„Soft Signs“ in der Pathogenese der MS

Stress lässt die Krankheitsaktivität ansteigen


Dr. Alexander Kretzschmar, München

Epidemiologische und neuroanatomische Daten sowie klinische Erfahrungen zeigen, dass sich Stress negativ auf das Gehirn von Patienten mit multipler Sklerose (MS) auswirkt. Mentaler Stress kann sogar dazu führen, dass die Krankheitsaktivität so stark ansteigt, dass der Patient einen neuen klinischen Schub erleidet.

Die MS ist eine demyelinisierende Erkrankung, die mit einer deutlichen Verlangsamung der Informationsverarbeitung einhergeht. Bei einigen Patienten sind bereits im RIS- (radiologisch isoliertes Ereignis) oder CIS-Stadium (klinisch isoliertes Ereignis) klinisch relevante kognitive Defizite nachweisbar [1]. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, ihre Aufgaben im Beruf, Haushalt und in der Koordination mit sozialen Aktivitäten zu bewältigen. Zudem sind MS-Patienten häufiger in Verkehrsunfälle verwickelt [2].

Diese Patienten sind besonders vulnerabel gegenüber Faktoren, die zur Entstehung von Stress beitragen und/oder ihn verstärken. Dazu gehören hoher Zeit- und Termindruck, Erschöpfung und depressive Episoden. In der täglichen Praxis werden diese Zusammenhänge kaum thematisiert. Dieses Problem ist Teil der unterschiedlichen Gewichtung physischer, psychischer und kognitiver Symptome der MS von Arzt und Patient [3]. Während Ärzte vor allem die physischen Symptome und Rollenerfüllung berücksichtigen, beurteilen die Patienten ihren Zustand bevorzugt nach ihrer kognitiven Fitness, der emotionalen Rollenerfüllung und allgemeinen Situation (Abb. 1). Wünschenswert wäre daher die verstärkte Vermittlung von Praktiken zur Stressvermeidung.

Abb. 1. Häufigkeit, mit welcher der jeweilige gesundheitsbezogene Lebensqualitätsbereich von Ärzten bzw. Patienten zu den drei wichtigsten Determinanten für die Gesamtlebensqualität gezählt wurde [3]

Negativer Prognosefaktor mit hoher Effektstärke

Die klinische Evidenz, dass Stress die Schubaktivität beeinflusst, ist heute durch zahlreiche Studien gesichert. Eine Metaanalyse von 14 Studien durch drei unabhängige Wissenschaftler ergab eine signifikante Korrelation zwischen Stressereignissen und einer Exazerbation der Krankheitsaktivität (p<0,0001) [4]. Die Autoren schätzten die negativen Auswirkungen von Stress insgesamt in der gleichen Größenordnung wie die positiven Effekte der medikamentösen Basistherapien.

Trotz dieser klaren Assoziation bleiben noch einige Fragen offen. Zwar finden sich relevante Stressoren gehäuft etwa 4 bis 6 Wochen vor einem neuen Schub oder neuen Gadolinium(Gd)-aufnehmenden T1-Läsionen, trotzdem ist es derzeit noch nicht möglich, im individuellen Fall Stressereignisse als Auslöser einer klinischen Verschlechterung sicher zuzuordnen. Entscheidend für die negative Wirkung von Stress ist offenbar, wie ihn die Betroffenen erleben und damit umgehen. Dementsprechend existieren auch zu den neuroendokrinen Mechanismen unterschiedliche Denkmodelle. Danach führen einerseits chronisch erhöhte Cortisolwerte zu einer verminderten Sensitivität der Immunzellen. Eine andere Hypothese favorisiert eine pulsatile Cortisolfreisetzung in der Post-Stress-Phase.

Inzwischen liegen klare neuroanatomische Belege für multiple unerwünschte Effekte von chronischem Stress bei MS-Patienten vor. Auf Neuronen im präfrontalen Kortex und im Hippocampus wurde eine Abnahme der Dendritenzahl beobachtet, während sie in der Amygdala und im orbitofrontalen Kortex ansteigt. Gleichzeitig wurden im Hippocampus deutliche Anzeichen von Demyelinisierungen und der Verlust von Synapsen nachgewiesen.

Pharmakotherapeutische Optionen

Angesichts der engen Assoziationen zwischen Stress, Kognitionsleistung und Krankheitsaktivität werden gezielte (nicht)medikamentöse Interventionen umso wichtiger. Auf dem ECTRIMS (European committee for treatment and research in multiple sclerosis) 2012 wurden hierzu die Ergebnisse der COGIMUS-Studie (Cognitive impairment in multiple sclerosis) vorgestellt. Sie zeigen dass die Kognitionsleistung der Studienteilnehmer nach fünf Jahren unter der Therapie mit Interferon beta-1a 3×44 µg/Woche (Rebif®) besser war als unter der niedrigeren Dosis von 3×22 µg/Woche [5].

Es schienen auch mehr Männer ein kognitives Defizit aufzuweisen als Frauen (26,5% vs. 14,4%; p=0,045).

Im Gegensatz dazu gibt es nur wenig andere aussichtsreiche pharmakotherapeutische Optionen. Cholinesteraseinhibitoren sind kaum wirksam, ebenso Memantin [6–9]. Positive Studiendaten mit begrenzter Effektstärke liegen zu L-Amphetaminsulfat und Modafinil (cave: Abhängigkeitsphänomene), bedingt auch für Amantadin vor [10–12].

Quelle

Meet-the-Expert und Symposium „Adhärenz beginnt im Kopf: Psychische Faktoren in der MS Therapie“, Berlin, 1. bis 2. Februar 2013, veranstaltet von MerckSerono.

Literatur

1. Glanz BI, et al. Cognitive dysfunction in patients with clinically isolated syndromes or newly diagnosed multiple sclerosis. Mult Scler 2007;13:1004–10.

2. Rao SM, et al. Cognitive dysfunction in multiple sclerosis. II. Impact on employment and social functioning. Neurology 1991;41:692–6.

3. Rothwell PM, et al. Doctors and patients don’t agree: cross sectional study of patients’ and doctors’ perceptions and assessments of disability in multiple sclerosis. BMJ 1997;314:1580–3.

4. Mohr DC, et al. Association between stressful life events and exacerbation in multiple sclerosis: a meta-analysis. BMJ 2004;328:731.

5. Patti F, et al. Five years impact of subcutaneous interferon-beta-1a on cognitive impairment in mildly disabled patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: the COGIMUS study group ECTRIMS 2012, Abstract P984.

6. Mäurer M, et al. Mult Scler 2012 Oct 15. [Epub ahead of print].

7. Krupp LB, et al. Multicenter randomized clinical trial of donepezil for memory impairment in multiple sclerosis. Neurology 2011;76:1500–7.

8. Villoslada F, et al. Memantine induces reversible neurologic impairment in patients with MS. Neurology 2009;72:1630–3.

9. He D, et al. Pharmacologic treatment for memory disorder in multiple sclerosis. Cochrane Database Syst Rev 2011;(10):CD008876.

10. Morrow SA, et al. The effects of L-amphetamine sulfate on cognition in MS patients: results of a randomized controlled trial. J Neurol 2009;256:1095–102.

11. Harel Y, et al. Single dose of methylphenidate improves cognitive performance in multiple sclerosis patients with impaired attention process. J Neurol Sci 2009;276:38–40.

12. Sailer M, et al. Amantadine influences cognitive processing in patients with multiple sclerosis. Pharmacopsychiatry 2000;33:28–37.

Psychopharmakotherapie 2013; 20(04)