Psychopharmaka: Neues entwickeln, Einsatz des Verfügbaren optimieren


Prof. Dr. Jürgen Fritze, Pulheim

Im British Journal of Psychiatry ging 2012 die Debatte über die „Identitätskrise der Psychiatrie“ weiter. Teil der Krise ist, dass auch im zurückliegenden Jahr keine neuen psychotropen Wirkstoffe zugelassen wurden. Auch in der deutschen Debatte wird der Nutzen der Psychopharmakotherapie im Vergleich zur psychosozialen Behandlung relativiert, obwohl – und bei konträrem Interesse weil – die Nachfrage (Verordnung) weiter steigt. Tatsächlich stagniert der pharmakotherapeutische Fortschritt. So wünschenswert die vom Gesetzgeber vorgegebenen Kriterien des Patientennutzens – Verbesserung des Gesundheitszustands, Verkürzung der Krankheitsdauer, Verlängerung der Lebensdauer, Verringerung der Nebenwirkungen, Verbesserung der Lebensqualität – sind, so schwierig sind gerade in der Psychopharmakologie mit diesen Kriterien bedeutsame Fortschritte zu erzielen. Denn sie gründet unverändert im Wesentlichen auf zufälligen Entdeckungen. Entdeckungen brauchen Chancen. Die können gerade in der Psychopharmakologie im – zu Lasten der GKV grundsätzlich unzulässigen – Off-Label-Use liegen. So bietet vielleicht der Off-Label-Use von Ketamin mehr als eine Schrittinnovation in der Depressionsbehandlung (Murrough et al., Biol Psychiatry 2012, http://dx.doi.org/10.1016/j.biopsych.2012.06.022). Bis dahin ist der Einsatz der verfügbaren Wirkstoffe weiter zu optimieren. Dazu leisten die Artikel dieses Heftes bedeutsame Beiträge:

Opioidabhängigkeit und Polytoxikomanie erhöht für Frauen das Risiko ungewollter Schwangerschaft, die häufig erst spät erkannt wird, wobei die Abhängigkeit möglicherweise zu verheimlichen versucht wird. Die Schwangerschaften abhängiger Frauen sind Hochrisikoschwangerschaften einschließlich bleibender Schäden des Kindes. Folglich ist es für den Arzt essenziell, die diagnostischen Verfahren und die spezifische Toxikologie zu kennen, um die Frauen angemessen beraten und frühzeitig entsprechend spezialisierten Zentren zuführen zu können. Der Psychiater muss den Gynäkologen detailliert beraten können. Bei Opiatabhängigkeit ist Substitutionstherapie zwingend. Die Therapie der häufigen psychischen und somatischen Komorbiditäten richtet sich nach den teratogenen Risiken. Valproinsäure muss vermieden werden, und Lithium gilt nicht mehr als kontraindiziert. Hoell und Havemann-Reinecke geben in zwei Beiträgen eine umfassende, praxisnahe Übersicht.

Steinmann et al. präsentieren die Ergebnisse zweier nichtinterventioneller Studien mit Schwerpunkt auf Lebensqualität und subjektives Wohlbefinden unter Flupentixoldecanoat. Da ein Großteil der Patienten vor Umstellung auf Flupentixoldecanoat mit einem Antipsychotikum der zweiten Generation behandelt worden waren, erscheint die Besserung des Wohlbefindens unter Flupentixoldecanoat beachtlich.

Baumann und Trégouët greifen den Fall einer Depression eines gastrektomierten Patienten auf, um eine gründliche Übersicht über die Bedeutung restriktiver gastrointestinaler Eingriffe für die Pharmakokinetik von Psychopharmaka zu geben. Mit ungebremster Zunahme des Übergewichts, wovon psychisch kranke Menschen in besonderem Maße betroffen sind, steigen auch die bariatrisch-chirurgischen Eingriffe – also ein hochrelevantes Thema mit großem Forschungsbedarf.

Petri leitet am Beispiel der schwachpotenten Neuroleptika eine Serie zum Thema pharmakokinetische Interaktionen ein. In Übersichtstabellen wird praxisnah vermittelt, welche Kombinationspaare zu klinisch relevanten, CYP-vermittelten Wechselwirkungen führen können und daher einer besonderen Überwachung, des therapeutischen Drug-Monitorings (TDM) gegebenenfalls mit Dosisanpassung oder therapeutischer Alternativen bedürfen, wozu die Tabellen Vorschläge anbieten. Grundlage der Tabellen ist die Datenbank „mediQ“ (www.mediq.ch); die Tabellen erleichtern den Umgang mit elektronischen Interaktionsdatenbanken.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch die Kurzberichte, unter anderem zu folgenden Themen: Die erhöhte Mortalität von Demenzkranken unter Antipsychotika ist gegen das Rezidivrisiko – hier nach Absetzen von Risperidon – abzuwägen. Für Vortioxetin (Lu AA21004), ein Antidepressivum mit komplexer Pharmakodynamik („Serotonin-Modulator und -Stimulator“), ist bei FDA und EMA im Herbst 2012 ein Zulassungsantrag gestellt worden; die Ergebnisse einer der Zulassungsstudien werden referiert. Bei diabetischer Polyneuropathie ist die Kombination von Duloxetin mit Pregabalin nicht wirksamer als die Fortführung der Monotherapie in doppelter Dosis. Die Plazebo-kontrollierte Studie zur Wirksamkeit von Citicolin (CDP-Cholin) bei ischämischem Schlaganfall musste wegen Unwirksamkeit vorzeitig abgebrochen werden. Bei Status epilepticus ist Midazolam intramuskulär mindestens ebenso wirksam wie Lorazepam intravenös, was aber Off-Label-Use darstellt. Die nichtinterventionelle VITOBA(Vimpat added to one baseline AED)-Studie bietet Hinweise, wie bei unzureichender Wirkung der antikonvulsiven Monotherapie zu verfahren ist.

Psychopharmakotherapie 2013; 20(01)