare Aussagen und geben strikte Handlungsempfehlungen. Als wesentliches Element darin lässt sich das absolute Abstinenzgebot für den Rest des Lebens festhalten. Dabei wird motivationspsychologisch geschickt immer nur die Trockenheit für den „heutigen Tag“ angestrebt. Das Gleiche gilt am Tag danach natürlich auch. Vor dem Hintergrund weitgehend fehlender therapeutischer Alternativen war die Bewegung der Anonymen Alkoholiker sehr erfolgreich [17]. Allerdings störten sich nach und nach viele Betroffene und ihre Familien am religiösen Charakter der AA und anderer Selbsthilfegruppen (z.B. Blaues Kreuz, Guttempler, Kreuzbund). So entstanden weitere Selbsthilfegruppen (z.B. Freundeskreise), die zum Teil dezidiert auf quasi religiöse Elemente verzichten.

Das duale Suchthilfesystem in Deutschland

Das mangelnde ärztliche Interesse an Menschen mit Alkoholproblemen begünstigte nicht nur die rasante Entwicklung der Selbsthilfegruppen weltweit, sondern trug speziell in Deutschland auch zur Entstehung eines parallelen Suchthilfesystems bei. Es wurden flächendeckend psychosoziale Beratungsstellen aufgebaut, die stundenweise einen Vertragsarzt für körperliche Probleme zum Beispiel im Alkoholentzug beschäftigen. Die Mitarbeiter (i.d.R. Sozialpädagogen, Sozialarbeiter und Psychologen) führen ambulante Beratungen oder Entwöhnungsbehandlungen durch und vermitteln Patienten in stationäre Entwöhnungsbehandlungen. Neben dem akut-medizinischen System, in dem die von den Krankenkassen finanzierten Entgiftungen und qualifizierten Entzugsbehandlungen [8] durchgeführt werden, entstand so ein zweites, überwiegend von Rentenversicherungsträgern finanziertes Hilfesystem [24].

Ätiologisch wurde in den ersten Jahren von einer frühkindlich erworbenen „neurotischen Fehlentwicklung“ ausgegangen, aus der eine entsprechend intensive, stationäre psychotherapeutische und pädagogische Behandlung von neun Monaten Dauer abgeleitet wurde. Mit der Anerkennung des Alkoholismus als Krankheit im Jahr 1968 kam es in den 60er- und 70er-Jahren zu einer Reduktion der stationären Behandlungszeiten auf etwa sechs Monate. Heute liegt die Verweildauer bei stationären Entwöhnungsbehandlungen bei vier Monaten, die der ambulanten bei zwölf Monaten.

Die angewandten psychotherapeutischen Methoden wurden vor allem durch verhaltenstherapeutische, psychoanalytische und systemisch-familientherapeutische Verfahren erweitert. Weiterhin wird jedoch das Therapieziel der absoluten, d.h. lebenslangen Abstinenz verfolgt. Es gab viele katamnestische Untersuchungen zu diesem Modell. Am bekanntesten wurde die Arbeit von Küfner und Feuerlein [12], in der bei über 1400 Patienten sechs Monate nach Therapieende eine Erfolgsrate von etwa zwei Dritteln gezeigt werden konnte. Allerdings handelte es sich bei dieser Pionierarbeit um eine Feldstudie, die heutigen methodischen Ansprüchen nicht gerecht wird. Interessanterweise fanden Küfner und Feuerlein auch etwa 10% „gebesserte Patienten“. Andere Studien – zum Beispiel aus der Schweiz – kommen zu Besserungsraten nach Abstinenzbehandlung von 27% und mehr [33]. In manchen dieser Studien erwies sich die Gruppe der Gebesserten als instabil [12], in anderen als stabil [3]. Mit Abstrichen zeigt sich die zeitliche Instabilität des erreichten Therapieerfolgs allerdings auch für die Gruppe der Abstinenten bzw. für einige der zunächst schwer Rückfälligen.

Die zieloffene Behandlung und das kontrollierte Trinken

Das Therapieziel einer reduzierten Trinkmenge wurde schon seit den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder in kleinen Studien und Fallbeobachtungen verfolgt [5, 20]. Kein Versuch wurde aber so heftig diskutiert wie eine Arbeit von Sobell und Sobell [35, 37]. Dieses Autorenehepaar untersuchte unter kontrollierten Bedingungen, ob ein traditionelles Therapieangebot zur Erreichung der Abstinenz einer verhaltenstherapeutischen Behandlung mit dem Ziel des selbstkontrollierten Trinkens tatsächlich überlegen ist. Sie fanden vergleichbare Ergebnisse in beiden Gruppen. In der Folge wurde den Autoren vorgeworfen, die von ihnen behandelten Patienten seien keine wirklich Alkoholabhängigen gewesen. Verschiedene Kritiker gingen sogar bis zum Vorwurf der Datenfälschung, der sodann durch zwei Ausschüsse – einer durch den US-Senat eingesetzt (Dickens-Report) – entkräftet wurde. Diese außerordentlich vehemente Diskussion ist wohl am ehesten zu verstehen, wenn man die im Zuge der Bewegung der Anonymen Alkoholiker oben bereits zitierte religiöse Überhöhung des Abstinenzgebots bedenkt. Im Rückblick meinte Mark Sobell, die besonders heftigen Aspekte der Diskussion seinerzeit hätten vermieden werden können, wenn der Begriff der Trinkmengenreduktion anstelle des „kontrollierten Konsums“ gewählt worden wäre [36]. In der Folgezeit wurden weitere Vergleichsstudien mit Patienten, die entweder das Abstinenzziel oder das Ziel des kontrollierten Konsums verfolgten, durchgeführt. Walters [40] kommt in einer statistischen Metaanalyse aller dieser Studien zu dem Ergebnis, dass Programme zum kontrollierten Trinken – auch langfristig und auch bei Alkoholabhängigen – mindestens so erfolgreich sind wie Abstinenzprogramme und das Reduktionsziel für 10 bis 30% der Behandelten die Brücke zur Abstinenz darstellt [32]. Oftmals reichen Selbsthilfemanuale aus, um eine klinisch bedeutsame Reduktion zu erzielen [6]. Trotz dieser Datenlage erfolgte in Deutschland bis heute keine durchgreifende Öffnung der therapeutischen Angebote für reduktionsorientierte Ansätze. Demgegenüber wird international sowohl das Ziel der lebenslangen Abstinenz verfolgt und parallel dazu werden verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapien mit dem Ziel des kontrollierten Trinkens bzw. der Reduktion des Alkoholkonsums angeboten. Dies gilt vor allem für Länder wie Großbritannien, Australien, Niederlande und die skandinavischen Staaten, in denen es seit langem eine starke lerntheoretisch fundierte Psychologenschule gibt. In Deutschland wurde dieser Ansatz um die Jahrtausendwende erneut aufgegriffen und es wurden autodidaktische wie auch therapeutisch begleitete Programme zum Erlernen eines selbstregulierten Trinkverhaltens entwickelt [19]. In der Folge wiederholten sich – allerdings in deutlich abgeschwächter Form – die grundsätzlichen Pro-und-Kontra-Debatten aus Nordamerika [18, 21, 27]. Verschiedene Beratungsstellen in Deutschland, Österreich und der Schweiz bieten seither zusätzlich zur Standardberatung eine Therapie an, in der Patienten für das Erlernen eines selbstkontrollierten Konsums von Alkohol optieren können. Eingang in die stationäre Entwöhnungsbehandlung fand das Konzept bislang nicht.

Internationale Fortschritte

Eine neue Dynamik entfaltete die Erforschung von Behandlungsmöglichkeiten für Alkoholabhängige durch das verstärkte Engagement des National Institute of Health (NIH) in den USA. Das National Institute on Alcoholism and Alcohol Abuse (NIAAA) begann, groß angelegte und gut kontrollierte Studien zu fördern, in denen auch alternative Therapiemöglichkeiten und Erfolgsmaße untersucht wurden. Besonders erwähnenswert ist die sogenannte MATCH(Matching alcoholism treatment to client heterogeneity)-Studie [30]. Hier wurden an mehr als 1700 Patienten drei verschiedene Formen manualisierter Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie, motivationsfördernde Therapie, Psychotherapie aufbauend auf dem 12-Schritte-Modell der Anonymen Alkoholiker) miteinander verglichen. Das vorrangige Studienziel war nunmehr nicht mehr zu prüfen, ob einer der drei Ansätze in der Gesamtstichprobe den anderen überlegen ist. Vielmehr wurden 20 „Matching-Hypothesen“ formuliert. Die Ideen einer individualisierten Therapie (personalisierte Medizin) aufgreifend, sollte z.B. die den AA-Grundsätzen entlehnte Psychotherapie vor allem bei religiös gebundenen Menschen erfolgreich sein. Umgekehrt sollte die besonders elegant mit Widerständen umgehende Therapie der Motivationsförderung („Motivational Interviewing“) insbesondere bei jüngeren, aggressiven und angespannten Patienten erfolgreich sein. In verschiedenen Nachuntersuchungen, zum Teil bis zu 39 Monate nach Behandlungsende, konnten angesichts der nur wenige Sitzungen dauernden ambulanten Behandlung erstaunliche Erfolge im Sinne einer Konsumreduktion aller drei Therapiemodalitäten nachgewiesen werden [7]. So sank die Anzahl starker Trinktage im Monat von 25 auf 6. Die Trinkmengen an solchen Trinktagen nahmen ebenfalls signifikant von 15 auf 3 „drinks“ ab. Weiterhin besserten sich psychiatrische Begleiterscheinungen, zum Beispiel Depressivität. Die Lebensqualität erhöhte sich, die Arbeitsfähigkeit war signifikant verbessert. Allerdings konnte keine der spezifischen Matching-Hypothesen zweifelsfrei nachgewiesen werden [29]. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung alternativer Therapieziele neben der Abstinenz ist die MATCH-Studie insofern bedeutsam, als nur ein kleiner Anteil der Patienten tatsächlich über längere Zeit abstinent war. Die weit überwiegende Mehrzahl trank in der oben beschriebenen Weise in deutlich geringerem Umfang weiter. Damit konnte erstmals in einer großen Studie mit langen Nachbeobachtungszeiten gezeigt werden, dass eine Reduktion der Alkoholmenge auch bei eindeutig alkoholabhängigen Patienten über längere Zeit möglich ist, obwohl ursprünglich unter anderem auch ein Kontrollverlust als diagnostisches Kriterium vorgelegen hatte [42].

Eine zweite, ebenfalls von NIAAA geförderte Studie [5] untersuchte die Wirksamkeit von zwei rückfallprophylaktischen Arzneistoffen (Acamprosat und Naltrexon) gegen Plazebo in Kombination mit einer manualisierten „klinischen Beratung“ mit und ohne zusätzliche alkoholspezifische Psychotherapie (deutsche Übersetzung des Manuals: Brück und Mann 2006). In der COMBINE(Combined pharmacotherapies and behavioral interventions)-Studie zeigte sich ähnlich wie in der MATCH-Studie eine deutliche Verbesserung der Symptomatik, wobei erneut die große Mehrzahl der Patienten ihren Alkoholkonsum signifikant reduzierte, ohne jedoch vollständig abstinent zu werden.

Als dritte große, randomisierte Studie in diesem Zusammenhang ist der United Kingdom Alcohol Treatment Trial (UKATT) [1, 14] zu nennen. Hier wurde auf den Ansatz der MATCH-Studie zurückgegriffen und zwei Formen von Psychotherapie direkt miteinander verglichen. Als gleichrangige Therapieziele waren Abstinenz und eine Reduktion der Trinkmengen a priori festgelegt. Diese Studie ist insofern bedeutsam, als die Ein- und Ausschlusskriterien weniger streng formuliert waren als in der MATCH- und der COMBINE-Studie. Im UKATT konnten auch Patienten trotz psychiatrischer Begleitsymptomatik, zum Beispiel Depression oder Angststörungen, aufgenommen werden, selbst wenn diese medikamentös behandelt werden mussten. Erneut zeigte sich als wesentlichstes Ergebnis eine erhebliche Reduktion des Alkoholkonsums in beiden Therapiegruppen. Wiederum trug hierzu nur in geringem Umfang eine Gruppe von Patienten bei, die über längere Zeit durchgängig Abstinenz einhalten konnte [1]. Bei Betrachtung der reinen Abstinenzquoten war die Gruppe mit Abstinenzziel überlegen, nicht aber, wenn als Behandlungserfolg „Abstinenz“ und „Besserung“ zusammengefasst wurden (Tab. 1).

Tab. 1. Alkoholkonsum nach der Behandlung in Abhängigkeit vom Behandlungsziel zu Studienbeginn (Abstinenz/Reduktion) [mod. nach 1]

Follow-up

Behandlungsziel

Behandlungsergebnis

3 Monate

12 Monate

Abstinenz

abstinent

14,3%

21,2%

Reduktion

4,0%

10,0%

Abstinenz

unproblematischer Alkoholkonsum

7,4%

8,5%

Reduktion

8,6%

12,7%

Abstinenz

deutlich gebessert

11,4%

11,8%

Reduktion

14,6%

13,1%

Abstinenz

etwas gebessert

18,9%

12,4%

Reduktion

23,9%

23,9%

Abstinenz

unverändert

42,3%

39,2%

Reduktion

41,9%

31,7%

Abstinenz

verschlechtert

5,7%

6,9%

Reduktion

7,0%

8,5%

Fazit: Patienten erreichen am häufigsten das Behandlungsziel (Abstinenz oder Reduktion), das sie zu Behandlungsbeginn angegeben haben.

Bei der Bewertung der Ergebnisse ist zu beachten, dass die Patienten mit Abstinenzziel eine höhere Änderungsmotivation aufwiesen und deshalb die Ergebnisunterschiede der Gruppen mit Abstinenzziel versus Reduktionsziel auch durch die unterschiedlich ausgeprägte Änderungsbereitschaft bedingt sein könnten.

Erstmals legten die Autoren auch eine sehr differenzierte gesundheitsökonomische Analyse der Kosten-/Nutzenrelation vor. So konnten sie zeigen, dass für jedes für die Therapie eingesetzte Englische Pfund etwa 4 bis 5 Pfund an Nachfolgekosten gespart werden konnten [39].

Weitere internationale Studien sind noch in einem anderen Zusammenhang für die hier zu erörternde Frage des Therapieziels relevant. In ihnen wurde erfragt, welches Therapieziel die Patienten zu Beginn der Behandlung verfolgten und ob sich dieses zu einem späteren Zeitpunkt verändert hatte. Es ließen sich Einstellungsänderungen sowohl vom Therapieziel der Abstinenz hin zum reduzierten Konsum wie in geringerem Umfang auch umgekehrt nachweisen. Mit anderen Worten konnten Patienten, die zunächst mit dem Ziel einer Konsumreduktion in die Studie eintraten, durchaus später zu einem Abstinenzentschluss gelangen [14]. In der Gesamtschau der vorliegenden Studien zeigt sich, dass sich 10 bis 30% der Patienten, die mit dem Ziel einer Alkoholreduktion beginnen, am Ende der Behandlung für die Abstinenz entscheiden. Für diese Gruppe stellt der Reduktionsansatz also die Brücke zur Abstinenz dar [21].

Alle genannten Befunde sind im Zusammenhang mit der in diesem Artikel zentral behandelten Frage bedeutsam, wonach das bereits zu Therapiebeginn vorgegebene Ziel der lebenslangen Abstinenz für sehr viele Betroffene eine unüberwindliche Hürde darstellt und in beträchtlichem Umfang zu einem Nichtantreten von Therapien führt [4].

Arzneimittel zur Rückfallprophylaxe

Eine neue Dynamik in die Betrachtung der Therapieerfolge und Therapieziele trat mit der Erforschung der medikamentös gestützten Abstinenz ein. Basis sind Tiermodelle mit Stämmen von Nagetieren, die freiwillig große Mengen Alkohol konsumieren. Bei diesen Tieren wird geprüft, ob im Vergleich zu Plazebo-Gaben bestimmte Arzneistoffe zu einer Reduktion des freiwilligen Alkoholkonsums führen [38]. Dies konnte für eine Reihe von Wirkstoffen gezeigt werden. Von mehreren klinisch am Menschen geprüften Substanzen wurden der Opioid-Antagonist Naltrexon und der Glutamat-Modulator Acamprosat schließlich zur Verschreibung beim Menschen zugelassen. Bei den umfangreich durchgeführten Humanstudien wurde aufgrund der damaligen Auflagen der europäischen und nordamerikanischen Zulassungsbehörden erneut das primäre Therapieziel der absoluten Abstinenz verfolgt. Erst spätere Auswertungen ergaben, dass neben einem positiven Effekt im Sinne einer längerfristigen Abstinenzerhaltung auch eine Reduktion von Trinkmengen in den jeweiligen Therapiegruppen beobachtet werden konnte [9]. Vereinzelt wurden nun auch Studien geplant, bei denen zunächst keine Abstinenz durch eine Entgiftungsbehandlung vorliegen musste, sondern wo bei anhaltendem Alkoholkonsum ein Arzneimittel (z.B. Topiramat) gegen Plazebo getestet wurde. Auch hier zeigte sich eine signifikante Überlegenheit des Präparats in der Reduktion der Trinkmenge [15].

Reduktion des Alkoholkonsums als ergänzendes Therapieziel

Im Jahr 2010 veröffentlichte die European Medicines Agency (EMA) die „Richtlinie zur Entwicklung medizinischer Produkte für die Behandlung von Alkoholabhängigen“. Darin wurde neben der absoluten Abstinenz eine Reduktion des Alkoholkonsums als weiteres Therapieziel genannt. Damit sollte es möglich sein, zumindest vorübergehend auch bei Alkoholabhängigen eine Schadensminimierung (harm reduction) zu erreichen mit der Chance auf eine Stabilisierung, um letztendlich Abstinenz zu einem späteren Zeitpunkt zu erzielen. Aufbauend auf den Risikokategorien der WHO (2000; Tab. 2) wurde die Verbesserung in weniger risikoreiche Trinkmuster als valides Therapie- und damit Studienziel benannt. Damit ging die EMA deutlich über die bisherige Praxis der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) hinaus.

Tab. 2. EMA-Leitlinien zur Entwicklung von Arzneimitteln für die Behandlung der Alkoholabhängigkeit (Risikokategorien der WHO 2000)

Männer

Frauen

WHO-Kriterien bei täglichem Alkoholkonsum in Bezug auf akute Probleme

Niedriges Risiko

1–40 g

1–20 g

Mittleres Risiko

41–60 g

21–40 g

Hohes Risiko

61–100 g

41–60 g

Sehr hohes Risiko

>100 g

>60 g

WHO-Kriterien bei täglichem Alkoholkonsum in Bezug auf chronische Schäden

Niedriges Risiko

1–40 g

1–20 g

Mittleres Risiko

41–60 g

21–40 g

Hohes Risiko

>60 g

>40 g

Prospektive Studien zur Reduktion des Alkoholkonsums

Von 2008 bis 2011 wurden in Europa drei doppelblinde, randomisierte Phase-III-Studien mit dem Ziel der Trinkmengenreduktion bei Alkoholabhängigen durchgeführt. Sie werden in einem separaten Artikel dieses Heftes der Psychopharmakotherapie ausführlich behandelt [28]. Hauptziel von Studie 1 und 2 war die Evaluierung der Wirksamkeit von Nalmefen vs. Plazebo zur Reduzierung der schweren Trinktage pro Monat (heavy drinking days; HDD) sowie des monatlichen Gesamtalkoholkonsums (total alcohol consumption, TAC) über einen Zeitraum von 24 Wochen bei alkoholabhängigen Patienten. Begleitend zur pharmakologischen Behandlung erfolgten alkoholbezogene Gespräche (psychosoziale Intervention). Es zeigten sich – vermutlich bedingt durch psychosoziale Intervention und ausführliche diagnostische Erhebungen des Alkoholkonsums und darauf aufbauend auf einer Einstellungsänderung bei den Patienten – erhebliche Reduktionen der Trinkmengen in beiden Gruppen. Zusätzlich ließ sich ein signifikanter Add-on-Effekt von Nalmefen gegenüber Plazebo nachweisen, und zwar sowohl in den Angaben der Patienten als auch im Fremdrating und den Leberenzymen. Unerwünschte Ereignisse (im Allgemeinen vorübergehend, meist leicht oder mäßig) traten in der ersten Studie signifikant häufiger mit Nalmefen auf als mit Plazebo [26]. In der zweiten Studie war dies nicht der Fall [13].

Bedarfsmedikation zur Reduktion des Alkoholkonsums

Vor dem Hintergrund dieser neuesten Entwicklungen und auf der Basis weitergehender Studien mit entsprechenden Tiermodellen wurde eine intermittierende Einnahme eines Anti-Cravingmittels vorgeschlagen („Pill in the pocket“) [34]. Dieser Ansatz wurde bisher in kleinen Studien mit dem Opioid-Antagonisten Naltrexon getestet [22, 23] mit inkonsistenten Ergebnissen. Dagegen konnte in einer größeren finnischen Studie gezeigt werden, dass unter der Gabe von Nalmefen im Vergleich zu Plazebo tatsächlich signifikante Trinkmengenreduktionen zu erzielen sind [16]. Auf dieser Basis wurden die oben bereits referierten Studien mit Nalmefen vs. Plazebo bei dem Therapieziel Trinkreduktion durchgeführt. Mit jeweils 600 bis 700 Patienten (insgesamt knapp 2000 Patienten) konnte in allen drei Studien übereinstimmend gezeigt werden, dass die Medikation „bei Bedarf“ von den Patienten angenommen wird und zu signifikanten Verbesserungen im Vergleich mit Plazebo führt [26].

Fazit

Die geschilderte Datenlage spricht dafür, dass eine Trinkmengenreduktion für Alkoholabhängige ein sinnvolles und erreichbares Therapieziel ist. Es kann die vollständige Abstinenz in bestimmten Gruppen und zu bestimmten Zeiten in der Entwicklung der Abhängigkeit sowie bei der Entstehung negativer Konsequenzen des Trinkens ergänzen und damit die Tür zur Behandlung für mehr Patienten öffnen und Fehlplatzierungen von Patienten vermeiden helfen.

Interessenkonflikterklärung

KM hat Honorare von der Firma Lundbeck erhalten. Eine Einrichtung, für die er tätig ist, hat Gelder von der Firma Lundbeck erhalten.

JK hat Honorare von der Firma Lundbeck erhalten.

Literatur

1. Adamson SJ, Heather N, Morton V, Raistrick D. Initial preference for drinking goal in the treatment of alcohol problems: II. Treatment outcomes. Alcohol Alcohol 2010;45:136–42.

2. Alcoholics Anonymous (1939). Twelve steps and twelve traditions. New York: Alcoholics Anonymous World Services, 1992.

3. Al-Otaiba Z, Worden BL, McCrady BS, Epstein EE. Accounting for self-selected drinking goals in the assessment of treatment outcome. Psychol Addict Behav 2008;22:439–43.

4. Ambrogne JA. Reduced-risk drinking as a treatment goal: what clinicians need to know. J Subst Abuse Treat 2002;22:45–53.

5. Anton RF, O’Malley SS, Ciraulo DA, Cisler RA, et al. Combined pharmacotherapies and behavioral interventions for alcohol dependence: the COMBINE study: a randomized controlled trial. JAMA 2006;295:2003–17.

6. Apodaca TR, Miller WR. A meta-analysis of the effectiveness of bibliotherapy for alcohol problems. J Clin Psychol 2003;59:289–304.

7. Babor TF, Del Boca FK (Hrsg.). Treatment matching in alcoholism. Cambridge: Cambridge University Press, 2010.

8. Brueck R, Mann K. Alkoholismusspezifische Psychotherapie. Köln: Dt. Ärzte-Verlag, 2007.

9. Chick J, Lehert P, Landron F. Does acamprosate improve reduction of drinking as well as aiding abstinence? J Psychopharmacol 2003;17:397–402.

10. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (Hrsg.). Jahrbuch Sucht 2013. Lengerich: Pabst, 2013.

11. Edwards G (Hrsg.). Alcohol the world’s favorite drug. New York: Thomas Dunn Books, St. Martin’s Press, 2002.

12. Feuerlein W, Kufner H. A prospective multicentre study of in-patient treatment for alcoholics: 18- and 48-month follow-up (Munich evaluation for alcoholism treatment, MEAT). Eur Arch Psychiatry Neurol Sci 1989;239:144–57.

13. Gual A, He Y, Torup L, van den Brink W, et al. A randomised, double-blind, placebo-controlled, efficacy study of nalmefene, as-needed use, in patients with alcohol dependence. Eur Neuropsychopharmacol 2013.

14. Heather N, Adamson SJ, Raistrick D, Slegg GP. Initial preference for drinking goal in the treatment of alcohol problems: I. Baseline differences between abstinence and non-abstinence groups. Alcohol Alcohol 2010;45:128–35.

15. Johnson BA, Rosenthal N, Capece JA, Wiegand F, et al. Topiramate for treating alcohol dependence: a randomized controlled trial. JAMA 2007;298:1641–51.

16. Karhuvaara S, Simojoki K, Virta A, Rosberg M, et al. Targeted nalmefene with simple medical management in the treatment of heavy drinkers: a randomized double-blind placebo-controlled multicenter study. Alcohol Clin Exp Res 2007;31:1179–87.

17. Galanter M, Kaskutas L (Hrsg.). Recent developments in alcoholism. Vol.18: Research on alcoholics anonymous and spirituality in addiction recovery. New York: Springer US, 2008.

18. Korkel J. [Controlled drinking in persons with alcohol abuse or dependence – pro]. Kontrolliertes Trinken bei Personen mit alkoholbezogenen Störungen (Missbrauch, Abhängigkeit) – pro. Dtsch Med Wochenschr 2009;134:2410.

19. Körkel J. Kontrolliertes Trinken: Eine Übersicht. Suchttherapie 2002;3:87–96.

20. Körkel J. Kontrolliertes Trinken: Wissenschaftliche Fakten versus Mystizismen. In: Wassenberg K, Schaller S (Hrsg.). Der Geist der Deutschen Mäßigkeitsbewegung. Debatten um Alkohol und Trinken in Vergangenheit und Gegenwart. Halle: Mitteldeutscher Verlag, 2010:166–79.

21. Körkel J. Wenn Alkohol das Problem ist, Abstinenz aber nicht die Lösung: Kontrolliertes Trinken als Behandlungsoption. In: Schmidt-Semisch H, Stöver H (Hrsg.). Saufen mit Sinn? Harm Reduction und Alkoholkonsum. Frankfurt: Fachhochschulverlag, 2012.

22. Kranzler HR, Armeli S, Tennen H, Blomqvist O, et al. Targeted naltrexone for early problem drinkers. J Clin Psychopharmacol 2003;23:294–304.

23. Kranzler HR, Tennen H, Armeli S, Chan G, et al. Targeted naltrexone for problem drinkers. J Clin Psychopharmacol 2009;29:350–7.

24. Leune J. Versorgung abhängigkeitskranker Menschen in Deutschland. In: DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (Hrsg.). Jahrbuch Sucht 2013. Lengerich: Pabst, 2013.

25. Lim SS, Vos T, Flaxman AD, Danaei G, et al. A comparative risk assessment of burden of disease and injury attributable to 67 risk factors and risk factor clusters in 21 regions, 1990–2010: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2010. Lancet 2012;380:2224–60.

26. Mann K, Bladstrom A, Torup L, Gual A, et al. Extending the treatment options in alcohol dependence: a randomized controlled study of as-needed nalmefene. Biol Psychiatry 2013;73:706–13.

27. Mann K. [Controlled drinking in persons with alcohol abuse or dependence – contra]. Kontrolliertes Trinken bei Personen mit alkoholbezogenen Störungen (Missbrauch, Abhängigkeit) – contra. Dtsch Med Wochenschr 2009;134:2411.

28. Mann K. Trinkmengenreduktion bei Alkoholabhängigen? Ergebnisse neuer Phase-III-Studien mit dem Opioidmodulator Nalmefen. Psychopharmakotherapie: eingereicht.

29. Matching Alcoholism Treatments to Client Heterogeneity: Project MATCH posttreatment drinking outcomes. J Stud Alcohol 1997;58:7–29.

30. Project MATCH (Matching alcoholism treatment to client heterogeneity): rationale and methods for a multisite clinical trial matching patients to alcoholism treatment. Alcohol Clin Exp Res 1993;17:1130–45.

31. Rehm J, Shield KD, Gmel G, Rehm MX, et al. Modeling the impact of alcohol dependence on mortality burden and the effect of available treatment interventions in the European Union. Eur Neuropsychopharmacol 2013;23:89–97.

32. Saladin M, Santa Ana E. Controlled drinking: More than just a controversy. Curr Opin Psychiatry 2004;17:175–87.

33. Sieber M. Kontrolliertes Trinken nach stationärer Behandlung. Ergebnisse aus den Katamnesen der Forel Klinik. Bulletin der Forel Klinik 2000:45–50.

34. Sinclair JD. Drugs to decrease alcohol drinking. Ann Med 1990;22:357–62.

35. Sobell MB, Sobell LC. Alcoholics treated by individualized behavior therapy: one year treatment outcome. Behav Res Ther 1973;11:599–618.

36. Sobell MB, Sobell LC. Controlled drinking after 25 years: how important was the great debate? Addiction 1995;90:1149–53; discussion 57–77.

37. Sobell MB, Sobell LC. Second year treatment outcome of alcoholics treated by individualized behavior therapy: results. Behav Res Ther 1976;14:195–215.

38. Spanagel R, Mann K. Drugs for relapse prevention of alcoholism. Berlin: Birkhäuser Verlag, 2005.

39. UKATT Research Team. Cost effectiveness of treatment for alcohol problems: findings of the randomised UK alcohol treatment trial (UKATT). BMJ 2005;331:544.

40. Walters G. Behavioral self-control training for problem drinkers: A meta-analysis of randomized control studies. Behav Ther 2000;31:135–49.

41. Watzl H, Singer M. Kulturgeschichte des Alkohols. In: Singer M, Batra A, Mann K (Hrsg.). Alkohol und Tabak Grundlagen und Folgeerkrankungen. Stuttgart: Thieme Verlag, 2011:3–12.

42. Witkiewitz K. Lapses following alcohol treatment: modeling the falls from the wagon. J Stud Alcohol Drugs 2008;69:594–604.

Prof. Dr. Karl Mann, Lehrstuhl für Suchtforschung, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, J5, 68159 Mannheim, E-Mail: sucht@zi-mannheim.de

Prof. Dr. Joachim Körkel, Evangelische Hochschule Nürnberg, Institut für innovative Suchtbehandlung und Suchtforschung (ISS), Bärenschanzstraße 4, 90429 Nürnberg. E-Mail: joachim.koerkel@evhn.de

Reducing alcohol consumption: a complementary goal in the treatment of alcoholism

Traditionally abstinence is the prevailing if not only goal in the treatment of alcohol dependent patients in Germany. While this approach is successful for patients who undergo a four month residential treatment, many other patients are turned away by the requirement to subscribe to the goal of total abstinence prior to being admitted. This could explain that less than 10percent of alcohol dependent patients receive specialized alcoholism treatment in Germany. International studies both in behavioral self-control and in pharmacotherapy show that in addition to abstinence a reduction of alcohol consumption can be a valuable goal which has been adopted in many countries. Recently the European Medicines Agency (EMA) adopted this approach and approved nalmefene as a new medication to reduce alcohol consumption in alcohol dependent patients. This may open the door to finally introduce a harm reduction strategy in alcoholism treatment such as we have seen it since more than a decade with patients being dependent on illegal drugs.

Key words: Alcohol dependence, goal of treatment, harm reduction, controlled drinking, pharmacological treatment

Psychopharmakotherapie 2013; 20(05)