Das „Nikolausurteil“ 2011


Die grundsätzliche Bedeutung der Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg zur Festbetragsregelung für Escitalopram

Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Hans-Jürgen Möller, München

Am 6. Dezember 2011 hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in einem Eilverfahren die aufschiebende Wirkung der Klage der Firma Lundbeck gegen die Festsetzung eines Festbetrags für Cipralex® (Wirkstoff Escitalopram) zusammen Citalopram beschlossen. Nach Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 17. Februar 2011 sollten das bis 2014 patentgeschützte Antidepressivum Escitalopram und das nicht mehr patentgeschützte Citalopram in einer Festbetragsgruppe „Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, Gruppe 1“ zusammengefasst werden. Escitalopram wäre danach von den gesetzlichen Krankenkassen nur bis zu einem Festbetrag in der Größenordnung des Generikapreises von Citalopram erstattet worden, hätte also de facto zu einem Preis in dieser Größenordnung angeboten werden müssen, um weiter verordnet werden zu können. Bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren kann die Firma Lundbeck aufgrund des „Nikolausurteils“ weiterhin Cipralex® zum vor der Festbetragsregelung üblichen Preis auf den Markt bringen.

Der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg verdient unter verschiedenen Gesichtspunkten große Beachtung. Es ist bemerkenswert, dass eine solche Entscheidung in einem Medikamentenhersteller-kritischen Gesamtumfeld getroffen wird, in dem unter anderem die ökonomischen Vorteile der Hersteller patentgeschützter Präparate zum Teil dadurch eingeschränkt werden, dass die Höherpreisigkeit dieser Präparate durch Festbetragsgruppenbildung unterlaufen wird (siehe z.B. die Bildung der Festbetragsgruppe für Risperidon und Paliperidon oder das derzeit laufende Verfahren zur Festbetragsregelung für Pregabalin und Gabapentin). Die Position der Hersteller patentgeschützter Präparate, die sich in einem Widerspruchsverfahren gegen die Festsetzung eines Festbetrages befinden, wird hierdurch richtungweisend gestärkt.

Bemerkenswert ist auch die grundlegende Argumentation des Gerichts, die in die Richtung geht, dass der Festbetragsregelung immanente, vordergründige finanzielle Vorteile für die gesetzlichen Krankenkassen und damit für die „Allgemeinheit“ mit dem möglichen Nachteil kontrastiert würden, dass zunehmend Hersteller patentgeschützter Präparate diese nicht mehr auf den deutschen Markt bringen könnten und damit der deutsche Psychopharmakamarkt an Innovationen ausblute. Die Entscheidung des Gerichts gibt Hoffnung, dass weitere negative Entwicklungen in der deutschen Psychopharmakotherapie durch derartige Urteile erschwert werden und dass pharmazeutischen Unternehmen in einer ohnehin kritischen Phase der Psychopharmakaentwicklung eine relative Rechtssicherheit gegeben wird, dass die Herstellung innovativer Arzneimittel weiterhin die für die Unternehmen ökonomisch notwendigen finanziellen Anreize mit sich bringt.

Unter rechtlichen Aspekten macht der Beschluss grundsätzlich deutlich, wie hoch die Rechtsposition pharmazeutischer Unternehmen ist, die patentgeschützte Medikamente auf den Markt bringen, und dass die Vorteile des Patentschutzes – damit sind ganz besonders auch die ökonomischen Vorteile gemeint – nicht durch andersgerichtete Maßnahmen des Gesundheitssystems, die eine möglichst kostengünstige Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen zum Ziel haben, unterlaufen werden dürfen. In präziser und kompetenter Detailarbeit zu den einzelnen Sachargumenten wird aufgezeigt, dass eine Beschränkung der ökonomischen Vorteile eines Unternehmens, die aus dem Patentschutz für Medikamente resultieren, im Rahmen eines Festbetragsverfahrens nur mit strengster Einhaltung des wissenschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen möglich ist.

Es handelt sich zwar noch nicht um das eigentliche und vermutlich langdauernde Hauptsacheverfahren, in dem endgültig geprüft werden wird, ob die Festbetragsgruppenregelung, die Escitalopram mit Citalopram als eine Gruppe zusammenfasst, zulässig ist und in dem die damit zusammenhängenden speziellen Fragen und Probleme (unter anderem der Vergleichsdosierung für die Preisfestsetzung) geklärt werden. Doch bereits in diesem vorläufigen Verfahren widmete sich das Gericht mit außerordentlicher Sorgfalt den diesbezüglichen Argumentationen der klageführenden Firma Lundbeck auf der einen Seite und der Antragsgegner – des Spitzenverbandes des Bundes der Krankenkassen sowie des Gemeinsamen Bundesausschusses – auf der anderen Seite in einer Weise, die der komplexen Sachlage gerecht wird und die von der hohen juristischen und inhaltlichen Kompetenz des Gerichts überzeugt.

Dabei greift das Gericht wohltuend in ein Machtgefüge ein, das oft den Eindruck erzeugt, der Gemeinsame Bundesausschuss und nachfolgend der Spitzenverband der Krankenkassen hätten eine primäre, durch die gesamte Organisationsstruktur des Feststellungsverfahrens bedingte Überlegenheit/Oberhoheit, indem sie in Kooperation mit dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sowohl die Kriterien für eine mögliche therapeutische Überlegenheit eines Medikaments gegenüber einem anderen Medikament weitgehend festlegen als auch die Verfahrensregeln bestimmen. Pharmazeutischen Unternehmern bleibt in diesem ungleichen Machtgefüge nur die Möglichkeit, Stellung zu nehmen, beziehungsweise Widersprüche zu formulieren, ohne dass sie die Kriteriologie und Regularien prinzipiell beeinflussen können, die übrigens ständig verändert werden (vgl. die verschiedenen Methodenpapiere des IQWiG). Die Bewertung der Argumentation des Widerspruchs obliegt dann wieder dem G-BA. Diese ungleiche Machtkonstellation ändert sich erst mit der Klage vor dem Landessozialgericht, in der beide Konfliktpartner eine gleiche rechtliche Ausgangsposition haben.

Bei seiner Erörterung ging das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg davon aus, dass eine Reihe der von der Beklagtenpartei aufgeführten, in diesem Kontext relevanten Begriffe und Probleme – wie überlegene klinische Wirksamkeit, bessere Verträglichkeit, klinisch relevante Wirksamkeit bzw. klinisch relevante überlegene Wirksamkeit, metaanalytische Evidenz der Wirksamkeit bzw. der Wirksamkeitsüberlegenheit, Heterogenität von Studienergebnissen als Hinweis ihrer unzureichenden Konsistenz, die Berechtigung des Ausschlusses von Studien aus der Gesamtevidenz – nicht so eindeutig definiert und hinsichtlich der Kriteriologie festgelegt sind, wie von der Beklagtenpartei in der Argumentation unterstellt wird. Das Gericht ließ sich in der Begründung des Beschlusses auch nicht andeutungsweise von atmosphärischen Gesamtrahmenbedingungen leiten, die in der derzeitigen gesellschaftlichen Situation eher eine negative Beurteilung pharmazeutischer Firmen mit ihren unterstellten vorrangig finanziellen Interessen im Vergleich mit den primär als positiv beurteilten solidarischen Interessen des Sozialversicherungssystems/der gesetzlichen Krankenkassen induzieren. Die PPT wird im nächsten Heft ausführlicher dazu berichten.

Psychopharmakotherapie 2012; 19(01)