Die „Nikolaus-Entscheidung“ 2011 des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg in Sachen Cipralex®-Festbetrag


Stärkung der Rechtsposition der Hersteller patentgeschützter Medikamente und damit eines innovativen Arzneimittelwesens in Deutschland

Hans-Jürgen Möller, München, und Gerd Laux, Wasserburg a. Inn/München

Am 6. Dezember 2011 hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg die aufhebende Wirkung der Klage der Firma Lundbeck gegen die Festsetzung eines Festbetrages für das Arzneimittel Cipralex® (Wirkstoff Escitalopram) angeordnet [2]. In dem Verfahren trat die Firma Lundbeck als Antragstellerin auf. Die Antragsgegnerin war der GKV-Spitzenverband, unterstützt vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Die Festbetragsfestsetzung durch den GKV-Spitzenverband bezieht sich auf die diesbezüglichen Bewertungen und Beschlüsse des G-BA. Der G-BA setzt sich zusammen aus Repräsentanten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der gesetzlichen Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und, im Sinne beratender Mitgliedschaft, Vertretern von Patienten-Organisationen.

Obwohl diese Entscheidung des Gerichts nicht das Urteil im Hauptsacheverfahren ist und es nicht prinzipiell die Entscheidung im Hauptsacheverfahren determiniert, so scheint es doch gewisse Prognosen über das Urteil im Hauptsacheverfahren zuzulassen und ist daher von Bedeutung.

Inhaltlich ist es beruhigend zu sehen, dass in einem Medikamentenhersteller-kritischen Gesamtumfeld, in dem zunehmend die ökonomischen Vorteile der Hersteller patentgeschützter Präparate eingeschränkt werden, indem die Höherpreisigkeit therapeutisch verbesserter patentgeschützter Präparate durch Festbetragsgruppenbildung unterlaufen und damit der „return of investment“ vorzeitig begrenzt wird, eine solche Entscheidung gefällt wird. Denn nur dann können patentgeschützte Arzneimittel in das Festbetragssystem einbezogen werden, wenn ihre Wirkungsweise nicht neuartig ist oder sie keine therapeutische Verbesserung bedeuten. In der beschriebenen Unterminierung des Patentschutzes sah das Gericht vordergründig finanzielle Vorteile für die gesetzlichen Krankenkassen und damit für die „Allgemeinheit“ entstehen, langfristig aber die Möglichkeit erheblicher Nachteile in dem Sinne, dass zunehmend Hersteller patentgeschützter Präparate diese nicht mehr auf den deutschen Markt bringen werden und damit der deutsche Psychopharmakamarkt an Innovationen und therapeutischen Verbesserungen „ausblutet“.

Unter rechtlichen Aspekten macht der gerichtliche Beschluss grundsätzlich deutlich, wie hoch die Rechtsposition der Hersteller patentgeschützter Medikamente ist und dass die (ökonomischen) Vorteile des Patentschutzes nicht durch andersgerichtete Maßnahmen des Gesundheitssystems, die eine möglichst kostengünstige Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen zum Ziel haben, prinzipiell unterlaufen werden dürfen. Das Gericht betont in präziser Detailarbeit, dass eine Beschränkung der ökonomischen Vorteile für Hersteller von Originalpräparaten, die unter anderem aus dem Patentschutz für innovative Medikamente resultieren, im Rahmen eines Festbetragsverfahrens nur unter strenger Berücksichtigung aller relevanten juristischen und fachlichen Aspekten erlaubt ist.

Der Beschluss des Gerichts gibt Hoffnung, dass eine weitere ungünstige Entwicklung erschwert werden kann und den pharmazeutischen Unternehmen in einer ohnehin kritischen Phase der Psychopharmaka-Entwicklung eine relative Rechtssicherheit gegeben wird in dem Sinne, dass weiterhin die Herstellung innovativer Medikamente die für die Unternehmen ökonomisch unabdinglichen finanziellen Anreize mit sich bringt.

Wegen seiner besonderen Stellung im Gesamtkontext und wegen der Sorgfalt und Exzellenz der juristischen Argumentation scheint es deshalb sinnvoll, diesen gerichtlichen Beschluss mit seinen Hintergründen und Argumentationen im Detail darzustellen und zu kommentieren.

Verfahrensablauf und Argumentationsstränge

Die Antragstellerin in diesem Verfahren, die Firma Lundbeck, vertreibt das Medikament unter der Bezeichnung Cipralex® mit dem Wirkstoff Escitalopram. Cipralex® ist nach den Fachinformationen zugelassen zur

  • Behandlung von Episoden einer Major Depression
  • Behandlung von Panikstörungen mit oder ohne Agoraphobie
  • Behandlung von sozialen Angststörungen (sozialer Phobie)
  • Behandlung generalisierter Angststörungen
  • Behandlung von Zwangsstörungen

Für Escitalopram genießt die Firma Lundbeck noch bis zum 1. Juni 2014 Patentschutz im Rahmen des ursprünglichen Patentschutzes sowie durch das ergänzende Schutzzertifikat DE 103 99 030.

Für den Wirkstoff Citalopram, als Originalsubstanz ebenfalls von der Firma Lundbeck entwickelt und auf dem Markt unter dem Namen Cipramil®, zugelassen seit dem 1. Juni 1989, gibt es seit 2003 keinen Patentschutz mehr. Citalopram wird deswegen von verschiedenen Firmen als niedrigpreisiges Generikum verkauft. Es hat laut Fachinformationen die Zulassung für die:

  • Behandlung depressiver Erkrankungen
  • Behandlung von Panikstörungen mit oder ohne Agoraphobie

Citalopram ist ein Razemat; es besteht je zur Hälfte aus dem rechtsdrehenden Enantiomer (R-Citalopram) und dem linksdrehenden Escitalopram. Erst im Verlauf der pharmakologischen Entwicklung und Forschung zeigte sich, dass das rechtsdrehende Enatiomer (R-Citalopram) nicht nur pharmakologisch inaktiv ist, sondern sogar eine hemmende Wirkung auf den Effekt des linksdrehenden Escitalopram hat und dadurch die Gesamtwirksamkeit von Citalopram negativ beeinflusst. In dem Zusammenhang wurde das Konzept einer weiteren Bindungsstelle entwickelt [1].

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) mit seinem Unterausschuss Arzneimittel (Beigeladener in dem Verfahren) beschloss am 8. Dezember 2009 ein Stellungnahmeverfahren über die Änderung der Arzneimittelrichtlinien (AM-RL) mit der Absicht, eine Festbetragsgruppe „Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, Gruppe 1 in Stufe 2“ zu schaffen, gebildet aus den Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Citalopram und Escitalopram.

Mit Schreiben vom 2. Februar 2010 wurde das schriftliche Stellungnahmeverfahren eingeleitet. Die Firma Lundbeck erhob in einer wissenschaftlichen Stellungnahme vom 4. März 2010 unter anderem die folgenden Einwände:

  • Der patentgeschützte Wirkstoff Escitalopram sei gegenüber Citalopram eine therapeutische Verbesserung. Dies zeige sich nicht nur an den Zielgrößen Response und Remission, vielmehr komme es auch zu einer stärkeren durchschnittlichen Verbesserung der depressiven Symptomatik, einem früheren Wirkungseintritt und zu einer Reduzierung der Nebenwirkungen.
  • Die therapeutische Überlegenheit sei bei schwer Depressiven besonders groß.
  • Escitalopram verfüge über zusätzliche Indikationen im Vergleich zu Citalopram. Citalopram hingegen weise ein größeres Spektrum von Kontraindikationen im Vergleich zu Escitalopram auf.

Die Firma Lundbeck rügte obendrein die Vergleichsgrößenermittlung nach §35 Abs.31 S. 5 SGB V anhand der verordnungsgewichteten Einzelwirkstärken. Bei Festbetragsgruppen wie im vorliegenden Fall der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) mit Wirkstoffen unterschiedlicher Indikationen mit unterschiedlichen Dosierungen führe das derzeitige Berechnungsverfahren des G-BA zu falschen Ergebnissen. Wenn nämlich unterschiedliche Schweregrade, beziehungsweise zusätzliche Indikationen, verschiedene Dosierungen erforderlich machen, führe diese Berechnungsart zu unplausiblen Ergebnissen. Neben der Unplausibilität hätte dies auch ökonomische Konsequenzen. So erhielten Wirkstoffe, die in höheren Dosierungen pro Einheit (u.a. Tablette) beispielsweise zur Behandlung besonders schwer Erkrankter verwendet werden, methodisch immer eine rechnerisch ungünstige Vergleichsgröße und in der Folge einen zu niedrigen Festbetrag.

Daraufhin beschloss der Unterausschuss Arzneimittel des G-BA am 6. April 2010 ein neues Stellungnahmeverfahren einzuleiten. In dem Zusammenhang wies die Firma Lundbeck in ihrem Schreiben vom 26. Mai 2010 auf den mittlerweile erstrittenen weiteren Patentschutz für Escitalopram hin. Ferner reichte sie unter dem 29. September 2010 ein „Amendment 01“ ein und wies auf drei zwischenzeitlich publizierte Metaanalysen und Studien zu der aus ihrer Sicht überlegenen Wirksamkeit von Escitalopram hin. Eine vor dem Unterausschuss Arzneimittel des G-BA durchgeführte mündliche Anhörung fand am 11. Januar 2011 statt. Am 17. Februar 2011 beschloss der G-BA die Neubildung der Festbetragsgruppen „Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, Gruppe 1 in Stufe 2“ und setzte als Vergleichsgrößen für den Wirkstoff Citalopram 23,7 und für den Wirkstoff Escitalopram 13,7 fest. In den „tragenden Gründen“ zum Beschluss heißt es, der Unterausschuss Arzneimittel sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die vorgeschlagene Neubildung der Gruppe die Voraussetzungen für eine Festbetragsgruppenbildung nach §35 Abs.31 Satz 1 Nr. 2 SGB V erfülle (vgl. Zusammenfassende Dokumentation, Stand 21.07.2011, veröffentlicht unter www.gba.de/downloads/40-268-1586/2011-02-17_AM-RL-IX-X_SSRI_ZD.pdf, S. 4).

Darauf basierend beschloss der GKV-Spitzenverband (Antragsgegner in dem Verfahren) am 8. März 2011, ein Anhörungsverfahren zur konkreten Festbetragsfeststellung einzuleiten. Die Firma Lundbeck nahm mit Schreiben vom 4. April 2011 gegenüber dem GKV-Spitzenverband erneut Stellung und betonte unter anderem erneut die therapierelevante Überlegenheit hinsichtlich der Wirksamkeit und der Verträglichkeit von Escitalopram im Vergleich zu Citalopram. Die Stellungnahme verdeutlichte, dass der vorgesehene Festbetrag von 15,01 Euro für die Standardeinheit im Ergebnis dazu führe, dass die Firma Lundbeck keine Handelsform von Escitalopram zum Festbetrag zur Verfügung stellen kann und alle auf Escitalopram eingestellten GKV-Patienten somit Aufzahlungen leisten oder auf andere Wirkstoffe umgestellt werden müssten. In diesem Zusammenhang wurde noch einmal die Ermittlung der Vergleichsgrößen für die Festbetragsermittlung kritisiert, auch im Hinblick auf den Effekt, dass dadurch ein zu niedriger Festbetrag für Escitalopram festgelegt werde.

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) teilte mit Schreiben vom 15. April 2011 mit, den Beschluss zur Gruppenneubildung nicht zu beanstanden. Der Beschluss wurde im Bundesanzeiger bekannt gemacht. Der GKV-Spitzenverband beschloss am 2. Mai 2011 einen Festbetrag von 15,01 Euro für Citalopram und Escitalopram. Der Beschluss wurde im Bundesanzeiger Nr. 71 vom 10. Mai 2011 bekanntgegeben.

Die Firma Lundbeck erhob dagegen am 19. Mai 2011 Klage vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (AZ: L 1 KR 140/11 KL) [2]. Neben diesem Hauptverfahren stellte sie ferner am 30. Juni 2011 den Antrag auf Anordnung einer aufschiebenden Wirkung dieser Klage, also den Antrag für das hier entschiedene Verfahren. Dabei verwies sie auf die in den vorhergehenden Schriftsätzen dargestellten Argumente, insbesondere zur therapeutischen Überlegenheit und besseren Verträglichkeit von Escitalopram gegenüber Citalopram. Außerdem betonte sie, dass eine Einbeziehung von Escitalopram in die Festbetragsgruppe eine medizinisch notwendige Verordnungsalternative für diejenigen Patienten erfordern würde, die auf Escitalopram angewiesen seien, weil sie an sozialen Phobien, generalisierten Angststörungen oder Zwangsstörungen leiden oder gleichzeitig mit dem Neuroleptikum Pimozid behandelt werden oder die eine stark eingeschränkte Nierenfunktion haben. Im weiteren Verlauf dieses Schriftsatzes ging die Firma Lundbeck kritisch im Detail auf die Argumentation des G-BA ein, welche schlussendlich zu einer Festbetragsgruppenbildung geführt hatte. Schließlich wies sie auf die ökonomischen Folgen der Festbetragsfestsetzung hin. Der Absatz von Cipralex® (die Firma hatte den Preis nicht gemäß dem Festbetrag gesenkt) sei seit Juni 2011 stark eingebrochen, in der Größenordung eines Absatzrückgangs von rund 90 %.

Der GKV-Spitzenverband beantragte, den Antrag der Firma Lundbeck abzuweisen, da eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der Festbetragsfestsetzung nicht ersichtlich sei. Es müsse deshalb bei der Festbetragsfestsetzung wegen angeordneten Vorrangs des Vollzugsinteresses verbleiben. Bereits die Komplexität, insbesondere des medizinischen Sachverhaltes, schließe eine auch nur summarische Prüfung der Rechtsmäßigkeit aus. Die Versorgung von Patienten, die unter sozialen Phobien, generalisierten Angststörungen oder Zwangsstörungen litten, sei durch andere Arzneimittel möglich, gleiches gelte ebenso für Patienten mit einer stark eingeschränkten Nierenfunktion. Zur Behandlung all dieser Störungen sei Escitalopram nicht zwingend erforderlich. Im Übrigen sei die Gruppenbildung rechtsmäßig, da als medizinisch notwendige Versorgungsalternativen auch Arzneimittel aus anderen Wirkstoffgruppen oder auch Maßnahmen, die ohne Arzneimitteltherapie zur Erreichung des therapeutischen Ziels führten, zur Verfügung ständen. Zwar könnten Fertigarzneimittel, die ein singuläres Anwendungsgebiet besäßen, von der Festbetragsfestsetzung freigestellt werden, wenn es innerhalb einer Festbetragsgruppe kein weiteres Arzneimittel gäbe, das über dieses singuläre Anwendungsgebiet hinaus ein Anwendungsgebiet mit einem anderen Fertigarzneimittel der Gruppe teile und dieses insoweit eine Verbindung zum gemeinsamen Anwendungsgebiet herstelle. Escitalopram besitze aber kein solches singuläres Anwendungsgebiet. Denn hierfür sei nicht ausreichend, dass das Arzneimittel für die zusätzlichen Indikationen soziale Phobien, generalisierte Angststörungen und Zwangsstörungen zugelassen sei, für die andere Arzneimittel dieser Gruppe mit dem Wirkstoff Citalopram nicht zugelassen seien. Es bestünden für diese zusätzlichen Indikationen Verordnungsalternativen. Auch gehe die Argumentation der Firma Lundbeck in Richtung therapeutische Überlegenheit und bessere Verträglichkeit ins Leere. Es gäbe keine ausreichenden Hinweise für eine therapeutische Überlegenheit und bessere Verträglichkeit von Escitalopram gegenüber Citalopram im Sinne der evidenzbasierten Medizin.

Auch der G-BA beantragte, den Antrag der Firma Lundbeck abzuweisen. Er betonte, dass das von ihm durchgeführte Prüfverfahren methodisch nicht zu beanstanden sei, und wies ebenfalls darauf hin, dass es keinen belegbaren Beweis einer therapeutischen Überlegenheit von Escitalopram gegenüber Citalopram gäbe. Das umfassende Indikationsspektrum von Escitalopram steht nach Ansicht des G-BA einer therapeutischen Vergleichbarkeit nicht entgegen: Nach §21 Abs.32 S. 2 VerfO reiche es nicht aus, dass ein Fertigarzneimittel neben dem gemeinsamen Anwendungsgebiet die Zulassung für eine weitere Indikation besitze, um eine Festbetragsregelung auszuschließen. In den Fällen, in denen es für das gemeinsame Anwendungsgebiet verordnet würde, würde sonst eine Privilegierung gegenüber den anderen Arzneimitteln eintreten. Da die Indikation für die konkrete Verordnung weder der abgebenden Apotheke noch der Krankenkasse bekannt sei, könne so alleine durch die Angabe weiterer Indikationen ein nicht der Festbetragsregulierung unterworfener Preis zulasten der gesetzlichen Krankenkassen erzielt werden. Eine solche unbeschränkte Privilegierung habe der Gesetzgeber nicht gefordert, wenn er ausdrücklich eine Gruppenbildung auf der Ebene pharmakologisch-therapeutischer vergleichbarer Wirkstoffe ermöglicht habe (Bezugnahme auf BT-Drucksache 16/94 S. 8). Ferner bezog sich der G-BA in seiner Argumentation darauf, dass er nicht abweiche von den publizierten Bewertungen durch andere namhafte Institutionen. Weder im Rahmen der S3-Leitlinie zur Behandlung unipolarer Depressionen noch in der aktuellen Version diesbezüglicher Leitlinien werde Escitalopram als dem Citalopram vorzuziehender Wirkstoff beschrieben. Vielmehr würden die verschiedenen Wirkstoffklassen miteinander verglichen und Escitalopram mit weiteren selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern zusammengefasst. Die „NICE Guideline on the Treatment and Management of Depression in Adults“ berichte zwar über geringe statistisch signifikante Unterschiede zwischen Escitalopram und anderen SSRI, ohne dem aber Bedeutung beizumessen. Die Unterschiede hinsichtlich der unerwünschten Arzneimittelwirkungen verschiedener SSRI seien allerdings bedeutsam.

Grundsätzliche medizinische und psychopharmakologische Fragen

In der von den Verfahrensbeteiligten vorgetragenen Argumentation treten aus medizinisch-psychopharmakologischer Sicht eine Reihe von prinzipiellen Darstellungen/Probleme auf, die nachfolgend noch einmal kurz zusammengefasst werden:

  • Was ist bessere Wirksamkeit und wie wird sie empirisch belegt?
  • Was ist bessere Verträglichkeit und wie wird sie empirisch belegt?
  • Wie ist in diesem Zusammenhang der Stellenwert von Einzelstudien zu sehen?
  • Haben nur Einzelstudien mit höchster methodischer Stringenz ausreichende Aussagekraft?
  • Welchen Stellenwert haben Metaanalysen?
  • Welche methodischen Probleme weisen Metaanalysen im Hinblick auf den Ausschluss von Studien auf?
  • Wie ist Heterogenität im Hinblick auf die Aussagekraft zusammengefasster metaanalytischer Studienergebnisse zu bewerten?
  • Bedeutet die Bezugnahme auf die evidenzbasierte Medizin eine Vorrangstellung für metaanalytische Ergebnisse, oder sind weiterhin auch die Ergebnisse aus relevanten methodisch guten Einzelstudien in der Argumentation zu berücksichtigen?
  • Welche Wirksamkeitsunterschiede/Verträglichkeitsunterschiede sind klinisch relevant?
  • Wie kann eine äquivalente Dosis bei Prüfung von zwei wirksamen Substanzen festgelegt werden?
  • Gibt ein breiteres Spektrum der Indikationen eines zugelassenen Präparates Hinweise auf ein breiteres Wirkspektrum?
  • Sind Studien, die in Osteuropa durchgeführt wurden, Studien aus Westeuropa/USA in ihrer Zuverlässigkeit und Aussagekraft ebenbürtig?

Aus Platzgründen kann auf diese wichtigen Fragestellungen nicht im Detail eingegangen werden, stattdessen werden nachfolgend nur ein paar zentrale Punkte berücksichtigt.

Stellenwert des Studiendesigns

Aus psychopharmakologischer Sicht liefern Studien mit höherer methodischer Qualität mit großer Wahrscheinlichkeit eindeutige und solide Aussagen [3–5], gleichzeitig haben sie wegen des reduktionistischen Ansatzes (unter anderem strenge Ein- und Ausschlusskriterien, Abweichungen von üblichen klinischen Vorgehensweisen) Probleme in der Generalisierbarkeit auf die Gegebenheiten der klinischen Alltagssituation (interne Validität gegen externe Validität). Deshalb sind Studien mit weniger restriktiven Ansätzen, sogenannte „real world“-Studien oder naturalistische nichtinterventionelle Studien, komplementär zu berücksichtigen. Allerdings bedürfen insbesondere naturalistische „Anwendungs-Beobachtungsstudien“ (AWBs) einer besonders vorsichtigen Interpretation. Neuerdings werden – auch vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) – anstelle von AWBs klinische Prüfungen mit weiter gefassten Einschluss- und weniger Ausschlusskriterien, sogenannte „randomized pragmatic trials“ vorgeschlagen, die methodisch anspruchsvoller, aber praxisgerechter sind [6]. Auch der „comparative effectiveness research“-Ansatz findet aus den gleichen Gründen Eingang in die klinische Prüfungspraxis. Während Zulassungsbehörden weiterhin in ihrer Argumentation vorrangig auf methodisch wertvolle Einzelstudien abzielen [3, 7] und daraus die relevanten Schlussfolgerungen für Wirksamkeit und Verträglichkeit ziehen, wird in der evidenzbasierten Medizin (EbM) und auch in vom EbM-Ansatz getragenen Leitlinien der metaanalytischen Zusammenfassung von Studienergebnissen der Vorzug gegeben [5, 8]. Für beide Gesichtpunkte lassen sich Argumente finden. Während der Fokus auf Einzelstudien mehr dem experimentellen Ansatz im Sinne von Generierung von Untersuchungsergebnissen und ihrer Replikation entspricht, hat der metaanalytische Ansatz mehr die operationalisierte mathematisch-statistische Zusammenschau aller verfügbaren Studiendaten im Auge [9]. Einer zu einseitigen Bevorzugung des metaanalytischen Ansatzes ist entgegen zu halten, dass auch Metaanalysen je nach Ein- und Ausschluss von Studien sowie auch nach jeweils angewandter Methodik, nicht Bias-frei sind und im Hinblick auf die Ergebnisse im Prinzip durchaus manipulierbar sind [10–12].

Klinische Relevanz der Unterschiede

Das Problem „der klinischen Relevanz“ von Unterschieden in der Wirksamkeit oder Verträglichkeit ist bisher nicht einheitlich geregelt. Das NICE schlägt einen Mittelwertsunterschied von mindestens drei HAMD-Scorepunkten bei Antidepressiva vor. Dies ist aber eine arbiträre Größenordnung, die obendrein von den meisten Antidepressiva nicht einmal im Vergleich zum Plazebo, geschweige denn im Vergleich zu einem Standardantidepressivum, erreicht wird [11]. Entscheidender ist aus der Sicht von Zulassungsbehörden, dass sich der im Mittelwertsunterschied dargestellte Wirksamkeitsunterschied auch in Häufigkeitsunterschieden hinsichtlich der kategorialen Wirksamkeitsmaße (response, remission) ausdrückt. Als weiteres Kriterium für klinische Relevanz wird die „Number needed to treat“ (NNT) angesehen. Aus klinischer Sicht ist wichtig, an Unterschiede zwischen zwei wirksamen Substanzen, also beispielsweise zwei Antidepressiva, nicht die gleichen Erwartungen anzusetzen wie hinsichtlich der Unterschiede zwischen einem wirksamen Präparat und einem Plazebo. Bei dem Vergleich von zwei wirksamen Präparaten sollte bereits ein wesentlich geringerer Unterschied als klinisch relevant gelten als beim Vergleich mit einem Plazebo, zum Beispiel könnte bereits die Hälfte der Plazebo-Verum-Unterschiede als „klinisch relevant“ angesehen werden [13].

Ermittlung äquivalenter Dosierungen

Zur Frage der Festlegung der Dosisäquivalenz im Rahmen von Vergleichsstudien von zwei wirksamen Substanzen gibt es keine allgemein anerkannte „Festlegung“. Immer sind die diesbezüglichen Studien einerseits von dem Vorwurf bedroht, dass für die Vergleichssubstanz eine zu hohe Dosierung festgelegt wurde, um sie als möglicherweise stärker nebenwirkungsbelastet erscheinen zu lassen, oder dass die Dosis zu niedrig festlegt wurde, um diese Problematik zu vermeiden, womit die Vergleichssubstanz dann aber als möglicherweise wenig wirksam erscheint. Es ist schwer, zwischen diesen beiden Extremen ein richtiges Mittelmaß zu finden.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob man, sofern schon Zulassung besteht, jeweils die höchste zugelassene Dosierung vergleicht, oder ob man Dosierungen vergleicht, die besonders häufig eingesetzt werden. Bei der Prüfung des wirksamen Enantiomers aus einem Razemat von zwei Enantiomeren scheint aus Plausibilitätsgründen eine Prüfung im Verhältnis 1:2 prinzipiell sinnvoll und fair.

Breites Indikationsspektrum = breites Wirkungsspektrum?

Die Frage, ob ein breiteres Indikationsspektrum Hinweise auf eine bessere oder komplexere Wirksamkeit gibt, ist wegen fehlender Daten nicht abschließend zu beantworten. Es kann aber vermutet werden, dass für die Breite des Indikationsspektrums häufig eher entscheidend ist, ob ein Pharmahersteller ein Medikament in allen möglichen Indikationen geprüft hat oder ob er sich aus pragmatischen und ökonomischen Gründen nur auf einige wenige Indikationen konzentriert hat.

Wert von osteuropäischen Studien

Die Frage, ob Studien aus Osteuropa als gleichwertig mit Studien aus Westeuropa betrachtet werden können, kann man dahingehend beantworten, dass Studien in Osteuropa zunehmend unter Beachtung der gleichen Regularien durchgeführt werden und somit auch die Ergebnisse prinzipiell als gleichwertig anzusehen sind [14]. Es gibt sogar interessante Hinweise, dass es bei kontrollierten Studien zu Antidepressiva und Antipsychotika in Osteuropa besser gelingt, signifikante Unterschiede zu zeigen, da offenbar die Studienpopulationen in diesen Ländern besser zum Wirksamkeitsnachweis geeignet sind.

Grundsätzliche juristische Fragen

Im Verfahren wurden auch eine Reihe juristischer Fragen und Probleme angesprochen, beispielsweise

  • Was ist in solchen Verfahren zur Festbetragsgruppenregelung gerichtlich überprüfbar und was nicht?
  • Welches Verfahrenergebnis ist vorrangig: die Festbetragsregelung oder die Infragestellung dieses Ergebnisses in einer Klage mit aufschiebender Wirkung?
  • Wie findet man eine adäquate Lösung bei der Abwägung der rechtlichen Sicherung der Ansprüche der pharmazeutischen Unternehmen gegenüber der rechtlichen Sicherung der Ansprüche der gesetzlichen Krankenkassen?

Das Gericht hat zu diesen juristischen Aspekten eindeutig Stellung genommen, es wird deshalb bei der Darstellung der Entscheidung darauf eingegangen.

Wesentliche Argumente und Feststellungen des Gerichtsbeschlusses

Zulässigkeit des Antrags

In diesem Verfahren war über den Antrag auf aufschiebende Wirkung der Klage im Hauptsacheverfahren zu entscheiden. Der Antrag wurde vom Gericht im Sinne eines vorläufigen Rechtschutzverfahrens als zulässig angesehen [2]. Dabei vertritt der Senat die Auffassung, dass der Arzneimittelhersteller grundsätzlich geltend machen könne, durch eine Festbetragsfestsetzung in seinen Grundrechten nach Art. 19 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 12 GG verletzt zu werden, indem ein erheblicher Wettbewerbsnachteil behauptet wird.

Unter Bezug auf Entscheidungen des Bundessozialgerichts und des Bundesverfassungsgerichts diskutierte das Gericht, inwiefern eine Festbetragsfestsetzung für einen Arzneimittelhersteller einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) oder gegen das Grundrecht auf Berufsausübung (Art. 12 GG) darstellen könne. Letztlich erkannte das Gericht zwar keine Verletzung des Grundrechts auf Berufsausübung; indirekt stehe jedoch für pharmazeutische Hersteller, deren Geschäftsmodell darauf beruhe, neue Arzneimittel zu entwickeln, und die sich nicht auf die bloße Herstellung beschränken, die gesamte Berufsausübung auf dem Spiel. Wenn sich die Forschung nicht lohne, weil die mit patentgeschützten Arzneimitteln zu erziehenden Gewinne zu gering ausfallen, habe die Forschung aus ökonomischer Sicht für die Hersteller neuer Medikamente keinen Sinn. Das Gesetz differenziere selbst in diesem Sinne, indem es den Patentschutz als ein Kriterium unter anderen für den Ausschluss einer Festbetragsgruppebildung vergibt. Die rechtswidrige Festbetragsfestsetzung wirke sich insoweit auf eine grundrechtliche geschützte Freiheit aus.

Prinzipiell sah das Gericht nach einer komplizierten juristischen Argumentation in der Festbetragsfestsetzung eher einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art.3 Abs.1 GG), der auch für juristische Personen gilt (Art.19 Abs.3 GG) und, so das Gericht, gebietet, „wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln“.

Die Antragstellerin könne geltend machen, dass durch die Festbetragsgruppenfeststellung sachwidrig und damit willkürlich in den Wettbewerb zwischen den Arzneimittelherstellern der Antidepressiva eingegriffen worden sei, nachdem ihr Medikament Cipralex®, mit seinem patentgeschützten Wirkstoff trotz der mit seiner Verwendung verbunden therapeutischen Vorteile […] in eine Festbetragsgruppe mit dem Konkurrenzwirkstoff Citalopram verbunden worden sei. Der Wettbewerb sei zu Lasten der Firma Lundbeck und zu Gunsten der Vertreiber von Citalopram verfälscht worden. Ihr Umsatz sei zudem unstrittig eingebrochen, weil Cipralex® aufgrund der zu leistenden Eigenbeträge über dem Festbetrag nicht mehr nachgefragt werde.

Entscheidung zur Sache

In der Kernaussage des Gerichts wird dann festgestellt, dass das Interesse der Firma Lundbeck, von einem Sofortvollzug der Festbetragsfestsetzung verschont zu bleiben, vorrangig sei vor dem Sofortvollzug der Festbetragsgruppenfestlegung, denn es bestehe auch konkret kein öffentliches Interesse am Sofortvollzug. Nach Auffassung des Gerichts sei von rechtswidrigen Voraussetzungen der Festbetragseingruppierung auszugehen, die voraussichtlich keinen Bestand haben werde, weil sie auf einem fehlerhaften Beschluss des Beigeladenen fuße. Es seien nach summarischer Prüfung beachtliche Mängel bei der Zusammenstellung des Beurteilungsmaterials feststellbar. Dies gelte auch, wenn der Beigeladene, nach Korrektur der festgestellten Mängel im Rahmen seines Beurteilungsspielraums, möglicherweise bei seiner Auffassung bleibe. Ausdrücklich stellt das Gericht fest, dass die Firma Lundbeck aufgrund der dargelegten Überlegungen in ihrem subjektiven Recht verletzt wurde. Der Senat sah dabei den Sachverhalt als soweit geklärt an, dass zu entscheiden war.

Das Gericht gibt eine sehr umfangreiche und detailreiche Begründung für seine Entscheidung.

Fehler bei der Bewertung durch den G-BA

In der Beschlussbegründung legt das Gericht Bewertungsfehler des G-BA in seiner Auffassung, dem Escitalopram eine therapeutische Verbesserung in der Depressionsbehandlung abzusprechen, dar. Ein höherer Nutzen könne unter anderem auch eine Verringerung der Häufigkeit oder des Schweregrads von Nebenwirkungen sein. Nachweise einer therapeutischen Verbesserung erfolgen nach Meinung des Gerichts aufgrund der Fachinformationen und durch Bewertung von klinischen Studien nach methodischen Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin, soweit diese Studien allgemein verfügbar seien und ihre Methodik internationalen Standards entspreche. Vorrangig seien klinische Studien, insbesondere direkte Vergleichsstudien mit anderen Arzneimitteln dieser Wirkstoffgruppe, mit patientenrelevanten Endpunkten.

Das Gericht stellt fest, dass der G-BA in seiner Bewertung einer fehlenden therapeutischen Verbesserung fehlerhafte beziehungsweise nicht nachvollziehbare Erwägungen zu Grunde gelegt habe. Jede einzelne stelle für sich betrachtet einen relevanten Beurteilungsfehler dar. Dies wird dann im Einzelnen vom Gericht ausgeführt, kann aber nachfolgend aus Platzgründen nur summarisch dargestellt werden.

Dass der G-BA Escitalopram eine therapeutische Verbesserung abspreche, beruhe im Wesentlichen auf der These, die mit Escitalopram erzielte Verbesserung der Wirksamkeit auf die Depressionssymptomatik erreiche keine klinische Signifikanz beziehungsweise keine klinische Relevanz und die Studienergebnisse seien unhomogen. Diese Schlussfolgerung sei im Detail nicht nachzuvollziehen. In diesem Bewertungsverfahren seien für die Bewertung der Studienergebnisse zum Teil andere Wertungen angewandt worden als zum Beispiel im Verfahren zur Bewertung von Reboxetin durch das IQWiG und den G-BA, so beispielsweise im Hinblick auf das noch zugelassene Ausmaß von Heterogenität der Studienergebnisse.

Die These des G-BA zur Unbrauchbarkeit der Metaanalyse Saeterdal et al. [15] ist nach Auffassung des Gerichts nicht nachvollziehbar und deshalb fehlerhaft. Dass diese Metaanalyse aus dem Jahr 2007 stammte und deshalb [wegen der zwangsläufig begrenzten Zahl eingeschlossener Studien] eine limitierte Aussagekraft habe, sei zwar richtig; diese Tatsache könne aber nicht per se zu der Feststellung führen, dass diese Metaanalyse keine Auswirkung auf die Festbetragsgruppenbildung habe.

Besondere Details der Studie von Yevtushenko et al. [16] waren für den G-BA Anlass zum Ausschluss dieser Studie. Nach Ansicht des Gerichts sind aber „die beiden maßgeblichen Thesen, die (zu) guten Studienergebnisse seien kritisch zu hinterfragen und die Studie sei nicht (bzw. fraglich) auf Deutschland zu übertragen“ nicht nachvollziehbar bzw. enthalten sachwidrige Gesichtspunkte. Kritisch betont das Gericht, das sehr sorgfältig auf die einzelnen Argumente eingeht, zusammenfassend, dass eine Studie nicht allein aufgrund ihrer vermeintlich zu guten Ergebnisse ausscheiden müsse. Im direkten Anschluss daran heißt es dann, soweit der G-BA nunmehr im gerichtlichen Verfahren vortrage, statistische Ausreißer müssten immer aussortiert werden, werde dies wegen mangelnder Einlassung, ab wann ein statistischer Ausreißer vorläge, zurückgewiesen. Weiterhin akzeptiert das Gericht nicht die grundsätzliche Hinterfragung der Validität von Studien aus Russland mit den vom G-BA vorgebrachten Argumenten (andere Versorgungssituation in Russland, z.B. linguistische Probleme der Beurteilungsskala).

Der Ausschluss der Cochrane-Metaanalyse von Cipriani et al. 2009 [19] mit dem Hinweis zu großer Heterogenität sei nicht nachvollziehbar, zumal hinsichtlich der Heterogenität mit unterschiedlichen Grenzwerten gearbeitet werde. Das Gericht schließt sich den Vorhaltungen der Antragstellerin an, nicht untersucht zu haben, welche Konsequenzen die Herausnahme der Studie von Yevtushenko et al. (die der G-BA ja nicht gelten lassen wollte) für die Homogenität der Metaanalyse ergäbe. Diese Metaanalyse kommt zu dem Schluss einer besseren Wirksamkeit von Escitalopram im Vergleich zu Citalopram [19]. Eine zweite Metaanalyse von Cipriani et al. [18], welche die Wirksamkeit und Verträglichkeit von 12 neuen Antidepressiva vergleicht, findet ebenfalls (ohne Berücksichtigung der Yevtushenko-Studie) einen therapeutischen Vorteil von Escitalopram gegenüber Citalopram.

Das Gericht kritisiert unter anderem auch die unklare Darstellung des G-BA hinsichtlich des Begriffs „klinische Relevanz“.

Insbesondere die Forderung des G-BA, die Prüfung von zugelassenen Maximaldosierungen (für Citalopram 60 mg/Tag, für Escitalopram 20 mg/Tag) sei notwendig, wird durch das Gericht zurückgewiesen. Es sei durchaus sachgerecht, die klinisch relevante Dosierung zu vergleichen, da die Citalopram-Höchstdosis von 60 mg unter klinischen Gesichtspunkten fraglich und diese sogar in den USA verboten sei.

Diese Argumentation kann aus Sicht der Verfasser nach dem diesbezüglichen „Rote-Hand-Brief für Citalopram“ zur Gefahr von QTc-Verlängerung und der inzwischen erfolgten Aufhebung der Zulassung für diese Dosierung nur zugestimmt werden. Das Gericht fragt in diesem Zusammenhang kritisch, ob eine solche Studie mit Höchstdosierungen überhaupt mit den ethischen Anforderungen an Versuche mit kranken Menschen vereinbar wäre.

Das Gericht stellt fest, dass die dem Festbetragsbeschluss zugrunde liegende Annahme, es gäbe keine relevanten Unterschiede zwischen Escitalopram und Citalopram, im Hinblick auf Nebenwirkungen, nicht nachvollziehbar sei. Untersuche man zum Beispiel auf der Basis der Fachinformationen die Häufigkeit der Nebenwirkungen, so sei festzustellen, dass Escitalopram Vorteile gegenüber Citalopram habe. Für Cipralex® (Escitalopram) werde demnach nur eine Nebenwirkung – Übelkeit –, „sehr häufig“ (d.h. ≥10%) berichtet. Diese Nebenwirkung trete auch bei Cipramil® (Citalopram) auf; daneben komme es aber bei Citalopram ebenfalls „sehr häufig“ zu Schläfrigkeit, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Tremor, Mundtrockenheit, Obstipation, vermehrtem Schwitzen sowie Asthenie. Allein der Vorteil, dass bei Escitalopram nur eine „sehr häufige“ Nebenwirkung auftrete, stelle sich bei umfangreicher Betrachtung als auch im Versorgungsalltag bedeutsam dar. Bereits dies lasse die Annahme einer Irrelevanz nicht nachvollziehbar erscheinen. Das Gericht verweist in diesem Zusammenhang auf die Rechtssprechung des Bundessozialgerichts. „Im Rahmen der Bewertung von Arzneimitteln anhand der in der GKV geltenden Maßstäbe ist allerdings – im Unterschied zur Methodenanerkennung – die arzneimittelrechtliche Zulassung eines Wirkstoffs zu beachten, bei der gemäß §21 Abs. 2 AMG Qualität, Wirksamkeit und medizinische Unbedenklichkeit des Wirkstoffs für die vorgesehenen Indikationen geprüft und abschließend bewertet werden (näher BSGE 89, 184,185 = SozR 3-2500 §31 Nr. 8 S 29). Diese Kriterien darf der G-BA unter dem Aspekt des ‚medizinischen Nutzens‘ eines Arzneimittels oder Wirkstoffs nicht abweichend von der Beurteilung der für die Zulassung nach den AMG zuständigen Behörde bewerten […]“ (Urteil des BSG vom 31.05.2006 – B 6 KA 13/05 R) [2].

Im Hinblick auf das zugelassene Indikationsspektrum von Escitalopram im Vergleich zu Citalopram sagte das Gericht, dass es zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausschließen könne, dass tatsächlich bei allen diesbezüglichen Patientengruppen, die mit Escitalopram behandelt werden können, eine reale Therapiealternative vorhanden sei und dass der G-BA diese, wenn auch unbelegte Behauptung seiner Entscheidung zugrunde legen durfte. Diese Sichtweise sei aber nicht hinreichend sicher, was bei der jetzt vom Gericht zu treffenden Entscheidung zu berücksichtigen sei.

Hinsichtlich der durchschnittlichen Wirkstärke, die der Festbetragsgruppenbildung zugrunde liegt, stellt der Senat fest, dass die gewählte Methode der verordnungsgewichteten durchschnittlichen Wirkstärke als kritisch anzusehen sei, insbesondere wenn die Anwendungsgebiete der Wirkstoffe unterschiedlich seien.

Von grundlegender Bedeutung sind abschließende Ausführungen des Senats die deswegen wörtlich zitiert werden: „Unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes aus §12 SGB V in umfassender Form wird er [der G-BA] abzuwägen haben, ob den mutmaßlich höheren Arzneimittelkosten, die bei einer Herausnahme des Wirkstoffs Escitalopram entstehen, Einsparungen bei der ärztlichen Behandlung und bei der Krankenhausbehandlung gegenüberstehen. Das Ziel der Einsparung von Arzneimittelkosten ist aus Sicht des Senats kein Selbstzweck an sich, sondern Teil des übergeordneten Zieles, die Gesamtkosten der gesetzlichen Krankenversicherung möglichst niedrig zu halten. Dass im Beschlussgremium des Beigeladenen zwar Vertreter der Ärzteschaft und der Krankenhäuser vertreten sind, jedoch keine sonstigen Leistungserbringer (vgl. §91 Abs. 2 SGB V), beispielsweise die Arzneimittelhersteller bzw. -vertreiber, ändert an diesen Gesamtziel nichts. Auch innerhalb der Vorgabe, Arzneimittelkosten einzusparen, stellt sich die Bildung einer Festbetragsgruppe nicht als einzige Möglichkeit dar. Eine Beschränkung der Verordnungsfähigkeit beispielsweise auf die relevanten Patientengruppen wäre alternativ auch durch einen Therapiehinweis denkbar.“ (Beschluss des Beschlusses des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg 2011, Az: L 1 KR 184/11 ER, S. 50).

Schlussbemerkungen

Obwohl es sich nicht um das eigentliche Hauptsacheverfahren handelt, in dem endgültig geprüft werden wird, ob die Festbetragsgruppenregelung, die Escitalopram und Citalopram als eine Gruppe zusammenfasst, und die damit zusammenhängenden Fragen und Probleme (u.a. der Vergleichsdosierung für die Preisfestsetzung) zulässig und richtig sind, handelt es sich beim Verfahren vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg um ein wichtiges Sozialgerichtsverfahren. Es wurde die Frage geprüft, ob die Klage in der Hauptsache aufschiebende Wirkung hat und der Festbetrag für Escitalopram bis zum Urteil im Hauptsacheverfahren ausgesetzt werden muss. Das wurde vom Gericht bejaht, so dass die Festbetragsgruppenregelung nicht mehr gilt und das patentgeschützte Escitalopram nun wieder zum bisherigen, höheren Preis von der GKV erstattet wird.

Mit dieser Entscheidung wurde die grundsätzliche Rechtsposition der Hersteller patentgeschützter Medikamente gestärkt unter anderem in dem Sinne, dass Arzneimittel mit therapeutischer Verbesserung oder neuartiger Wirkungsweise nicht in das Festbetragssystem einbezogen werden können. Das Gericht widmet sich mit außerordentlicher Sorgfalt bereits in diesem Verfahren den Argumentationen, die im Hauptsacheverfahren im Zentrum stehen werden. Dabei greift das Gericht wohltuend in ein Machtgefüge ein, in dem der G-BA und nachfolgend der Spitzenverband der Krankenkassen eine Überlegenheit/Oberhoheit haben, bedingt durch die gesamte Organisationsstruktur des Festpreisverfahrens, indem sie die Kriterien für eine mögliche therapeutische Überlegenheit eines Medikaments gegenüber einem anderen weitgehend festlegen (dies in Kooperation mit dem IQWiG) und obendrein die Verfahrensregeln bestimmen. Pharmazeutischen Unternehmen bleibt in diesen Fällen nur die Möglichkeit, Stellung zu nehmen beziehungsweise Widersprüche zu formulieren – die Bewertung der Argumentation des Widerspruchs obliegt dann wieder dem G-BA. Die ungleiche Machtkonstellation ändert sich erst mit der Klage vor dem Landessozialgericht, in der beide Konfliktpartner eine gleiche rechtliche Ausgangsposition haben.

Das Gericht unterzieht die Argumente und Gegenargumente einer fairen und kritischen Abwägung und lässt sich dabei nicht von atmosphärischen Gesamtrahmenbedingungen leiten, die in der derzeitigen gesellschaftlichen Situation eher einen Negativbias gegenüber den unter anderem von finanziellen Interessen geleiteten Handlungen pharmazeutischer Unternehmen nahelegen, im Vergleich zu den primär positiv gesehenen, von solidarischen Interessen getragenen gesetzlichen Krankenkassen. Dass in diesem Verfahren dem Antrag des pharmazeutischen Unternehmers nach sehr fairer und ausreichender Abwägung Recht gegeben wird, ist der Sache angemessen und hoffnungsgebend. Dabei geht das Gericht davon aus, dass eine Reihe in diesem Kontext relativer Begriffe wie „überlegene klinische Wirksamkeit“, „bessere Verträglichkeit“, „klinisch relevante Wirksamkeit“ beziehungsweise „klinisch relevante überlegene Wirksamkeit“, „metaanalytische Evidenz der Wirksamkeit“ beziehungsweise „der Wirksamkeitsüberlegenheit“, „Heterogenität von Studienergebnissen“ als Hinweis unzureichender Konsistenz der Studienergebnisse, die Berechtigung des Ausschlusses von bestimmten Studienergebnissen aus der Gesamtevidenz etc. nicht so eindeutig definiert und hinsichtlich der Kriteriologie festgelegt sind, wie bei der Festbetragsentscheidung in der Argumentation unterstellt wurde.

Besonders bemerkenswert erscheint die Schlussfolgerung des Gerichts, dass dem pharmazeutischen Unternehmer nicht die Anreize genommen werden sollten, weiterhin neue Arzneimittel zu entwickeln. Den angedeuteten Überlegungen des Gerichts folgend kann die vermeintlich vorrangig von finanziellen Interessen getragene Medikamentenentwicklung eines pharmazeutischen Unternehmers bei einer komplexen Gesamtbetrachtung durchaus auch in dem Sinne bewertet werden, dass diese zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Versicherten beiträgt und damit auch ein sinnvoller Bestandteil des sozialen Versicherungssystems ist.

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2. Beschluss des Landessozialgerichtes Berlin Brandenburg 2011. Az.: L 1 KR 184/11 ER. www.lsg.berlin.brandenburg.de/sixcms/media.php/4417/l1kr184-11_er.pdf

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Prof. Dr. med. Dr. h.c. Hans-Jürgen Möller, Psychiatrische Klinik und Poliklinik der LMU, Nussbaumstraße 7, 80336 München, E-Mail: Hans-Juergen.Moeller@med.uni-muenchen.de

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Laux, kbo-Inn-Salzach-Klinikum gGmbH, Gabersee 7, 83512 Wasserburg/Inn

Psychopharmakotherapie 2012; 19(03)