Priv.-Doz. Dr. Dieter Angersbach, Wolfratshausen
Schlafstörungen treten bei Depression häufig auf und äußern sich in Einschlafstörungen und wiederholten intermittierenden Wachphasen. Charakteristisch ist zudem eine verringerte REM-Latenz und ein reduzierter Tiefschlaf („slow wave sleep“). Viele Antidepressiva, insbesondere selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), haben keine unmittelbar Schlaf fördernde Wirkung und verbessern den Schlaf eher zeitlich verzögert über ihre antidepressive Wirksamkeit. Ergebnisse von Untersuchungen an gesunden Probanden, aber auch an depressiven Patienten, sprechen dafür, dass Agomelatin eine intrinsische Schlaf fördernde Wirkung hat. Agomelatin wirkt als Agonist an melatonergen MT1- und MT2-Rezeptoren sowie als Antagonist an 5-HT2C-Rezeptoren. Die Blockade des 5-HT2C-Rezeptors führt zu einer vermehrten Ausschüttung von Dopamin und Noradrenalin in einigen Gehirnregionen, während die Stimulation der Melatoninrezeptoren den Schlaf und die zirkadiane Rhythmik beeinflusst.
In der vorliegenden Studie sollten in erster Linie die Effekte von Agomelatin auf Schlaf- und Wachparameter mit denen des SSRI Escitalopram bei depressiven Patienten verglichen werden. Sekundäres Studienziel war ein Vergleich der antidepressiven Wirksamkeit beider Substanzen.
Die Studie wurde von Mai 2007 bis Oktober 2008 in 24 Schlafzentren aus 8 Ländern (Australien, Brasilien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Österreich, Spanien und Taiwan) durchgeführt.
Studiendesign
Eingeschlossen wurden männliche und weibliche Patienten im Alter von 18 bis 60 Jahren mit der Diagnose einer Major Depression nach DSM-IV, ohne saisonales Muster, ohne psychotische oder katatone Merkmale und mit einem Score von wenigstens 22 auf der Hamilton Depression Rating Scale, 17-Item-Version (HAMD-17). Schlafstörungen mussten nicht vorliegen. Ausschlusskriterien waren unter anderen ein deutliches Suizidrisiko, Therapieresistenz, Elektrokrampftherapie während der gegenwärtigen Episode und Schlafentzug oder Lichttherapie während der letzten zwei Wochen vor dem Einschluss. Psychotrope Substanzen mussten abgesetzt und ausgewaschen werden. Schlafmittel waren nicht erlaubt. Schichtarbeiter oder Patienten, die kürzlich einen Langstreckenflug unternommen hatten, wurden nicht aufgenommen.
Die Patienten wurden nach einer 10-tägigen Run-in-Periode randomisiert auf die beiden Behandlungsarme verteilt und während der ersten beiden Wochen entweder mit 25 mg/Tag Agomelatin oder 10 mg/Tag Escitalopram behandelt. Danach konnte die Dosis in Abhängigkeit von Wirksamkeit und Verträglichkeit auf 50 mg/Tag Agomelatin bzw. 20 mg/Tag Escitalopram gesteigert werden. Die Studienmedikation wurde verkapselt täglich gegen 20 Uhr eingenommen. Patienten, die nach sechs Wochen auf der Clinical Global Impression Scale, Teil „Zustandsänderung“ (CGI-I), einen Score von 4 (Zustand unverändert) oder darüber (etwas schlechter bis sehr viel schlechter) aufwiesen, wurden nicht in die Verlängerungsphase aufgenommen.
Die Schwere der Depression wurde bei der Rekrutierung sowie bei Einschluss, dann alle zwei Wochen bis Woche 6 und danach alle vier Wochen bis Woche 24 mit dem HAMD-17 beurteilt.
Polysomnographische Aufzeichnungen wurden in der Run-in-Periode und in den Wochen 2, 6 und 24 durchgeführt. Dabei wurden folgende Parameter erfasst:
- Schlaflatenz (Zeit vom Ausschalten des Lichts bis zum Einschlafen)
- Gesamtschlafzeit (Zeit vom Einschlafen bis zum endgültigen Aufwachen abzüglich dazwischen liegender Wachzeiten)
- Schlafeffizienz-Index (gesamte Schlafzeit/Zeit im Bett × 100)
- REM-Latenz (Zeit vom Einschlafen bis zum ersten REM-Schlaf)
- Anzahl und Dauer der Schlafzyklen
- Tiefschlafzeit („slow wave sleep“)
Am Morgen nach der Polysomnographie wurden Vigilanztests vorgenommen (mittlere Reaktionszeit, Mittel der langsamsten Reaktionszeiten, Anzahl der Fehler). Weiterhin konnten die Patienten auf visuellen Analogskalen ihren Wachheitsgrad (schläfrig bis hellwach) und Funktionszustand (verwirrt bis klar denkend) beurteilen.
Die Sicherheit der Behandlung wurde anhand der berichteten unerwünschten Ereignisse, einiger Vitalparameter (z.B. Herzfrequenz, Blutdruck, Elektrokardiogramm) und von Laboruntersuchungen bewertet.
Ergebnisse
Patienten. Insgesamt wurden 138 Patienten randomisiert (Agomelatin: n=71; Escitalopram: n=67). Innerhalb der ersten sechs Wochen brachen 9% der mit Agomelatin und 12% der mit Escitalopram behandelten Patienten die Therapie ab; wegen unerwünschter Ereignisse taten dies 3 bzw. 8% der Patienten. In die Verlängerungsphase der Studie gelangten 58 Patienten aus der Agomelatin-Gruppe (81,7%) und 54 Patienten aus der Escitalopram-Gruppe (80,6%).
Wirksamkeit. Unter Agomelatin, nicht aber unter Escitalopram, verkürzte sich ab Woche 2 die Schlaflatenz. Die mittlere Differenz zwischen den Behandlungsgruppen lag zu diesem Zeitpunkt bei 19 Minuten (p<0,001) und blieb bis zum Studienende in Woche 24 signifikant (Abb. 1).
Abb. 1. Schlaflatenz nach 2, 6, und 24 Behandlungswochen
Die Gesamtschlafzeit war unter Agomelatin ab Woche 2 erhöht und unter Escitalopram verringert; die Differenz war jedoch ab Woche 6 nicht mehr statistisch signifikant. Ebenso war die Schlafeffizienz in Woche 2 unter Agomelatin erhöht und unter Escitalopram erniedrigt (p=0,012). Die Anzahl der Schlafzyklen blieb unter Agomelatin erhalten (n=4) und war unter Escitalopram bis zum Studienende verringert (p-Wert für den Vergleich Agomelatin/Escitalopram in den Wochen 2, 6 und 24: jeweils <0,0001). Verglichen mit Agomelatin hemmte Escitalopram den REM-Schlaf und verlängerte die REM-Latenz an allen drei Messpunkten signifikant (p<0,0001, p<0,0001, p<0,001). Während unter Agomelatin die Dauer des Tiefschlafs erhalten blieb, war sie unter Escitalopram verkürzt; die Unterschiede waren allerdings nur in Woche 6 statistisch signifikant (p=0,023).
In den Vigilanztests zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Gruppen. Dagegen fühlten sich die Agomelatin-Patienten wacher (Woche 6 und 24: p=0,005) und gedanklich klarer (Woche 3: p=0,003) als bei Einschluss, während in der Escitalopram-Gruppe keine Änderungen berichtet wurden.
Die antidepressive Wirksamkeit beider Behandlungen war vergleichbar. Der mittlere HAMD-17-Gesamtscore, der bei Einschluss 26,1±2,3 (Agomelatin) bzw. 26,0±2,9 Punkte (Escitalopram) betrug, sank bis Woche 24 um 9,2±7,8 bzw. um 9,8±7,6 Punkte.
Verträglichkeit. Wenigstens ein unerwünschtes Ereignis berichteten 66,2% der Agomelatin-Patienten und 81,8% der Escitalopram-Patienten (p=0,038). Die häufigsten unerwünschten Ereignisse in beiden Behandlungsgruppen waren Kopfschmerz (14,1 vs. 25,8%), Erkältung (11,3 vs. 16,7%) und Übelkeit (9,9 vs. 15,2%). Relevante Änderungen der Labor- und Vitalparameter traten in keiner der beiden Gruppen auf.
Diskussion
Die Autoren führen die unterschiedlichen Auswirkungen der beiden Antidepressiva auf Schlaf- und Wachparameter der Patienten auf die Unterschiede in den Wirkungsmechanismen zurück.
Kommentar
Die Autoren weisen darauf hin, dass die für eine Depression typischen EEG-Veränderungen bei diesem Patientenkollektiv nicht gefunden wurden. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass Schlafstörungen kein Selektionskriterium waren. Die Patienten hatten also insgesamt ein normales Schlafprofil, das – dafür sprechen die Daten – durch Escitalopram (und weniger durch Agomelatin) verändert wurde. Die Effekte von Agomelatin auf Schlafparameter sind in dieser Untersuchung schwer abzuschätzen, da eine Plazebo-Kontrolle fehlt. Dasselbe gilt für die hier berichtete antidepressive Wirksamkeit beider Substanzen.
Quelle
Quera-Salva M-A, et al. Comparison of agomelatine and escitalopram on nighttime sleep and daytime condition and efficacy in major depressive disorder patients. Int Clin Psychopharmacol 2011;26:252–62.
Psychopharmakotherapie 2012; 19(06)