Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

Methylphenidat-Präparat für Erwachsene mit ADHS zugelassen


Ralf Schlenger, München

5,3% der Kinder und Jugendlichen, aber auch 3,7% der Erwachsenen weltweit weisen nach Zahlen der WHO eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auf. Zur medikamentösen Behandlung wird in allen Altersgruppen Methylphenidat (MPH) eingesetzt – für Erwachsene in Europa aber bislang off Label. Seit Juli 2011 steht in Deutschland ein zur Behandlung von Erwachsenen-ADHS zugelassenes Präparat zur Verfügung.

ADHS persistiert bei rund 50% der Betroffenen im Erwachsenalter. Erhalten bleibt in mehr oder minder starker Ausprägung die zentrale Symptomentrias von Aufmerksamkeitsstörungen, Überaktivität und Impulsivität. Jedoch erfährt sie Abwandlungen: Die motorische Unruhe der Kinder und Jugendlichen weicht vielfach einer „inneren Unruhe“ und Ruhelosigkeit beim Erwachsenen. Die Impulsivität erfährt eine eigene Ausprägung mit Ungeduld, Unterbrechen anderer, Impulskäufen. Zu den Kernsymptomen treten oft Probleme in der emotionalen Regulation wie Desorganisiertheit, emotionale Überreaktion, wechselhafte Stimmung, fehlende Stressresistenz. Viele erwachsene Patienten entwickeln zudem Depressionen und Angststörungen.

Nach Expertenmeinung und bestehenden Leitlinien ist Methylphenidat bei der Behandlung von Erwachsenen mit ADHS die erste Wahl. Dennoch konnte es für Erwachsene bislang nur außerhalb der Zulassung verordnet werden. Als erstes Arzneimittel mit Methylphenidat in Deutschland – und Europa – zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen ließ das BfArM im April 2011 Medikinet® adult zu. Indikation ist die Behandlung einer seit Kindesalter bestehenden ADHS bei Patienten ab 18 Jahren im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie, wenn sich andere therapeutische Maßnahmen allein als unzureichend erwiesen haben.

Es stand in der PPT

Sobanski E. Medikamentöse Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Erwachsenen.Psychopharmakotherapie 2006;13(3):100–6.

Anhaltende Wirkung über 24 Wochen

Zulassungsrelevant waren letztlich zwei randomisierte Studien längerer Dauer, in denen alle Teilnehmer der besseren Vergleichbarkeit halber auch ein individuelles Coaching erhielten.

In der Studie EMMA (Erwachsene mit MPH retard bei ADHS) waren 359 erwachsene Patienten im Verhältnis 2:1 Verum oder Plazebo zugeteilt worden. Die Tagesmaximaldosierung von Methylphenidat lag bei 60 mg, der Durchschnitt bei 40 mg. Als primäres Effizienzmaß diente das Wender-Reimherr-Interview (WRI), das neben der klassischen ADHS-Symptomentrias die erwachsenentypischen Phänomene wie Desorganisation und Dysregulation berücksichtigt. Bereits zum Ende der fünfwöchigen Titrationsphase stellte sich ein signifikanter Unterschied zugunsten der Verum-Gruppe ein. Nach 24 Wochen lag der Anteil der Therapieresponder mit mindestens 30%iger Symptomabnahme im WRI unter Methylphenidat signifikant höher. Patienten der Verum-Gruppe vermittelten insgesamt einen besseren klinischen Gesamteindruck.

In der zweiten Studie (Quality assurance of administering methylphenidate in adults with attention deficit hyperactivity disorder [ADHD] – QUMEA) wurde Methylphenidat mit 1 mg/kg Körpergewicht im Durchschnitt höher dosiert. Dies führte in der Studie mit 162 Teilnehmern auch zu stärkeren Effekten: Eine mindestens 30%ige Symptomabnahme im WRI erreichte jeder zweite ADHS-Patient unter Verum, aber nur 18% unter Plazebo. Auch weitere Wirksamkeitsparameter zeigten in der Selbst- wie in der Fremdbeurteilung eine Überlegenheit der Medikation gegenüber Plazebo. So folgern die Studienautoren, dass Methylphenidat bei Erwachsenen „statistisch signifikante und klinisch relevante“ Verbesserungen bei der ADHS-assoziierten Psychopathologie und den funktionellen Beeinträchtigungen durch die Krankheit herbeiführen kann.

Unerwünschte Wirkungen beachten

Zu Beginn der Einnahme kann es zu einer signifikanten Pulsbeschleunigung kommen, im Durchschnitt um fünf auf 77 Schläge pro Minute. Das bekannte, individuell unterschiedlich ausgeprägte Phänomen geht mit längerer Einnahme tendenziell zurück. Zusätzlich zu den weiteren, bekannten Nebenwirkungen von Methylphenidat können bei erwachsenen Frauen Menstruationsprobleme auftreten.

Ein- und Umstellung

Falls ADHS erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wurde, muss der Facharzt das Vorbestehen der Erkrankung anhand von strukturierten Befragungen „rückwirkend“ belegen.

Die Neueinstellung eines Erwachsenen auf Methylphenidat erfordert eine sorgfältige Dosistitration, zumal das individuelle Ansprechen auf den Wirkstoff sehr stark variieren kann.

Hingegen nehmen Erwachsene, die schon im Kindes- bzw. Jugendalter Medikinet® retard erhalten hatten, Medikinet® adult zunächst in gleicher Tagesdosierung weiter. Wirkstoffgehalt, Zusammensetzung und Freisetzungsprofil von Medikinet® adult und Medikinet® retard sind identisch. Eine dritte Variante ist die Umstellung von anderen, nur für Kinder und Jugendliche zugelassenen Methylphenidat-Präparaten oder eine Umstellung von Atomoxetin auf Medikinet® adult.

Die empfohlene Initialdosis von Methylphenidat beträgt täglich 10 mg, sie kann wöchentlich in Schritten von 10 mg gesteigert werden. Die Tagesdosierung sollte 1 mg/kg Körpergewicht oder 80 mg nicht überschreiten. Medikinet® adult ist morgens und mittags zu den Mahlzeiten oder direkt danach mit ausreichend Flüssigkeit einzunehmen. Die Plasmakonzentration erreicht innerhalb von etwa zwei Stunden ein Maximum (Freisetzung aus dem nichtretardierten Kapselanteil). Nachdem der retardierte Kapselanteil den Magen passiert hat, setzt er weiteren Wirkstoff frei, so dass nach etwa drei bis vier Stunden eine Plateauphase vorliegt. Eine Einnahme auf nüchternen Magen führt zu einer übermäßig schnellen Resorption ohne den gewünschten Retardeffekt.

Fazit

Die nun erfolgte Zulassung von Methylphenidat ermöglicht die anerkannt wirksame Behandlung erwachsener ADHS-Patienten mit diesem Arzneistoff ohne die Hürden eines Off-Label-Use.

Quelle

Prof. Dr. med. Wolfgang Retz, Prof. Dr. Michael Rösler, Dr. Roland Fischer, Fachpressekonferenz „Medikinet® adult: Erste deutschlandweit zugelassene Therapieoption für ADHS bei Erwachsenen“, München, 17. Juni 2011, veranstaltet von MEDICE Pharma GmbH & Co. KG.

Psychopharmakotherapie 2011; 18(05)