Verordnungsmuster psychotroper Medikamente in der stationären Psychiatrie


Analyse der AGATE-Stichtagserhebungen 2008 bis 2010. Teil 1: Überblick

Kerstin Sander und Gerd Laux, Wasserburg a. Inn, Ernst Schiller, Bad Abbach, Markus Wittmann, Deggendorf, und Ekkehard Haen, Regensburg, für die AGATE*

Einleitung: Kenntnisse über die Verordnung von Medikamenten sind für die Pharmakovigilanz und damit für die Qualität der Arzneimitteltherapiesicherheit grundlegend. Während die ambulanten Arzneimittelverordnungen der gesetzlichen Krankenversicherung jährlich im Arzneiverordnungsreport berichtet werden, fehlt ein solcher Überblick für die stationäre Gesundheitsversorgung. Für die stationäre psychiatrische Versorgung erlaubt das bayerische Pharmakovigilanzsystem „Arbeitsgemeinschaft Arzneimitteltherapie bei psychiatrischen Erkrankungen“ (AGATE) eine Analyse des medikamentösen Verordnungsverhaltens der an der AGATE beteiligten Kliniken. Methode: Das medikamentöse Verordnungsverhalten wird an zwei Stichtagen im Jahr erhoben und Diagnose-spezifisch dokumentiert. Die sechs Stichtage der Jahre 2008 bis 2010 wurden für die Analyse berücksichtigt. Anonymisiert wurden für jeden Patienten, der an den Stichtagen in stationär-psychiatrischer Behandlung war, Daten zu Alter, Geschlecht, Hauptdiagnose, verordneten Handelspräparaten und Dosierungen erhoben. Ergebnisse: Für die Jahre 2008 bis 2010 wurden Stichtagsdaten von insgesamt knapp 42000 Patienten erfasst, und zwar überwiegend aus bayerischen Kliniken. Im Beobachtungszeitraum nahmen die Hauptdiagnosen Depressionen (F3) und Belastungsstörungen (F4) zu, während die Hauptdiagnosen Schizophrenien (F2), Sucht- (F1) und organische Störungen (F0) abnahmen. Unter den zehn am häufigsten verordneten Psychopharmaka waren die Antidepressiva Citalopram, Escitalopram, Mirtazapin und Venlafaxin und die Neuroleptika Haloperidol, Olanzapin, Pipamperon, Quetiapin und Risperidon. Sämtliche Dosierungen lagen im zugelassenen Bereich. Schlussfolgerungen: Für stationäre Patienten kann von einem eher vorsichtigen Dosierungsregime verordneter Psychopharmaka ausgegangen werden. Bemerkenswert ist die Zahl der Komedikationen, welche sehr gute Kenntnisse der Interaktionspharmakologie erfordern.
Schlüsselwörter: AGATE, Arzneimittelinteraktion, Pharmakovigilanz, Psychopharmakaverordnung
Psychopharmakotherapie 2012;19:154–62.

Kenntnisse über die Verordnung von Medikamenten sind für die Pharmakovigilanz, das heißt für die Einordnung unerwünschter Arzneimittelwirkungen in den medizinischen Alltag ebenso wie für Maßnahmen zu ihrer Vermeidung, grundlegend. Denn sie fördern und optimieren eine rationale Arzneimitteltherapie und damit die Patientensicherheit.

Während mit dem Arzneiverordnungsreport seit 2002 in einer Vollerhebung alle ambulanten Arzneimittelverordnungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eines Jahres berichtet werden [1], fehlt in der Bundesrepublik Deutschland ein solcher Überblick für den Bereich der stationären Gesundheitsversorgung.

Gemäß Arzneiverordnungsreport 2011 [12] lagen die ambulanten Verordnungen von Psychopharmaka (Psychoanaleptika: Antidepressiva, Psychostimulanzien, Antidementiva; und Psycholeptika: Antipsychotika, Lithium, Anxiolytika, Hypnotika und Sedativa) 2010 mit einem Anteil von 5,5% an den verordneten definierten Tagesdosen (Defined daily dose, DDD) auf Rang 3 der am häufigsten verordneten Arzneimittel, nach den Herz-Kreislauf-Mitteln (41%) und Ulkustherapeutika (6,7%), und mit einem Umsatzanteil von 8,7% auf Rang 2 nach den Herz-Kreislauf-Mitteln (13,8%) [3, 9–11]. Die verordneten DDD von Antidepressiva stiegen von 2009 bis 2010 um 11%. Die neueren Antidepressiva machten einen Anteil von rund 73% der gesamten (ohne Johanniskraut-Extrakte) Antidepressiva-Verordnungen aus (und rund 81% des Umsatzes). Die verordneten DDD von Neuroleptika stiegen seit 2005 jährlich zwischen 2% und 5% (ohne Berücksichtigung der sich ändernden Definition der DDD für Neuroleptika). Die atypischen Neuroleptika besaßen 2010 einen Anteil von 49% an den gesamten Neuroleptika-Verordnungen (und 87% am Umsatz) [3].

In der stationären Psychiatrie werden Daten zur Verordnung von Medikamenten im Rahmen des regionalen Pharmakovigilanzsystems AGATE (s.u.) erhoben. Dies erlaubt für die dem Pharmakovigilanzsystem angehörenden psychiatrischen Versorgungskliniken eine Analyse ihres medikamentösen Verordnungsverhaltens sowie dessen Veränderungen sowohl auf Ebene der einzelnen Versorgungsklinik als auch im Klinikvergleich.

Die „Arbeitsgemeinschaft Arzneimitteltherapie bei psychiatrischen Erkrankungen“ (AGATE) ist ein regionales Pharmakovigilanzsystem der Psychiatrie und wird seit 1997 von Prof. Dr.Dr. E. Haen geleitet [5]. Weitere Pharmakovigilanzsysteme stellen das von 1978 bis 1990 durchgeführte Projekt „Arzneimittelüberwachung in der Psychiatrie“ (AMÜP) [4] und das 1993 gestartete Forschungsprogramm „Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie“ (AMSP) dar, welches 2001 zur Gründung des „Instituts für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie – AMSP e.V.“ in München führte [6]. Die AGATE ging im Jahr 2000 aus der Bayern-AMÜP hervor und widmet sich neben der Pharmakovigilanz, also der Erfassung unerwünschter Arzneimittelwirkungen und des medikamentösen Verordnungsverhaltens der an ihr beteiligten 51 psychiatrischen Versorgungskliniken sowie Einpflegen dieser Daten in entsprechende Datenbanken, weiteren psychopharmakologischen Aufgaben [5].

Im Folgenden wird das medikamentöse Verordnungsverhalten der an der AGATE beteiligten psychiatrischen Versorgungskliniken für die Jahre 2008 bis 2010 vorgestellt.

Patienten und Methoden

Datenbasis und statistische Auswertung

Die medikamentösen Verordnungen werden an zwei Stichtagen im Jahr (April und Oktober) erfasst und Diagnose-spezifisch dokumentiert (sogenannte Stichtagserhebungen). Datenbasis sind die für jeden Patienten, der an einem der sechs Stichtage der Jahre 2008 bis 2010 in stationär-psychiatrischer Behandlung war, anonymisiert erhobenen Daten zu Alter, Geschlecht, Hauptdiagnose, verordneten Handelspräparaten und Dosierungen. Während die Patientendaten zu Alter, Geschlecht und Hauptdiagnose für die gesamte Stichprobe dargestellt werden, beziehen sich die berichteten Daten zu den verordneten Handelspräparaten (zur Medikation) und Dosierungen auf die zehn am häufigsten verordneten Psychopharmaka (im Folgenden als „Top-10-Psychopharmaka“ bezeichnet).

Die Daten wurden aus der Stichtagsdatenbank der AGATE extrahiert und werden deskriptiv-statistisch berichtet.

Klassifikation der Hauptdiagnosen

Die Klassifikation der Hauptdiagnosen erfolgte nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision German Modification, Version 2010 (ICD-10-GM Version 2010), wie sie vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) herausgegeben wurde.

Die KinderAGATE gibt es erst seit dem Jahr 2009 und die erste vollständige Stichtagsdatenerhebung der KinderAGATE fand im Jahr 2010 statt. Beobachtete Veränderungen (Zunahmen) der F8- und F9-Diagnosen kommen vermutlich dadurch zustande, dass diese Diagnosen 2009 zunächst nur in drei Kliniken und erst ab 2010 in allen neun Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie erfasst wurden, so dass diesbezügliche Ergebnisse nicht weiter beschrieben und diskutiert werden.

Psychopharmaka

Die Top-10-Psychopharmaka wurden aus den Arzneistoffgruppen der Antidementiva/Nootropika, Antidepressiva, Stimmungsstabilisierer, Neuroleptika und Tranquilizer/Hypnotika ermittelt. Im Folgenden werden ausschließlich die Wirkstoffnamen („international non-proprietary name“, INN) angegeben. Veränderungen der Verordnungszahlen werden für Zunahmen oder Abnahmen berichtet, die 100 Verordnungen im Vergleich der Jahre 2008 zu 2010 aufwiesen. Angaben zur Dosierung beziehen sich auf die verordnete mittlere Tagesdosis der Psychopharmaka in Milligramm. Veränderungen der mittleren Tagesdosis von 10% von 2008 im Vergleich zu 2010 werden berichtet. Um die stationären Medikamentenverordnungen mit den Verordnungen im ambulanten Versorgungsbereich vergleichen zu können, sind die gesamten, in einem Jahr verordneten Tagesdosen der Top-10-Psychopharmaka in Anzahl definierter Tagesdosen („defined daily dose“, DDD) gemäß der „Amtlichen Fassung des ATC-Index mit DDD-Angaben für Deutschland im Jahre 2012“ [2] umgerechnet worden. Im Jahr 2009 wurden beispielsweise insgesamt 6065,95 mg Zopiclon verordnet; die definierte Tagesdosis von Zopiclon beträgt 7,5 mg; das heißt, im Jahr 2009 sind 808,79 definierte Tagesdosen Zopiclon verordnet worden. Veränderungen der DDD von 10% von 2008 verglichen mit 2010 werden angegeben. Die verordneten DDD für Haloperidol und Risperidon sind für die Verabreichungsart „Nicht-Depot“ berechnet worden.

Ergebnisse

Patientencharakteristika

Insgesamt übermittelten 48 psychiatrische Versorgungskliniken für den Zeitraum 2008 bis 2010 Stichtagsdaten an die AGATE. Dies umfasst die Datensätze von insgesamt 41821 Patienten. 52% der Patienten waren Männer und 47% Frauen. Bei 0,61% der Datensätze (257) fehlten Angaben zum Patientengeschlecht. Das Durchschnittsalter lag bei 46,6 Jahren (Tab. 1).

Tab. 1. Patientencharakteristika der Stichtagsdatenerhebungen, zusammengefasst für die Jahre 2008 bis 2010

Kliniken [n]

48

Patienten [n]

41821

Durchschnittsalter [Jahre]

46,64

Männer (Anteil)

51,95% (n=21725)

Frauen (Anteil)

47,44% ( n=19839)

Im Mittel erhielten 64,2% aller an den Stichtagen erfassten Patienten über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg mindestens eine Verordnung der Top-10-Psychopharmaka (2008: 63,7%, 2009: 64,9% und 2010: 64,1% der Patienten). Das Durchschnittsalter der Patienten, die Top-10-Psychopharmaka erhielten, war 49,5 Jahre. Der Männeranteil lag bei 45,8%.

Entwicklung des F-Hauptdiagnosenspektrums

Die Verteilung der F-Diagnosen war für die Jahre 2008, 2009 und 2010 relativ ähnlich, wie Abbildung 1 zeigt. Zwischen 51% und 55% der Diagnosen entfielen auf die zwei Diagnosegruppen Schizophrenie (F2) und affektive Störungen (F3), zwischen 17% und 19% auf die Diagnosegruppe Sucht (F1) und zwischen 9% und 10% auf die Diagnosegruppe organische Störungen (F0). Rund 80% der gestellten Diagnosen entstammten diesen vier Gruppen.

Abb. 1. F-Hauptdiagnosenspektrum der Jahre 2008 bis 2010. Nicht dargestellt sind Zahlen der Patienten mit somatischen Hauptdiagnosen (siehe Text) sowie fehlende Angaben zur Hauptdiagnose (2008: 45, 2009: 174, 2010: 259)

Jeweils zwischen 6,5% und 7,5% der Diagnosen entfielen auf neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F4) sowie Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6), gefolgt von Intelligenzstörungen (F7; zwischen 1,46% und 1,74%) und Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (F5; zwischen 0,33% und 0,51%).

Von 2008 bis 2010 nahm die Zahl der Patienten mit den Diagnosen affektive Störungen (F3) und neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F4) zu (um 1,44 und 0,98 Prozentpunkte). Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der Patienten mit den Diagnosen Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F2), psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1) sowie organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (F0) ab (um 4,52, 1,68 und 0,77 Prozentpunkte).

Ein geringer Anteil der Patienten (2008: 15, 2009: 26, 2010: 20 Patienten) hatte somatische Hauptdiagnosen aus den Bereichen infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00–B99); endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00–E90); Krankheiten des Nervensystems (ICD-10 G00–G99); Krankheiten des Verdauungssystems (K00–K93); Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind (R00–R99), sowie Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen (Z00–Z99).

Top-10-Psychopharmaka: Entwicklung der Verordnungszahlen

Die Top-10-Psychopharmaka gehörten den Arzneistoffgruppen der Antidepressiva, Hypnotika, Neuroleptika und Tranquilizer an. Tabelle 2 zeigt die Rangfolge der Top-10-Psychopharmaka für jedes Jahr des Beobachtungszeitraums. Die Zugehörigkeit der Psychopharmaka zu den entsprechenden Arzneistoffgruppen ist ebenfalls in Tabelle 2 angegeben.

Tab. 2. Rangfolge der Top-10-Psychopharmaka in den Jahren 2008 bis 2010. Die Rangfolge basiert auf den relativen Anteilen der Psychopharmaka an den jeweiligen jährlichen Verschreibungen.

Rang

2008

2009

2010

1

Lorazepam (TR)

Quetiapin

Quetiapin

2

Quetiapin (NL)

Lorazepam

Lorazepam

3

Mirtazapin (AD)

Mirtazapin

Mirtazapin

4

Risperidon (NL)

Risperidon

Risperidon

5

Olanzapin (NL)

Olanzapin

Venlafaxin

6

Escitalopram (AD)

Venlafaxin

Citalopram

7

Venlafaxin (AD)

Escitalopram

Escitalopram

8

Haloperidol (NL)

Citalopram

Olanzapin

9

Zopiclon (HYP)

Zopiclon

Pipamperon (NL)

10

Citalopram (AD)

Haloperidol

Haloperidol

AD: Antidepressivum; HYP: Hypnotikum; NL: Neuroleptikum; TR: Tranquilizer

Die Antidepressiva unter den Top-10-Psychopharmaka („Top-10-Antidepressiva“) gehören alle zu den neueren Antidepressiva: Citalopram und Escitalopram sind selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), Mirtazapin ist ein noradrenerges und spezifisch-serotonerges Antidepressivum (NaSSA) und Venlafaxin ein selektiver Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI).

Die Neuroleptika unter den Top-10-Psychopharmaka („Top-10-Neuroleptika“) umfassen mit Olanzapin, Quetiapin und Risperidon drei nach 1990 zugelassene (im Folgenden als „second generation antipsychotics“, SGA, bezeichnet) und mit Haloperidol und Pipamperon zwei ältere Neuroleptika (sog. „first generation antipsychotics“, FGA).

Im Jahr 2008 lag Lorazepam auf Rang 1 der Top-10-Psychopharmaka, 2009 und 2010 auf Platz 2. Im Gegenzug stieg Quetiapin von Rang 2 in 2008 auf Rang 1 in 2009 und 2010. Mirtazapin und Risperidon veränderten ihren dritten bzw. vierten Rang von 2008 bis 2010 nicht. Olanzapin fiel von Rang 5 in 2008 und 2009 auf Rang 8 in 2010 zurück. Für Escitalopram und Haloperidol zeigte sich ein ähnlicher Rangabstieg; 2009 fiel Escitalopram von Rang 6 auf Rang 7 und Haloperidol von Rang 8 auf Rang 10. Zopiclon lag 2008 und 2009 auf Rang 9 und war 2010 nicht mehr unter den Top-10-Psychopharmaka vertreten. Venlafaxin und Citalopram zeigten einen kontinuierlichen Rangaufstieg von 2008 bis 2010, und zwar für Venlafaxin von Rang 7, über Rang 6 auf Rang 5 sowie für Citalopram von Rang 10, über Rang 8 auf Rang 6. Bemerkenswert ist, dass sich unter den Top-10-Psychopharmaka weder Antidementiva noch Stimmungsstabilisierer befanden.

Die Entwicklung der Verordnungszahlen der einzelnen Top-10-Psychopharmaka von 2008 bis 2010 ist in Abbildung 2a graphisch dargestellt. Die minimale Verordnungszahl war 706 für Haloperidol und die maximale Verordnungszahl 2688 für Quetiapin, beides in 2010.

Abb. 2a. Entwicklung der Verordnungszahlen in den Jahren 2008 bis 2010, dargestellt als prozentualer Anteil eines jeden Psychopharmakons an der Gesamtverordnungszahl der Top-10-Psychopharmaka des betreffenden Jahres. Pipamperon weist nur einen Wert für das Jahr 2010 auf; die Werte für Zopiclon der Jahre 2008 (5,76%) und 2009 (5,67%) fallen zusammen. Abb. 2b. Entwicklung der Anzahl verordneter definierter Tagesdosen (Defined daily dose, DDD) ausgewählter Top-10-Psychopharmaka in den Jahren 2008 bis 2010; dargestellt als prozentualer Anteil eines jeden Psychopharmakons an den insgesamt verordneten DDD der Top-10-Psychopharmaka des betreffenden Jahres.

Von 2008 bis 2010 konnte eine deutliche Zunahme der Verordnungszahlen für Citalopram (um 54,4%, von 744 auf 1149 Verordnungen) und Quetiapin (um 25,3%, von 2145 auf 2688 Verordnungen) beobachtet werden, während die Verordnungszahlen für Haloperidol (um 15,1%, von 832 auf 706 Verordnungen), Lorazepam (um 10,2%, von 2619 auf 2351 Verordnungen) und Olanzapin (um 20,7%, von 1385 auf 1098 Verordnungen) abnahmen. Entsprechend stieg der Anteil an den Top-10-Psychopharmaka-Verordnungen von 2008 bis 2010 für Citalopram und Quetiapin um 2,7 bzw. 3,5 Prozentpunkte, während er für Haloperidol um 1,0 und für Lorazepam und Olanzapin jeweils um 2,1 Prozentpunkte zurückging (Abb. 2a).

Top-10-Psychopharmaka: Entwicklung der Dosierungen

Die verordneten Dosierungen der Top-10-Psychopharmaka lagen alle im medizinisch zugelassenen Bereich (Tab. 3).

Tab. 3. Verordnete mittlere Tagesdosis der Top-10-Psychopharmaka in den Jahren 2008 bis 2010

Psychopharmakagruppe

Wirkstoff

Mittlere Tagesdosis (SD) [mg]

Differenz*

2008

2009

2010

2010–2008

Antidepressiva

Citalopram

29,06 (21,56)

29,24 (39,86)

29,05 (17,91)

–0,01

Escitalopram

16,09 (18,87)

15,25 (7,64)

15,71 (11,30)

–0,37

Mirtazapin

30,52 (14,93)

28,90 (14,79)

29,03 (13,39)

–1,49

Venlafaxin

172,57 (81,27)

177,41 (79,05)

171,11 (80,84)

–1,46

Hypnotika

Zopiclon

9,05 (22,79)

7,54 (8,41)

Neuroleptika

Haloperidol

8,60 (8,22)

9,13 (8,47)

9,64 (10,41)

+1,04

Olanzapin

14,50 (11,73)

14,22 (8,91)

14,08 (8,59)

–0,42

Pipamperon

62,20 (59,33)

Quetiapin

363,11 (310,68)

346,43 (387,61)

313,20 (279,86)

–49,90

Risperidon

4,04 (34,93)

3,09 (3,62)

3,10 (3,37)

–0,94

Tranquilizer

Lorazepam

1,79 (1,59)

1,82 (2,03)

1,77 (1,80)

–0,03

SD=Standardabweichung; *Zahlen in Fettdruck: Veränderung um10% seit 2008

Die mittlere Tagesdosis der Top-10-Psychopharmaka veränderte sich im Beobachtungszeitraum fast vollständig rückläufig. Eine deutliche Reduktion der mittleren Dosis um mehr als 10% zwischen 2008 und 2010 konnte für Quetiapin (von 363,11 mg auf 313,20 mg) und Risperidon (von 4,04 mg auf 3,10 mg) gezeigt werden; und dies, obwohl die Verordnungszahl für Quetiapin um 543 Verordnungen zunahm.

Allein die Entwicklung der mittleren Tagesdosis für Haloperidol folgte dem rückläufigen Trend nicht; sie stieg von 2008 bis 2010 um mehr als 20% (von 8,60 mg auf 9,64 mg), und dies trotz Abnahme der Verordnungszahl.

Die Entwicklung der verordneten definierten Tagesdosen (DDD) der Top-10-Psychopharmaka zeigen Tabelle 4 und für ausgewählte Top-10-Psychopharmaka, nämlich Citalopram, Haloperidol, Lorazepam und Quetiapin, Abbildung 2b. Die Anzahl verordneter DDD lag zwischen 269 für Pipamperon im Jahr 2010 und 2156 für Quetiapin im Jahr 2009. Die verordneten DDD stiegen von 2008 bis 2010 für Citalopram und Quetiapin um 54,2% bzw. 8,0%, während sie für Haloperidol und Lorazepam um 5,0% bzw. 11,7% abnahmen (Tab. 4). Auch für Olanzapin und Risperidon sank die Zahl der verordneten DDD (um 22,9% bzw. 27,4%).

Entsprechend der Anzahl nahm auch der prozentuale Anteil an der Gesamtzahl verordneter DDD der Top-10-Psychopharmaka für Citalopram und Quetiapin um 4,5 bzw. 2,0 Prozentpunkte zu (von 6,8% auf 11,3% bzw. von 12,3% auf 14,3%) sowie für Lorazepam um 0,6 Prozentpunkte leicht ab (von 11,8% auf 11,3%). Im Gegensatz zur geringeren Anzahl verordneter DDD für Haloperidol in 2010 gegenüber 2008 (s.o.) veränderte sich der prozentuale Anteil an den verordneten DDD kaum (von 5,6% auf 5,8%). Veränderungen des Anteils verordneter DDD um mehr als 10% zeigten Venlafaxin (von 12,3% auf 14,3%), Olanzapin (von 12,7% auf 10,5%) und Risperidon (von 7,9% auf 6,2%).

Antidepressiva. Innerhalb der Gruppe der Antidepressiva der Top-10-Psychopharmaka (Berechnungsbasis sind alle verordneten Antidepressiva-DDD pro Jahr) nahm der Anteil verordneter DDD von 2008 bis 2010 für Citalopram von 15,7% auf 22,6% zu und sank für Escitalopram und Mirtazapin um 3,0 bzw. 4,0 Prozentpunkte (von 27,4% auf 24,3% bzw. von 28,7% auf 24,7%); für Venlafaxin blieb er nahezu unverändert (28,3% gegenüber 28,4%) (Tab. 4).

Tab. 4. Verordnete definierte Tagesdosen (DDD) der Top-10-Psychopharmaka in den Jahren 2008, 2009 und 2010

Antidepressiva (AD)

Citalopram

Escitalopram

Gesamt SSRI

Mirtazapin

Venlafaxin

Gesamt AD

2008

DDD

1078,3

1880,5

2958,8

1971,4

1944,8

6874,9

% AD

15,7

27,4

43,0

28,7

28,3

100,0

2009

DDD

1421,1

1642,8

3063,9

1795,4

2050,8

6910,1

% AD

20,6

23,8

44,3

26,0

29,7

100,0

2010

DDD

1663,1

1792,7

3455,7

1819,3

2096,1

7371,0

% AD

22,6

24,3

46,9

24,7

28,4

100,0

Differenz 2010–2008

DDD-Differenz

584,8 (54,2%)

–87,8 (–4,7%)

–152,1 (–7,7)

151,2 (7,8)

%AD-Differenz

6,9

–3,0

–4,0

0,1

Neuroleptika (NL)

Haloperidol

Olanzapin

Pipamperon

Quetiapin

Risperidon

Gesamt NL

2008

DDD

894,2

2006,0

1946,2

1251,3

6097,7

% NL

14,7

32,9

31,9

20,5

100,0

2009

DDD

860,7

1721,2

2155,7

907,1

5644,7

% NL

15,2

30,5

38,2

16,1

100,0

2010

DDD

849,4

1546,0

269,0

2101,6

908,5

5405,5

% NL

15,7

28,6

5,0

38,9

16,8

100,0

Differenz 2010–2008

DDD-Differenz

–44,8 (–5,0%)

–460,0 (–22,9%)

155,3 (8,0%)

–342,7 (–27,4%)

%NL-Differenz

1,0

–4,3

7,0

–3,7

Arzneistoffgruppe

Antidepressiva

Hypnotika*

Neuroleptika

Tranquilizer**

Gesamt

2008

DDD

6874,9

996,2

6097,7

1873,1

15842,0

% Gesamt-DDD

43,4

6,3

38,5

11,8

100,0

2009

DDD

6910,1

808,8

5644,7

1783,5

15147,1

% Gesamt-DDD

45,6

5,3

37,3

11,8

100,0

2010

DDD

7371,0

5674,6

1654,9

14700,5

% Gesamt-DDD

50,1

38,6

11,3

100,0

Differenz 2010–2008

DDD-Differenz

496,1 (7,2%)

–423,1 (–6,9%)

–218,3 (–11,7%)

%-Differenz

6,7

0,1

–0,6

Differenz 2010–2009#

DDD-Differenz

461,0 (6,7%)

29,9 (0,5%)

–128,6 (–7,2%)

%-Differenz

4,5

1,3

–0,5

SGA=„second generation antipsychotics“, SSRI=selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Citalopram und Escitalopram)

* Zopiclon; ** Lorazepam; #zum Vergleich mit Daten aus dem ambulanten Bereich [12]

Betrachtet man ausschließlich die Entwicklung der verordneten DDD der zwei SSRI Citalopram und Escitalopram, so zeigt sich eine Annäherung ihrer Anteile im Beobachtungszeitraum, und zwar von 36,4% (Citalopram) zu 63,6% (Escitalopram) für 2008, über 46,4% zu 53,6% für 2009 bis auf 48,1% zu 51,9% für 2010.

Neuroleptika. Innerhalb der Gruppe der Neuroleptika der Top-10-Psychopharmaka (Berechnungsbasis sind alle verordneten Neuroleptika-DDD pro Jahr) nahm der Anteil verordneter DDD von 2008 bis 2010 für Haloperidol von 14,7% auf 15,7% und für Quetiapin von 31,9% auf 38,9% zu. Für Olanzapin sank der Anteil von 32,9% auf 28,6% und für Risperidon von 20,5% auf 16,8%. 2010 entfielen 5% der verordneten Neuroleptika-DDD auf Pipamperon (2008 nicht unter den Top-10-Psychopharmaka) (Tab. 4).

Verordnungsmuster

Eine Zusammenfassung der Veränderungen im Verordnungsmuster im Vergleich von 2008 gegenüber 2010 bietet Tabelle 5. Es lassen sich drei Gruppen von Veränderungsmustern feststellen, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Arzneistoffgruppe.

Tab. 5. Zusammenfassung der Veränderungen im Verordnungsmuster der Top-10-Psychopharmaka im Vergleich der Jahre 2008 und 2010

Psychopharmakagruppe

Wirkstoff

Anzahl der Verordnungen

Mittlere Tagesdosis

DDD

Antidepressiva

Citalopram

Escitalopram

Mirtazapin

Venlafaxin

Hypnotika

Zopiclon

Neuroleptika

Haloperidol

Olanzapin

Pipamperon

Quetiapin

Risperidon

Tranquilizer

Lorazepam

Zunahme; Abnahme; – kein Vergleich möglich; Fettdruck: gegenläufige Entwicklung von Verordnungszahl und DDD einerseits und mittlerer Tagesdosis andererseits (Muster 2 bzw. Muster 3, siehe Text)

Muster 1 zeichnet sich durch Abnahmen in der Verordnungszahl, der mittleren Tagesdosis und der verordneten DDD aus. Dieses Muster zeigen Escitalopram, Mirtazapin, Olanzapin, Risperidon und Lorazepam.

Muster 2 besteht aus Zunahmen in der Verordnungszahl und verordneter DDD, während die mittlere Tagesdosis rückläufig ist. Muster 2 zeigen Citalopram, Venlafaxin und Quetiapin.

Muster 3 verhält sich spiegelbildlich zu Muster 2, das heißt, Verordnungszahl und verordnete DDD nehmen ab, die mittlere Tagesdosis hingegen zu. Dieses Muster zeigt allein Haloperidol.

Allgemeine Medikation

Die Häufigkeit verschriebener (psychiatrischer und nichtpsychiatrischer) Arzneimittel in der Gesamtstichprobe für die Jahre 2008 bis 2010 ist in Tabelle 6 zusammengefasst.

Tab. 6. Durchschnittlich verordnete Arzneimittel und Psychopharmaka pro Patient in den Jahren 2008, 2009 und 2010

2008

2009

2010

Arzneimittel gesamt [n] (Umfang)

3,96 (1–18)

3,90 (0–19)

3,80 (1–17)

Psychopharmaka-Einnahme [%]

Durchschnittliche Verordnungen [n] (Umfang)

94,2

2,44 (1–11)

94,0

2,40 (1–10)

94,1

2,29 (1–9)

Antidepressiva-Einnahme [%]
Durchschnittliche Verordnungen [n] (Umfang)

45,2

1,24 (1–4)

47,3

1,27 (1–4)

46,8

1,27 (1–4)

Neuroleptika-Einnahme [%]

Durchschnittliche Verordnungen [n] (Umfang)

61,2

1,45 (1–6)

60,1

1,45 (1–6)

56,2

1,45 (1–5)

Die mittleren Arzneimittel- und Psychopharmakazahlen pro Patient nahmen über den Beobachtungszeitraum hinweg leicht ab. Die mittlere Anzahl an Antidepressiva und Neuroleptika blieb von 2008 bis 2010 nahezu konstant, wobei der Patientenanteil bei den Antidepressiva leicht zunahm, bei den Neuroleptika jedoch um 5% zurückging.

Komedikation

Die mittlere Anzahl der Komedikationen der Top-10-Psychopharmaka nahm von 2008 bis 2010 kontinuierlich ab. 2008 wurden 229,6 Partnerstoffe genannt, 2009 waren es 219,0 und 2010 nur noch 211,1 Partnerstoffe. Die Gesamtzahl angegebener Komedikationen der Top-10-Psychopharmaka variierte im Beobachtungszeitraum zwischen 299 Partnerstoffen für Lorazepam und 175 Partnerstoffen für Citalopram. Generell ließ sich ein rückläufiger Trend für die Zahl der Medikationspartner von 2008 bis 2010 beobachten; nur für Quetiapin blieb die Zahl der Partnerstoffe annähernd gleich, während sie jedoch für Citalopram stieg (von 175 Partnerstoffen in 2008 auf 194 in 2010).

Für ausgewählte Psychopharmaka werden im Folgenden die mit ihnen am häufigsten kombinierten Partnerstoffe genannt (unabhängig von der Indikation), wobei ausschließlich solche genannt werden, die in jedem Jahr des Beobachtungszeitraums verordnet wurden (Ausnahme Valproinsäure):

  • Citalopram/Escitalopram mit Acetylsalicylsäure (nur Citalopram), Kombinationspräparat, Levothyroxin, Lorazepam, Mirtazapin, Olanzapin (nur Escitalopram), Quetiapin, Ramipril und Risperidon
  • Haloperidol mit Biperiden, Clozapin, Kombinationspräparat, Lorazepam, Olanzapin, Quetiapin und Valproinsäure
  • Olanzapin mit Escitalopram, Kombinationspräparat, Levothyroxin, Lorazepam, Mirtazapin, Valproinsäure und Venlafaxin
  • Lithium (Acetat-, Carbonat- und Sulfatsalze) mit Lorazepam, Mirtazapin, Olanzapin, Quetiapin, Valproinsäure, Venlafaxin und Zopiclon
  • Die Partnerstoffe für Valproinsäure werden nur für 2010 berichtet, da sie sich komplett von den beiden Vorjahren unterscheiden: Valproinsäure mit Biperiden, Clozapin, Haloperidol, Kombinationspräparat, Levothyroxin, Lorazepam, Olanzapin, Pantoprazol, Quetiapin und Risperidon.

Die genannten Partnerstoffe gehören zu den Arzneistoffgruppen der Antiepileptika (Valproinsäure), Anti-Parkinson-Mittel (Biperiden), Tranquilizer (Lorazepam), Hypnotika (Zopiclon), Antidepressiva (Escitalopram, Mirtazapin, Venlafaxin), Neuroleptika (Clozapin, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon) und anderen Nicht-Psychopharmaka/Neurologika (Acetylsalicylsäure, Kombinationspräparat, Levothyroxin, Pantoprazol, Ramipril).

Diskussion

Zusammenfassung der Ergebnisse

Im beobachteten Zeitraum von 2008 bis 2010 wurden die Stichtagsdaten von knapp 42000 Patienten aus hauptsächlich bayerischen Versorgungskliniken erhoben. Die Stichtagsdaten umfassen die Hauptdiagnose, das Geschlecht und Alter sowie die Medikation und deren Dosierung. Diagnostizierte Depressionen und Belastungsstörungen nahmen über diesen Zeitraum hinweg zu, während die Diagnosen für Schizophrenien, Suchtstörungen und organische Störungen abnahmen.

Die Top-10-Antidepressiva waren Citalopram, Escitalopram, Mirtazapin und Venlafaxin, die Top-10-Neuroleptika Haloperidol, Olanzapin, Pipamperon, Quetiapin, und Risperidon. Sämtliche Dosierungen lagen im zugelassenen Bereich.

Die Top-10-Psychopharmaka wiesen drei verschiedene Verordnungsmuster im Hinblick auf Veränderungen der Faktoren Verordnungszahl, mittlere Tagesdosis und verordnete DDD auf. Die Zahl der Komedikationen/Partnerstoffe war bemerkenswert hoch.

Diagnosespektrum

Die Gründe für die beobachteten Verschiebungen im Diagnosespektrum sind sicherlich multifaktoriell und bleiben spekulativ. Für die Zunahmen an Depressionen und Belastungsstörungen könnten Veränderungen in der Arbeits- und Lebenswelt in Verbindung mit der Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ursächlich sein.

Inwieweit die beobachteten Verschiebungen im Diagnosespektrum eine Veränderung der Inzidenzrate oben genannter psychischer Erkrankungen abbilden, muss in weiteren Untersuchungen geklärt werden. Dies sollte unter Berücksichtigung der demographischen Veränderungen wie einer weiterhin steigenden Lebenserwartung und infolgedessen alternden Bevölkerung bei gleichzeitig weiterhin sinkenden Bevölkerungszahlen erfolgen [15]. Die durch die Faktoren Lebenserwartung, Geburten- und Sterberate bedingte Altersstruktur der Bevölkerung wird ferner durch die Außen- (Zu- und Fortzüge nach bzw. aus Deutschland) und Binnenwanderung (Zu- und Fortzüge innerhalb Deutschlands) moderiert [14], so dass sich die einzelnen Bundesländer/Regionen hinsichtlich Altersstruktur und Bevölkerungszahl unterscheiden, und somit auch in dem zu erwartenden Spektrum an psychischen Erkrankungen. Eine hohe Lebenserwartung und damit einhergehend ein größerer Bevölkerungsanteil alter Menschen bedeutet eine Zunahme der Erkrankungsintensitäten und -anzahl (Multimorbidität), was voraussichtlich in einer Erhöhung der stationären Behandlungen und der Pflegebedürftigkeit sowie der damit verbundenen Kosten münden wird [13].

Psychopharmaka

Die Dosierungen lagen für alle Top-10-Psychopharmaka im zugelassenen Bereich; für stationäre Patienten kann sogar von einem eher vorsichtigen Dosierungsregime ausgegangen werden [7]. In einer Erhebung zum Vergleich der Dosierungen im ambulanten und stationären Behandlungsbereich wurde das Antidepressivum Venlafaxin von den psychiatrischen Fachärzten im stationären Bereich in einer höheren mittleren Tagesdosis (187,8 mg/Tag) verschrieben als im ambulanten Bereich (109,2 mg/Tag), sowohl für die Initial- als auch die Maximaldosierungen [8]. Die mittlere Tagesdosis für Venlafaxin (Gesamtmittel 2008 bis 2010) der hier berichteten stationären Medikation lag bei 173,7 mg/Tag und damit deutlich niedriger als in der Studie von Linden et al. [8].

Im Folgenden werden die Ergebnisse der AGATE-Stichtagsdatenanalyse zur Psychopharmaka-Verordnung mit derjenigen im ambulanten Bereich verglichen und ebenso wie diese für Veränderungen von 2010 gegenüber 2009. Der Vergleich ist jedoch nicht vollständig, da sich Umfang und Art der erhobenen (und berichteten) Daten zum Teil unterscheiden. Aufgrund der Korrelation von Verordnungszahl mit definierter Tagesdosis der Psychopharmaka erfolgt der Vergleich für Letztere.

Im Unterschied zu den im Arzneiverordnungsreport 2011 berichteten Antidepressiva-Verordnungen [3] befanden sich unter den in den AGATE-Kliniken verordneten Top-10-Psychopharmaka ausschließlich neuere Antidepressiva, und zwar für alle drei Jahre des Beobachtungszeitraums (2008 bis 2010). Die verordneten DDD dieser „Top-10-Antidepressiva“ stiegen von 2009 bis 2010 um 6,7%, diejenigen der Top-10-Neuroleptika um 0,5% (Tab. 4) und damit für beide Arzneistoffgruppen weniger stark als im ambulanten Bereich (um 11% bzw. 2% bis 5%). Die SGA machten im Jahr 2010 84,3% der Top-10-Neuroleptika aus, im ambulanten Bereich dagegen nur 49% der Neuroleptika-Verordnungen.

Im Jahr 2010 betrug der Anteil selektiv-serotonerger Antidepressiva (SSRI) an den DDD-Verordnungen der „Top-10-Antidepressiva“ 46,9%. Mirtazapin machte 24,7% und Venlafaxin 28,4% der DDD-Verordnungen der Antidepressiva unter den Top-10-Psychopharmaka aus. Im ambulanten Bereich war der Anteil der SSRI an den Antidepressiva-Verordnungen im Jahr 2010 mit 44% ähnlich hoch, jedoch waren Mirtazapin (+ Mianserin) mit 12,3% und Venlafaxin mit 9,1% dort schwächer vertreten. Berücksichtigt man für den ambulanten Bereich nur die genannten Antidepressiva, dominierten die SSRI mit 67,3% und lagen deutlich über dem Anteil der Top-10-SSRI.

Die beiden SSRI unter den Top-10-Psychopharmaka (Citalopram und Escitalopram) wurden im Jahr 2010 ungefähr im selben Umfang verordnet (Citalopram 48,1%, Escitalopram 51,9%). Im ambulanten Bereich dominierte jedoch Citalopram mit 57% an den verordneten DDD der SSRI (Escitalopram 11,8%).

Die Verordnungsrangfolge der Neuroleptika im Jahr 2010 ähnelte sich im stationären und ambulanten Bereich für Quetiapin, Olanzapin und Risperidon, bei unterschiedlichen Verordnungsanteilen. Unter den Neuroleptika der Top-10-Psychopharmaka („Top-10-Neuroleptika“) war Quetiapin der am meisten verordnete Arzneistoff (38,9%, ambulant 13,9%), gefolgt von Olanzapin (28,6%, ambulant 12,0%) und Risperidon (16,8%, ambulant 11,4%). Unter den Top-10-Neuroleptika hatte Haloperidol, als einziger Vertreter der Butyrophenone, einen Verordnungsanteil von 15,7%, gegenüber 12,9% für die gesamten Butyrophenone im ambulanten Bereich.

Gemeinsamkeiten zwischen den ambulanten und den stationären Antidepressiva- und Neuroleptika-Verordnungen der AGATE-Kliniken bestehen also im Hinblick auf den Anstieg der DDD-Verordnungen von 2009 bis 2010 und der Verordnungsrangfolge der Neuroleptika im Jahr 2010. Die ambulanten und stationären Verordnungen unterscheiden sich jedoch im Hinblick auf den Anteil der SGA an den Neuroleptika-Verordnungen, die Verordnungsanteile von SSRI, Mirtazapin und Venlafaxin an den Antidepressiva-Verordnungen und das Verhältnis von Citalopram zu Escitalopram an den SSRI-Verordnungen. Gründe für diese Unterschiede liegen zum einen in der ambulanten Budgetierung und zum anderen in der Off-Label-Anwendung von Medikamenten. So wird beispielsweise Quetiapin nicht nur für die originäre Indikation als Neuroleptikum verordnet, sondern auch, off Label, als „Hypnotikum“.

Schlussfolgerung

Die Stichtagsdaten der Jahre 2008 und 2010 vergleichend, blieb die Patientenzahl nahezu unverändert (14039 gegenüber 14035 Patienten), während die Zahl der Verordnungen der Top-10-Psychopharmaka um 1,7% leicht zunahm (von 14339 auf 14578 Verordnungen) und sich die Zusammensetzung der Wirkstoffe (betrachtet definierte Tagesdosen, DDD) zugunsten der Antidepressiva (plus 6,7%) unter den Top-10-Psychopharmaka entwickelte (2008 bis 2010: Antidepressiva 43,4% bzw. 50,1%; Neuroleptika 38,5% bzw. 38,6%; Tranquilizer 11,8% bzw. 11,3%). Die Zunahme der Antidepressiva-Verordnungen um 6,7 Prozentpunkte spiegelt vermutlich die Veränderungen des Diagnosespektrums wider, die durch prozentuale Zunahmen im Bereich der affektiven Störungen (F3) und Belastungsstörungen (F4) gekennzeichnet sind.

Bemerkenswert ist die Zahl der Komedikationen/Partnerstoffe, welche sehr gute Kenntnisse der Interaktionspharmakologie von den verschreibenden Ärzten erfordern.

Interessenkonflikte

Es sind weder für Kerstin Sander noch für Gerd Laux Interessenkonflikte gegeben.

Literatur

1. Coca V, Nink K. Ergänzende statistische Übersicht. In: Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2011. Berlin: Springer, 2011:961–1062.

2. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information. Anatomisch-therapeutisch-chemische Klassifikation mit Tagesdosen. Amtliche Fassung des ATC-Index mit DDD-Angaben für Deutschland im Jahre 2012. Köln: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), 2011.

3. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen: Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2011. Psychopharmakotherapie 2011;18:245–56.

4. Grohmann R, Hippius H, Helmchen H, Rüther E, et al. The AMÜP study for drug surveillance in psychiatry – a summary of inpatient data. Pharmacopsychiatry 2004;37:S16–26.

5. Haen E, Laux G. Arzneimitteltherapiesicherheit/Pharmakovigilanz in der klinischen Psychopharmakotherapie. Das Kliniknetzwerk AGATE. Psychopharmakotherapie 2011;18:238–43.

6. Hippius H. From case reports to drug surveillance. Pharmacopsychiatry 2004;37:S2–3.

7. Laux G, Dietmaier O. Praktische Psychopharmakotherapie. 6. Auflage. München: Urban & Fischer, 2012.

8. Linden M, Ludewig K, Munz T, Dierkes W. Dosage finding and outcome of venlafaxine treatment in psychiatric outpatients and inpatients: results of a drug utilization observation study. Pharmacopsychiatry 2003;36:197–205.

9. Lohse MJ, Müller-Oerlinghausen B. Hypnotika und Sedativa. In: Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2011. Berlin: Springer, 2011:645–58.

10. Lohse MJ, Müller-Oerlinghausen B. Psychopharmaka. In: Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2011. Berlin: Springer, 2011:813–58.

11. Schwabe U. Antidementiva. In: Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2011. Berlin: Springer, 2011:339–50.

12. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2011. Berlin: Springer, 2011.

13. Statistische Ämter des Bundes und der Länder. Demografischer Wandel in Deutschland. Heft 2: Auswirkungen auf Krankenhausbehandlungen und Pflegebedürftige im Bund und in den Ländern. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, 2010.

14. Statistische Ämter des Bundes und der Länder. Demografischer Wandel in Deutschland. Heft 1: Bevölkerungs- und Haushaltsentwicklung im Bund und in den Ländern. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, 2011.

15. Statistisches Bundesamt. Bevölkerung Deutschlands bis 2060. 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, 2009.

Mitglieder AGATE und KinderAGATE (Stand Oktober 2011)

AGATE:

Lech-Mangfall-Klinik Agatharied/Hausham (Fr. Dr. I. Lemke), BK Ansbach (Fr. Dr. B. Mößner-Haug), SKH Arnsdorf (Hr. Dr. S. Spirling), BKH Augsburg (Fr. Dr. N. Steiner), Reha Zentrum Isarwinkel Bad Tölz (Hr. G. Winkler), C.I.P.P. GmbH Rosenwinkel Bad Tölz (Fr. I. Kerler), Praxis Torhorst Bad Tölz (Hr. G. Winkler), BKH Bamberg (Hr. Dr. M. Hasche), BKH Bayreuth (Hr. Dr. C. Franke, Fr. Dr. A. Heidrich), Klinik Höhenried Bernried (Hr. OA Dr. T. Leitz), ZK Bozen (Fr. Dr. B. Plattner, Hr. Prof. Dr. A. Conca), KH Brixen (Hr. Dr. J. Schwitzer), KH Bruneck (Hr. Dr. R. Pycha), Tagesklinik Cham (Fr. Dr. K. Moser), Frankenalb Klinik Engelthal (Fr. OA Dr. K. Pfarrer), Klinikum am Europakanal Erlangen (Hr. Dr. W. Müller), Fachklinik Furth im Wald AKG Dr. S. Zwick GmbH & Co. KG (Hr. Dr. S. Rose), Lech-Mangfall-Klinik Garmisch-Partenkirchen (CA Hr. Dr. J. Scherer), Christophsbad Göppingen (Hr. CA Priv.-Doz. Dr. L. Hermle, Hr. OA R. Straub), BKH Günzburg (Hr. OA Priv.-Doz.Dr. M. Jäger), Fachklinik Haselbach (Dr. M. Dobmeier), Isar-Amper-Klinikum, Klinikum München Ost (Hr. Dr. M. Grauer, Hr. Dr. G. Matzander, Hr. Dr. H. Pfeiffer), Ameos Klinik Hildesheim (Hr. Dr. A. Töpperwien), Bezirksklinik Hochstadt/Main (Hr. OA S. Roider), Danuvius Klinik Ingolstadt (Hr. Dr. M. Nörtemann), BKH Ingolstadt (Hr. Prof. Dr. T. Pollmächer), BKH Kaufbeuren (Hr. OA Dr. G. Eckermann, Hr. S. Egger, Hr. OA Dr. F. Wiederholt), BKH Kempten (Hr. CA Prof. Dr. P. Brieger, Hr. Dr. R. Dusch), Bavaria Klinik Kreischa (Fr. Dr. P. Behnert), Lech-Mangfall-Klinik Landsberg (Hr. OA Dr. P. Lauer), BKH Landshut (Hr. Dr. H. Haag), Parkkrankenhaus Leipzig (Hr. Dr. G. Michaelsen), BKH Lohr (Hr. M. Hauschild), BKH Mainkofen (Hr. Dr. U. Kornacher, Hr. Dr. G. Buchinger), BKH Memmingen (OA Dr. T. Pieper), Klinikum Nürnberg Nord (Hr. OA Dr. R. Waimer), BKH Obermain (Hr. OA Dr. A. Baumann), Danuvius Klinik Pfaffenhofen (Hr. Priv.-Doz. Dr. T. Messer), BZK Regensburg (Hr. Dr. M. Wittmann, Hr. Prof. Dr. Dr. E. Haen), BKH Rehau (Hr. Dr. Moder, Fr. Dr. D. Schneidenbach), Main-Kinzig-Klinik Schlüchtern (Fr. S. Franke), Klinik Schönau am Königsee (Hr. OA Dr. R. Dörr), Karl-Friedrich-Flemming Klinik Schwerin (Hr. Dr. L. M. Drach), BKH Straubing (Hr. Dr. R. Müller), Furtbach Krankenhaus Stuttgart (Fr. Dr. D. Gangnus, Fr. Dr. G. Hartmann), Isar-Amper-Klinikum Taufkirchen (Fr. Dr. S. Apelt), Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg (Hr. Dr. C. Steinmann), BKH Werneck (Hr. OA Dr. C.-P. Ostermeier), BKH Wöllershof (Fr. M. Würth)

KinderAGATE:

KJPP BKH Ansbach (Fr. I. Redmane), KJPP Josefinum Augsburg (Hr. F. Daxer), KJPP BKH Bayreuth (Fr. S. Bayer), KJPP BKH Landshut (Fr. E. Kosarian), KJPP Heckscher Klinikum München (Fr. Dr. C. Neuhaus), Klinik Hochried Murnau (Fr. Dr. D. Zakis), Kliniken St. Elisabeth Neuburg a/D (Fr. Dr. B. Helmer), KJPP Klinikum Nord Nürnberg (Hr. Dr. A. Beck), KJPP BKH Regensburg (Fr. Dr. B. Kühn)

* AGATE: Arbeitsgemeinschaft Arzneimitteltherapie bei psychiatrischen Erkrankungen

Die beteiligten Kliniken und Ansprechpartner sind am Ende des Beitrags aufgeführt.

Die Daten des vorliegenden Beitrags wurden im Rahmen eines Vortrags auf dem 7. GESENT-Kongress in Bonn am 2. Dezember 2011 vorgestellt.

Dr. Kerstin Sander, Versorgungsforschung, Kliniken des Bezirks Oberbayern, kbo-Inn-Salzach-Klinikum gemeinnützige GmbH, Gabersee Haus 7, 83512 Wasserburg am Inn, E-Mail: kerstin.sander@iskl.de

Prof. Dr. Gerd Laux, Ärztlicher Direktor, kbo-Inn-Salzach-Klinikum gemeinnützige GmbH, Gabersee Haus 7, 83512 Wasserburg am Inn, E-Mail: gerd.laux@iskl.de

Dipl.-Ing. Ernst Schiller, Fa. SchillerSoft, Am Kohlenschacht 68, 93077 Bad Abbach, E-Mail: schillersoft@aol.com

Dr. Markus Wittmann, Psychiatrische Institutsambulanz, Bezirksklinikum Mainkofen, 94469 Deggendorf, E-Mail: m.wittman@mainkofen.de

Prof. Dr. Dr. Ekkehard Haen, Klinische Pharmakologie, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg, Universitätsstraße 84, 93053 Regensburg, E-Mail: Ekkehard.Haen@medbo.de

Die Psychopharmakotherapie im Internet:

www.ppt-online.de

Für Abonnenten mit Volltextzugriff!

Prescription pattern of psychotropic drugs in psychiatric hospitals: Analysis of the AGATE reference date ascertainment 2008 to 2010. Part 1: Overview

Introduction: Knowledge on the prescription of drugs is essential for pharmacovigilance and therefore for the quality of the safety of pharmacotherapy. Whereas outpatient drug prescriptions at the expense of the statutory health insurance are annually reported in the “Arzneiverordnungsreport”, no pharmacoepidemiological data are available for inpatients. For psychiatric inpatient-centred care the Bavarian pharmacovigilance-system “Arbeitsgemeinschaft Arzneimitteltherapie bei psychiatrischen Erkrankungen” (AGATE) allows the analysis of drug prescription of the participating hospitals.

Methods: Prescription of psychotropic drugs is assessed at two reference dates per year including diagnoses and demographic information. The six reference dates of the years 2008 to 2010 are accounted for analysis. Anonymized data on age, sex, primary diagnosis, prescribed pharmaceuticals including the doses are collected from patients being in psychiatric inpatient care at that reference date.

Results: In total, data from about 42,000 patients were available for the years 2008 to 2010, mostly from Bavarian hospitals. In the period under consideration an increase of the primary diagnoses affective disorders (F3) and neurotic, stress-related and somatoform disorders (F4) was observed, whereas schizophrenia, schizotypical and delusional disorders (F2), mental and behavioural disorders due to psychoactive substance use (F1) and organic, including symptomatic, mental disorders (F0) decreased. Among the 10 leading drugs were the antidepressants citalopram, escitalopram, mirtazapine and venlafaxine and the neuroleptics haloperidol, olanzapine, pipamperone, quetiapine and risperidone. All dosages prescribed conformed to the approved range.

Conclusions: Psychiatric inpatients appear to be cautiously dosed with psychotropic drugs. Remarkable is the frequency of polypharmacy, which demands very good knowledge of the pharmacology of drug interactions.

Key words: AGATE, drug interaction, pharmacovigilance, psychotropic drug prescription

Psychopharmakotherapie 2012; 19(04)