Geriatrie

SSRI erhöhen dosisabhängig das Sturzrisiko demenzkranker Heimbewohner


Dr. Barbara Kreutzkamp, Hamburg

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) erhöhen das Sturzrisiko. Erstmalig wurde jetzt bei demenzkranken Bewohnern einer psychogeriatrischen Einrichtung eine dosisabhängige Steigerung des Risikos für einen Sturz mit Verletzungsfolge unter der Einnahme von SSRI nachgewiesen. Bei zusätzlicher Einnahme von Hypnotika oder Sedativa nahm das Sturzrisiko weiter zu.

Das Risiko, zu stürzen und sich zu verletzen, ist bei Älteren generell erhöht. Besonders gefährdet sind Heimbewohner und hier wiederum Personen, die an Demenz erkrankt sind. Jeder Demenzkranke sollte deshalb in regelmäßigen Abständen auf sein individuelles Sturzrisiko hin untersucht werden. Die Erhebung des Medikamentenstatus spielt dabei eine wichtige Rolle. So haben neue Untersuchungen gezeigt, dass das Risiko für Stürze mit Verletzungsfolge unter anderem durch selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) erhöht wird. Dieser Zusammenhang ist dosisabhängig. In einer retrospektiven Untersuchung in einem Seniorenheim sollte der dosisabhängige Effekt von SSRI auf das Sturzrisiko speziell bei demenzkranken Heimbewohnern untersucht werden.

Methodik

In der monozentrischen Untersuchung an einem psychogeriatrischen Wohnheim für Demenzkranke in den Niederlanden wurden die täglichen Medikamenteneinnahmen aller noch ohne Hilfsmittel gehfähigen Heimbewohner über die zurückliegenden zwei Jahre erfasst. Bei der Tagesmedikation interessierten neben den SSRI auch andere als sturzgefährdend bekannte Medikamente wie Antipsychotika, Anxiolytika, Sedativa, andere Antidepressiva, Antidiabetika, Herz-Kreislauf-Mittel und Anticholinergika. Außerdem wurden die täglichen Stürze ausgewertet, die im Unfallregister aufgeführt waren – ein in den Niederlanden übliches Verfahren zur Qualitätssicherung in der Pflege.

Für die Analyse der Dosis-Wirkungs-Beziehungen wurden die verordneten Arzneistoff-Dosierungen in definierte Tagesdosen (DDD, defined daily dose) umgerechnet. In logistischen Regressionsanalysen wurden dann unter Berücksichtung zahlreicher Kovariablen die Beziehungen zwischen den DDDs und den Stürzen mit Verletzungsfolge berechnet.

Ergebnisse

Die Daten von 248 Patienten mit insgesamt 85074 Personentagen wurden ausgewertet. In dieser Zeit erlitten 152 (61,5%) der Bewohner insgesamt 683 Stürze, was einer Inzidenz von 2,9 Stürzen pro Personenjahr entspricht. Bei 38 Bewohnern (15,4%) handelte es sich um ein einmaliges Sturzereignis, bei den übrigen 114 (46,2%) Personen kam es häufiger zu Stürzen. 220 (32,2%) der Stürze hatten eine Verletzung zur Folge: Eine Person starb, 21 (3,1%) zogen sich Brüche zu, bei 198 (30,0%) Stürzen kam es zu anderen Verletzungen wie Hautabschürfungen, offenen Wunden, Verstauchungen oder blauen Flecken.

Ein Antidepressivum wurde an insgesamt 13729 Personentagen (16,1%) eingenommen, davon an 11105 Personentagen (13,1%) ein SSRI mit einer durchschnittlichen Dosierung von 0,95 DDD. Die am häufigsten verordneten SSRI waren Citalopram und Paroxetin. Bei den trizyklischen Antidepressiva wurden Amitriptylin und Nortriptylin verordnet, weitere verordnete Antidepressiva waren Trazodon und Mirtazapin.

Das Risiko eines Sturzes mit Verletzung stieg erwartungsgemäß mit zunehmendem Alter (Tab. 1). Gesteigert wurde das Risiko für einen Sturz mit Verletzungsfolge auch durch Einnahme von Antipsychotika und Antidepressiva. In Subgruppenanalysen der Patienten mit Antidepressiva-Einnahme blieb dieser Zusammenhang nur unter den SSRI weiterhin signifikant (Tab. 1).

Tab. 1. Risikofaktoren für Stürze mit Verletzungfolgen (multivariate Analyse) [Sterke et al.]

Merkmal

Hazard-Ratio

95%-Konfidenzintervall

p-Wert

Alter [Risikozunahme pro Jahr]

1,05

1,01–1,09

0,01

Antipsychotika*

1,76

1,18–2,63

0,01

Hypnotika/Sedativa*

1,69

0,96–2,98

0,07 (n.s.)

Antidepressiva*

2,58

1,57–4,24

0,00

SSRI*

2,50

1,50–4,19

0,00

* Einnahme vs. Nicht-Einnahme

Signifikante Dosis-Wirkungs-Beziehungen ergaben sich unter der Einnahme von Hypnotika/Sedativa und Antidepressiva; bei Zunahme der Dosis um 1 DDD ergab sich ein Hazard-Ratio von 2,55 (95%-KI 1,03–6,30) beziehungsweise 2,97 (95%-KI 1,95–4,53). Bei den Antidepressiva blieb in Subgruppenanalysen eine Beziehung zwischen Medikamentendosis und Sturzrisiko wieder nur bei Einnahme von SSRI signifikant (HR 2,98; 95%-KI 1,94–4,57).

In Risikomodellierungen mit Durchschnittspersonen wurde der Einfluss der Tagesmedikation berechnet. Danach hat beispielsweise eine 85-jährige demente Heimbewohnerin, die weder SSRI noch Hypnotika/Sedativa einnimmt, ein absolutes Sturzrisiko von 0,12% pro Tag. Verglichen mit der Nicht-Einnahme steigerte die Einnahme von 0,25 DDD eines SSRI bei der Modellpatientin das Risiko eines Sturzes mit Verletzung um 31% auf 0,21% pro Tag. Bei Einnahme von 1,0 DDD SSRI, der gebräuchlichsten Dosis in dieser Studie, stieg das Sturzrisiko um 198% auf 0,48% pro Tag. Bei Kombination mit einem Hypnotikum oder Sedativum erhöhte sich das Risiko nochmals, mit 1 DDD sogar um bis zu 650%.

Diskussion

Bei demenzkranken Heimbewohnern nimmt das Risiko für einen Sturz mit Verletzungsfolge durch die Einnahme von SSRI dosisabhängig zu. Wird zusätzlich mit einem Hypnotikum kombiniert, erhöht sich das Risiko weiter. Eine Aufschlüsselung der Risiken nach Einzelsubstanzen innerhalb der Gruppe der SSRI fand in dieser Studie nicht statt.

Leicht überschätzt wurde die Erhöhung des Sturzrisikos möglicherweise durch die Depression selbst, durch Agitation oder Aggression, bei denen ebenfalls SSRI verordnet werden, und durch mögliche Cytochrom-P450-Interaktionen beispielsweise mit Benzodiazepinen, Antihypertensiva und Antipsychotika. Insgesamt sind die Ergebnisse aber konsistent mit Daten früherer Studien zum Sturzrisiko unter SSRI, in denen allerdings demente und nicht demente Heimbewohner gemeinsam analysiert wurden.

Die Ergebnisse dieser Studie sollten nun in die Entwicklung neuer Behandlungsprotokolle einfließen. Vor allem bei Patienten mit einer Neigung zu häufigem Fallen oder bei Patienten unter Hypnotika/Sedativa wäre es wünschenswert, adäquate Alternativen zu den SSRI zu verordnen.

Quelle

Sterke CS, et al. Dose-response relationship between selective serotonin reuptake inhibitors and injurious falls: a study in nursing home residents with dementia. Br J Clin Pharmacol 2012, doi: 10.1111/1365-2125.2012.04124.x (Epub ahead of print).

Psychopharmakotherapie 2012; 19(02)