Prof. Dr. Heinz Reichmann, Dresden
Diese Ausgabe der PSYCHOPHARMAKOTHERAPIE widmet sich vielen spannenden Themen der Neurologie, ohne psychiatrisch relevante Informationen auszulassen. Die Neurologie leidet zu unrecht unter dem Image, faszinierende Diagnosen zu ermöglichen, ohne zur kausalen und erfolgreichen symptomatischen Therapie zu gelangen. Dies ist sicherlich ein Wettbewerbsnachteil der Neurologen, da viele Studenten dieses Vorurteil weiter pflegen und viel lieber Internisten als Neurologen werden. Es ist somit erfreulich, dass wir in dieser Ausgabe erneut belegen können, wie viel sich im therapeutischen Feld der neurologischen Erkrankungen tut. Dies ist auch umso wichtiger, als die neurologischen Erkrankungen zum Teil schlagartig oder häufig chronisch progredient die Lebensqualität unserer Patienten in erheblichem Maße beeinträchtigen.
Von einem Tag zum anderen ist man Schlaganfallopfer, hilfsbedürftig und seiner normalen Lebensqualität beraubt. Somit ist es logisch, dass gerade die Schlaganfallprophylaxe in der neurologischen Therapie einen immer höheren Stellenwert einnimmt. Viel klüger ist es doch, den Schlaganfall zu verhindern als dann die Folgen, zum Teil außerhalb des notwendigen Zeitfensters, erfolgreich zu beherrschen. Aus diesem Grunde ist in der Zusammenarbeit führender neurovaskulären Zentren, nämlich Essen und Heidelberg, ein hervorragender Übersichtsartikel zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern entstanden. Vorhofflimmern ist ein signifikanter Risikofaktor für kardioembolische Schlaganfälle und für mindestens 25% aller ischämischen Insulte verantwortlich. Die bisherige Therapie fußte insbesondere auf der Gabe von Phenprocoumon mit allen bekannten Problemen, wie häufigen Blutuntersuchungen und der erhöhten Blutungsgefahr. Auf diesem Feld wird sich durch die Einführung neuer oraler Antikoagulanzien, wie dem direkten Thrombininhibitor Dabigatran, oder Faktor-Xa-Hemmern, Rivaroxaban und Apixaban, in den nächsten Monaten und Jahren aus meiner Sicht die Landschaft komplett ändern. Im Vergleich zu Warfarin/Phenprocoumon sind diese Substanzen mindestens gleich effektiv bei deutlich geringerer Nebenwirkungsrate. Die Gefahr der intrazerebralen Blutung unter diesen Antikoagulanzien der zweiten Generation ist deutlich gesenkt. Es ist davon auszugehen, dass die drei neuen Antikoagulanzien nach und nach das Phenprocoumon verdrängen werden, selbst bei deutlich erhöhten Kosten unter dieser Therapie. Nach über 60 Jahren Gebrauch von oralen Vitamin-K-Antagonisten ist somit eine neue Phase in der Therapie des Vorhofflimmerns und der Schlaganfallprophylaxe eingeläutet.
In einem zweiten großen Feld der Neurologie, nämlich der Therapie der multiplen Sklerose hat sich ebenfalls in den letzten Jahren und erneut in den vergangenen Monaten Erhebliches verändert. Während man früher für die Schubbehandlung Cortison und für die weitere Therapie häufig Azathioprin anwandte, veränderte sich das Feld zunächst durch Interferone und Glatirameracetat, nun gefolgt von einer neuen Phase mit oralen und äußerst effektiven Immunmodulatoren. In dem Artikel von Ellrichmann und Gold wird das neue orale Immuntherapeutikum Fingolimod kritisch beleuchtet. Die drei wesentlichen Studien (FREEDOMS, TRANSFORMS, INFORM) werden ausführlich besprochen und die orale Behandlungsoption mit 0,5 mg Fingolimod pro Tag in der Eskalationstherapie bei hochaktiver schubförmig remittierender multiplen Sklerose als indiziert bewertet und auch bei Patienten mit rasch fortschreitender schwerer schubförmig remittierender multipler Sklerose empfohlen. Man kann Fingolimod als Monotherapie geben, bei Schüben kurzfristig Glucocorticoide intravenös hinzufügen. Gold et al. haben jüngst eine internationale Doppelblindstudie zu Dimethylfumarat publiziert. Fumarsäure wirkt durch eine Verminderung der Anzahl von CD4-positiven und CD8-positiven T-Lymphozyten und scheint eine hohe Wirksamkeit bei schubförmiger multipler Sklerose aufzuweisen. Neben der immunmodulierenden wird auch eine neuroprotektive Wirkung vermutet und die Fumarsäure als besonders gut verträgliche Substanz, ähnlich wie bei der Psoriasistherapie, empfohlen. Sie könnte somit ein neuer vielversprechender Kandidat für die orale MS-Therapie werden. Teriflunomid ist ein aktiver Metabolit von Leflunomid, einem lang wirksamen Antirheumatikum. Nach erfolgversprechenden Tests in der experimentellen Autoimmunenzephalomyelitis konnte in internationalen Studien eine Wirksamkeit nachgewiesen werden, die Teriflunomid als interessante Alternative zu den bisherigen MS-Therapeutika ausweisen könnte. Als viertes neues immunmodulatorisches Agens wird Laquinimod kritisch diskutiert, das als synthetisches Chinolonderivat ebenfalls bei Patienten mit schubförmig verlaufender MS unter guter Verträglichkeit eine signifikante Reduktion der Schubrate erreichte. Aus dieser Übersichtsarbeit ist unschwer abzuleiten, dass in Bälde die MS-Therapie neben den bekannten Basistherapeutika neue Therapieoptionen vorhalten wird, die für viele Patienten eine individuelle Therapie mit höherer Wirksamkeit bei guter Tolerabilität möglich machen werden.
In einem zweiten Artikel zur multiplen Sklerose diskutieren Schultheiß und Kollegen die Verbesserung der Gehfähigkeit unter Fampridin. Das Präparat ist seit dem Sommer 2011 zur symptomatischen Behandlung der eingeschränkten Mobilität vom Patienten mit multipler Sklerose verfügbar. Sein Einsatz ist an Gehstreckenmessungen geknüpft. Internationale Doppelblindstudien zeigten bei vielen Patienten eine gute Effektivität. Fampridin ist ein Kaliumkanalblocker, der in einer Dosis von 10-mg-Retardtabletten zweimal täglich im Abstand von 12 Stunden zur Anwendung kommen sollte. Gegenwärtig wird diskutiert, ob Fampridin neben der Verbesserung der Gehstrecke auch wichtige andere Symptome von MS-Patienten, nämlich Fatigue, Nystagmus oder Blasenentleerungsstörungen positiv beeinflusst.
Die Parkinsontherapie hat sich in den letzten Jahren bezüglich neuer Formulierungen, die eine einmal tägliche Anwendung erlauben, verbessert (viele Dopaminagonisten, MAO-B-Hemmer Rasagilin). In Deutschland sind acht Dopaminagonisten zugelassen und es stellt sich die Frage, ob sie signifikante Unterschiede bezüglich Wirksamkeit und Tolerabilität aufweisen. In einer Arbeit von Ehret und Lohmüller wird der Dopaminagonist Piribedil untersucht, von dem angenommen wird, dass er weniger Ödeme und eine Verbesserung der Wachheit bei Parkinson-Patienten im Vergleich zu anderen Dopaminagonisten aufweist. In der offenen, nichtinterventionellen Studie beobachteten die Autoren nach sechsmonatiger Therapie mit Piribedil neben dessen guter motorischer Wirkung bei Dosierungen über 200 mg auch eine Verbesserung von depressiver Symptomatik bei Parkinson-Patienten.
Ein hochdosiertes kutanes Capsaicin-Pflaster (8%) ist in der EU seit über einem Jahr als neuartiges topisches Therapiekonzept in der Behandlung des peripheren neuropathischen Schmerzes bei nichtdiabetischen Erwachsenen zugelassen und kann in der Monotherapie oder in Kombination mit anderen Analgetika angewandt werden. U. Kern aus Wiesbaden, der eine hohe Expertise in der Therapie neuropathischer Schmerzen aufweist, berichtet über hervorragende Erfahrungen mit dem Pflaster, das zu anhaltenden signifikanten Verbesserungen im Sinne einer Schmerzlinderung führte.
Zusammenfassend unterstreichen diese Artikel das oben Postulierte, nämlich die zunehmenden Therapieoptionen für große Krankheitsbilder des neurologischen Fachgebiets. Ich gehe somit davon aus, dass auch diese Ausgabe der PSYCHOPHARMAKOTHERAPIE hohes Interesse bei Fachkollegen finden wird.
Psychopharmakotherapie 2012; 19(02)