Arzneimittelzulassungen und „Off-Label-Use“ bei Psychopharmaka


Martin Jandl, Helga Baumhauer-Gessler, Wolfgang P. Kaschka und Tilman Steinert, Ravensburg

Wie auch in einigen anderen Fachgebieten der Medizin überschreitet die tatsächliche medikamentöse Anwendungs- und Verordnungspraxis in der Psychiatrie die Grenzen der „Verkehrsfähigkeit“ einer Vielzahl von Medikamenten. Dieser „nicht bestimmungsgemäße Gebrauch“ als zulassungsüberschreitende Anwendung („Off-Label-Use“) schließt auch die Problematik der Kostenübernahme durch die Träger der gesetzlichen Sozialversicherungen mit ein. In einem Grundsatzurteil versuchte das Bundessozialgericht dem im klinischen Alltag relevanten und notwendigen Off-Label-Use gerecht zu werden. Auf das besondere Haftungsrisiko wurde dabei ebenso eingegangen wie auf die mögliche Verpflichtung zum Off-Label-Use. Widersprüche in der gängigen Zulassungs- und Verordnungspraxis und die sich hieraus ergebenden Probleme werden in diesem Artikel skizziert; ein Tabellenwerk zeigt die aktuell in Deutschland zugelassenen Indikationen für Antidepressiva, Phasenprophylaktika und Neuroleptika.
Schlüsselwörter: Off-Label-Use, Psychopharmaka, Bundessozialgericht, Haftungsrisiko, zugelassene Indikationen
Psychopharmakotherapie 2011;18:220–6.

Grundlagen und Definitionen

Für die Zulassung eines Arzneimittels (für ein bestimmtes Anwendungsgebiet) ist in Deutschland das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Bonn, zuständig, das auch in die Zulassungsverfahren der Europäischen Union, zuständig auf europäischer Ebene die European Medicines Agency (EMA) mit Sitz in London, eingebunden ist [7, 10].

Die Zulassung erfordert Sachverständigengutachten, aus denen

1. die pharmazeutische Qualität,

2. die pharmakologisch-toxikologischen Eigenschaften sowie

3. die „angemessene“ klinische Wirksamkeit, Verträglichkeit, Zweckmäßigkeit der Dosierung, Gegenanzeigen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) (klinische Studien Phase I bis III, bei Zulassungserweiterung Phase IV) auf dem angegebenen Anwendungsgebiet hervorgehen (§24, Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln, AMG) [6].

Wie in einigen anderen Fachgebieten der Medizin auch (Onkologie, Pädiatrie) überschreitet die tatsächliche medikamentöse Anwendungs- und Verordnungspraxis in der Psychiatrie (wie auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie), vor allem im stationären Bereich, die Grenzen der Verkehrsfähigkeit einer Vielzahl von Medikamenten. Von Assion und Jungck [1] wurde erstmals die Häufigkeit des „nicht bestimmungsgemäßen Gebrauchs“ psychotroper Arzneimittel in einer deutschen psychiatrischen Klinik über zwei Zeiträume hinweg quantifiziert. Nach den Autoren lag dieser (im zweiten Zeitraum) bei annähernd 50% sicher (21%) oder wahrscheinlich (26%) vor. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit den Berichten aus anderen Ländern. „Nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch“ bezieht sich dabei auf das Anwendungsgebiet, wie es bei der Zulassung des Medikaments festgelegt wurde. Solche „zulassungsüberschreitende Anwendung“ (nochmals abzugrenzen gegenüber dem „unlicenced use“ eines Medikaments, das in Deutschland überhaupt nicht zugelassen ist) ist durch die Therapiefreiheit des Arztes als individueller Heilversuch möglich, jedoch an eine Reihe von Bedingungen gebunden. Manche Autoren weisen explizit auf die Unterschiede in der Begrifflichkeit zwischen „zulassungsüberschreitende Anwendung“ und „Off-Label-Use“ hin [15]. Letzterer beinhaltet zudem die Problematik der Kostenübernahme durch die Träger der gesetzlichen Sozialversicherung bei Verordnung eines Medikaments über die bei seiner Zulassung definierten Anwendungsgebiete hinaus. Da dies im klinischen Bereich praktisch immer von Relevanz ist, soll im Folgenden generell der Begriff „Off-Label-Use“ verwendet werden.

Die Vorgaben durch das Bundessozialgericht

Das Bundessozialgericht (BSG) hat am 19. März 2002 in einem Grundsatzurteil über die Kriterien für eine Kostenübernahme durch die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) im Falle von Off-Label-Use entschieden [2]. Um dem Versicherten nicht „… unverzichtbare und erwiesenermaßen wirksame Therapien …“ vorzuenthalten, kann danach „… die Leistungspflicht der Krankenkasse für eine Arzneitherapie außerhalb der zugelassenen Anwendungsgebiete deshalb nicht von vornherein verneint werden.“ Sie komme jedoch „… nur ausnahmsweise unter engen Voraussetzungen […] in Betracht.“ Bedingungen sind:

  • Die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung, lebensbedrohlich oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigend,
  • „bei der keine andere Therapie verfügbar ist, und
  • aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) zu erzielen ist.“

„… Es müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III […] veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen, oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.“ [2].

Das BSG versuchte damit, dem im medizinischen Praxisalltag verbreiteten zulassungsüberschreitenden Einsatz von Medikamenten gerecht zu werden. Bestehen bleibt dabei (und betont wird vom BSG) das besondere Haftungsrisiko, das der verordnende Arzt trägt. Besondere Sorgfalt beim Abwägen des Off-Label-Use seitens des Behandlers ist selbstverständlich vorauszusetzen. Gleichwohl kann durchaus auch eine Verpflichtung zum Off-Label-Use bestehen: es sei auf das viel zitierte „Aciclovir-Urteil“ [13] verwiesen, nach dem der Nichteinsatz des Off-Label-Medikaments Aciclovir (bei einem Patienten mit Herpes-Enzephalitis) einen groben Behandlungsfehler darstellte, da dessen Einsatz, als der eines medizinisch-wissenschaftlich erprobten Medikaments, medizinisch geboten gewesen wäre.

Vor dem Hintergrund der vom BSG aufgezeigten Problematik wurde vom damaligen Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (BMGS) am 17. September 2002 die „Expertengruppe Off-Label“ ins Leben gerufen, die am 31. August 2005 unter anderem auf den Fachbereich Neurologie/Psychiatrie ausgedehnt wurde. Nach §1 Abs. 2 des Erlasses des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) vom 21. Oktober 2009 bestehen die Aufgaben der Expertengruppe in der „Abgabe von Bewertungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Anwendung von zugelassenen Arzneimitteln für Indikationen und Indikationsbereiche, für die sie nach dem Arzneimittelgesetz nicht zugelassen sind …“ und in der „Auskunftserteilung gegenüber dem Bundesministerium für Gesundheit und dem Gemeinsamen Bundesausschuss …“ „Die Bewertung soll nur mit Zustimmung des Pharmazeutischen Unternehmers erstellt werden.“ (§3, Abs. 3 des o. g. Erlasses) [8].

Nach Zuleitung der Empfehlungen an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) werden sie in den Arzneimittelrichtlinien (Anlage 9A) veröffentlicht. Erst durch die Anerkennung durch den pharmazeutischen Unternehmer ist die Verordnung erstattungsfähig [16].

Für das einzige psychiatrische Medikament, das die Expertenkommission für die Off-Label-Indikation „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) im Erwachsenenalter“ behandelte, Methylphenidat, hat mit seinem Beschluss vom 23. Juni 2011 der G-BA zuletzt „… geregelt, dass eine medikamentöse Behandlung von ADHS […] im Erwachsenenalter mit dafür zugelassenen methylphenidat-haltigen Arzneimitteln („Stimulantien“) nicht ausgeschlossen wird.“ Prüfungen hinsichtlich etwaiger „… Einschränkungen und Regelungen zum Schutze der Patienten …“ müssen noch erfolgen [10].

Widersprüche in der Zulassungs- und Verordnungspraxis

Im Bereich der Psychopharmakotherapie dominieren den Off-Label-Gebrauch Antidepressiva [16], aber auch für Phasenprophylaktika und Neuroleptika ist die zulassungsüberschreitende Anwendung überaus relevant. Im Folgenden sollen die mit der Zulassungs- und Verordnungspraxis einhergehenden Problematiken kurz skizziert werden.

Die Zulassungsbestrebungen der pharmazeutischen Industrie in Bezug auf psychotrope Substanzen sind von epidemiologischen und mithin von Marketing-Aspekten geleitet, sie spiegeln so nicht das tatsächliche, viel breitere klinische Anwendungsspektrum wider.

Die Anwendungsgebiete, auf die sich die Zulassung eines Medikaments bezieht, orientieren sich an den Kriterien der gängigen Klassifikationssysteme, in Deutschland und Europa der ICD-10, bei deren zugrunde liegenden Krankheitsentitäten es sich ja um auf Konventionen beruhende, theoretische Konstrukte handelt. Die klinische Verordnungspraxis ist hingegen überwiegend syndrom- beziehungsweise symptomorientiert. Ältere Psychopharmaka, die lange vor der ICD-10-Klassifikation zugelassen wurden, haben häufig weiter gefasste Indikationsgrenzen, allerdings auch nach heute nicht mehr gebräuchlichen Kategorien (z.B. „Psychoneurose“‚ „endogene Psychose“). Seitens der Industrie besteht hier aus wirtschaftlichen Überlegungen kein Interesse mehr, die Indikationsgrenzen neu zu fassen. Entsprechendes gilt bei seltenen Erkrankungen und kleinen Patientenzahlen. Fritze und Schmauß verweisen pointiert auf die Diskrepanz zwischen Zulassungs- und Anwendungspraxis von Antidepressiva (bei depressiver Symptomatik im Rahmen von Schizophrenien, in keinem Fall zugelassen) und Neuroleptika (bei psychotischer Depression, in keinem Fall zugelassen) [3]. In weiten Bereichen der Psychopharmakotherapie werden die offiziellen Zulassungen den klinischen Indikationsstellungen nicht gerecht und hinken der aktuellen Studienlage weit hinterher. Bei der Behandlung mit Antidepressiva stellt sich darüber hinaus das Problem, dass nur zwei Substanzen für die Rezidivprophylaxe zugelassen sind (Tab. 1–3).

Tab. 1. Zugelassene Indikationen neuerer Antidepressiva

Agomelatin

(Valdoxan®)

Bupropion (Elontril®)

Citalopram (z.B. Cipramil®)

Duloxetin (Cymbalta®)

Escitalopram (Cipralex®)

Fluoxetin (z.B. Fluctin® 1))

Fluvoxamin (z.B. Fevarin®)

Mirtazapin (z.B. Remergil®)

Paroxetin (z.B. Paroxat®)

Reboxetin (z.B. Solvex®)

Sertralin
(z.B. Zoloft®)

Venlafaxin (z.B. Trevilor®)

Depressive Episode

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

Rezidivprophylaxe

+

+

Zwangsstörung

+

+

+

+

+

Panikstörung, mit u. ohne Agoraphobie

+

+

+

+

+

Soziophobie

+

+

+

+

Generalisierte Angststörung

+

+

+

+

Posttraumatische Belastungsstörung

+

+

Schmerzen, chronisch

Schmerzen,
diabetische PNP

+

Schmerzen, neuropathisch

In einer zugelassenen Indikation:

Ältere Patienten 2)
>65 J.

(+)

(+)

+

+

+

+

+

+

+

+

+

Kinder u. Jugendliche <18 J.

Zwangsstörung >6 J.

Depression
>8 J. 3)

Zwangsstörung

>8 J.

1) zusätzlich Bulimie, als Ergänzung zu Psychotherapie; 2) eventuell niedrigere Anfangs- und Höchstdosis, langsamere Dosissteigerung; 3) bei Versagen alleiniger psychologischer Therapie und nur in Kombination mit dieser; PNP: Polyneuropathie

Tab. 2. Zugelassene Indikationen älterer, vor allem tri- und tetrazyklischer Antidepressiva

Amitriptylin (z.B. Saroten®)

Amitriptylin-oxid (z.B. Equilibrin®)

Clomipramin (z.B. Anafranil® 3))

Desipramin (Petylyl®)

Doxepin (z.B. Aponal® 5))

Imipramin (z.B. Tofranil®)

Maprotilin (z.B. Ludiomil®)

Mianserin 7) (z.B. Tolvin®)

Nortriptylin (Nortrilen®)

Trazodon (z.B. Trazodon Hexal®)

Trimipramin (z.B. Stangyl®8))

Depressive Episode

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

Rezidivprophylaxe

Zwangsstörung

+

+

Panikstörung, mit und ohne Agoraphobie

+

Soziophobie

+

Generalisierte Angststörung

Posttraumatische Belastungsstörung

Schmerzen, chronisch

+ 1)

+ 1)

+ 1)

+ 1)

Schmerzen,
diabetische PNP

Schmerzen , neuropathisch

In einer zugelassenen Indikation:

Ältere Patienten 2) >65 J.

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

Kinder u. Jugendliche <18 J.

(+) 4)

(+) 6)

1) langfristige Schmerzbehandlung im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts; 2) niedrigere Initial- u. Erhaltungsdosis, äußerst sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung; 3) auch: Schlaflähmung, Kataplexie, hypnagoge Halluzinationen bei Narkolepsie; 4) Enuresis nocturna ≥5 J. u. nach Ausschluss organischer Ursachen; 5) auch: Angstsyndrome, Unruhe, Angst, Schlafstörungen, Entzugserscheinungen während der Entwöhnung; 6) Enuresis nocturna ≥5 J. nach Ausschluss organischer Ursachen, Pavor nocturnus, 1–2, max. 2,5 mg/kg KG; 7) wöchentliche Kontrollen des weißen Blutbilds in den ersten Behandlungsmonaten; 8) Leitsymptome: Schlafstörungen, Angst, innere Unruhe; PNP: Polyneuropathie

Tab. 3. Zugelassene Indikationen von Johanniskrautextrakt (Phytopharmakon), Monoaminoxidase-(MAO-)Hemmern und Anxiolytika

Johanniskrautextrakt (z.B. Jarsin®)

Moclobemid
(z.B. Aurorix®)

Tranylcypromin
(Jatrosom® N 4))

Opipramol
(z.B. Insidon®)

Pregabalin
(Lyrica®)

Depressive Episode

+ 1)

+

+

Rezidivprophylaxe

Zwangsstörung

Panikstörung, mit und ohne Agoraphobie

Soziophobie

+ 3)

Generalisierte Angststörung

+ 5)

+

Posttraumatische Belastungsstörung

Schmerzen, chronisch

Schmerzen, diabetische PNP

Schmerzen, neuropathisch

+

In einer zugelassenen Indikation:

Ältere Patienten2) >65 J.

+

+

+ 4)

+

+

Kinder und Jugendliche <18 J.

≥12 J.

1) leichte und mittelschwere Episoden; 2) eventuell niedrigere Anfangs- und Höchstdosis, langsamere Dosissteigerung; 3) nur Aurorix®; 4) Tyraminarme Diät, Blutdruckkontrollen; 5) und somatoforme Störungen; PNP: Polyneuropathie

Während sich der Off-Label-Gebrauch im stationären und teilstationären Bereich aus wirtschaftlicher Sicht unproblematisch darstellt, ist der ambulante Bereich von etwaigen Regressforderungen durch die Kostenträger bedroht, was prinzipiell erhöhte Anforderungen an den Umgang mit der Schnittstelle Klinik-Praxis stellt. Im Falle einer dadurch erforderlichen Medikamentenumstellung muss hierdurch ein erhöhtes Rezidivrisiko für den Patienten in Kauf genommen werden. Zu Indikationsverstößen kann auch die Aut-idem-Regelung führen, wenn wirkstoffgleiche Fertigarzneimittel unterschiedliche Anwendungszulassungen besitzen [3].

Andererseits darf nicht verkannt werden, dass die Datenlage in der Off-Label-Anwendung von Psychopharmaka sehr heterogen ist. So sind etwa bei der verbreiteten Off-Label-Anwendung von Neuroleptika (z.B. bei Depressionen und Persönlichkeitsstörungen) die Kriterien hierfür nur sehr unzureichend definiert, randomisierte kontrollierte Studien (RCT) liegen nur in Einzelfällen vor [17] und Leitlinien decken nicht alle Anwendungsbereiche ab [4, 5].

Kölch et al. weisen auf eine weitere Problematik hin, wonach es bei Medikamentenzulassungen in den USA und der Übertragung von DSM-IV-Definitionen auf europäische Zulassungsverfahren zu Indikationen kommen kann, die hier nicht diagnostiziert werden. Als Beispiel nennen die Autoren die kinder- und jugendpsychiatrische DSM-IV-Diagnose „childhood bipolar“, die allerdings inhaltlich nach ICD-10 am ehesten der „hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens“ mit den (identischen!) Zielsymptomen Impulsivität und Aggressivität entspricht [12].

Praktische Empfehlungen

Die Tabellen 1 bis 7 zeigen die zugelassenen Indikationen für Antidepressiva, Neuroleptika und Phasenprophylaktika in Deutschland, sie stellen ein Update (Stand August 2010) der Tabellen unseres Klinik- und Praxis-Guides [11] dar. Sie sollen einen Beitrag dazu liefern, dass Off-Label-Use-Verordnungen nicht ihre Ursache in der Unkenntnis des Zulassungsstatus des jeweiligen Arzneimittels haben. Für den Verordner besteht die Verpflichtung zur Kenntnis der jeweiligen Fachinformationen, wie sie etwa über www.fachinfo.de online verfügbar sind [14]. In Hinblick auf die aufgehobene Produkthaftung mit Beweislastumkehr im Falle eines Rechtsstreits (es sei denn, der Hersteller duldet und unterstützt den Off-Label-Use) ist besondere Sorgfalt bei der Patientenaufklärung und im Umgang mit Off-Label-Medikation nötig. Neben der sonst üblichen Aufklärung über Wirkungen und Nebenwirkungen einschließlich extremer Risiken und deren Dokumentation wird auch die Erklärung gegenüber dem Patienten gefordert, dass es sich um einen „Heilversuch“ handelt und dass eine offizielle Testung des Medikaments für diese Indikation nicht vorhanden ist. Eine entsprechende Dokumentation in der Krankengeschichte ist auch im Krankenhaus dringend zu empfehlen. UAW unter Off-Label-Indikation sind zu melden [16].

Tab. 4. Zugelassene Indikationen konventioneller Neuroleptika (hochpotent)

Benperidol
(z.B. Glianimon®)

Bromperidol
(z.B. Impromen®)

Flupenthixol
(z.B. Fluanxol®)

Fluphenazin
(z.B. Lyogen®)

Haloperidol
(z.B. Haldol®) 1)

Perphenazin
(z.B. Decentan®)1)

Pimozid
(Orap®)

Schizophrenien akut

+

+

+

+ 2)

+

+ 2)

Schizophrenien chronisch

+

+

+

+

+

+

+

Manien

+

+

Psychomotorische Erregung, Unruhe

+

+

+

+

Unruhe-, Verwirrtheitszustände

Tic-Störungen,
z.B. Tourette-Syndrom

+

Schlafstörungen, insbes. bei geriatrischen Pat.

In einer zugelassenen Indikation:

Ältere Patienten 3) >65 J.

+

+

+

+

+

+

+

Kinder u. Jugendliche <18 J.

>12 J.

>12 J. 4)

>3 J.

+

1) Zusätzlich als Zweitlinientherapie bei Erbrechen; 2) explizit auch katatone Syndrome; 3) niedrigere Initial- u. Erhaltungsdosis, äußerst sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung; 4) unter besonderer Berücksichtigung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses

Tab. 5. Zugelassene Indikationen atypischer Neuroleptika

Amisulprid (z.B. Solian®)

Aripiprazol (Abilify®)

Clozapin 1)
(z.B. Leponex®)

Olanzapin (Zyprexa®)

Paliperidon (Invega®)

Quetiapin (Seroquel®)

Risperidon (z.B. Risperdal®)

Sertindol 2) (Serdolect®)

Sulpirid 3) (z.B. Dogmatil®)

Ziprasidon (Zeldox®)

Zotepin (Nipolept®)

Schizophrenie (ICD10)

+

+

+

+

+

+

+

+

+ 4)

+

+

Primäre Negativsymptomatik

+ 5)

Bipolare Störungen,
depressive Episoden

+

Bipolare Störungen,
manische Episoden

+

+

+

+ 6)

+

Bipolare Störungen, Prophylaxe depressive Episoden

+ 7)

+

Bipolare Störungen, Prophylaxe manische Episoden

+ 8)

+ 7)

+

Psychosen bei M. Parkinson

+ 9)

Anhaltende Aggression mit Eigen-/Fremdgefährd. b. DAT

+ 6), 10)

In einer zugelassenen Indikation:

Ältere Patienten 11) >65 J.

+ 12)

+ 12)

+ 12)

+ 12)

+ 12)

12) 2x0,25 mg, max. 2x2 mg/Tag

+ 12)

+ 12)

+ 12)

+ 12)

Kinder u. Jugendliche <18 J.

>15 J.

>16 J.

>5 J. 13)

≥6 J.

>10 J.

1) Voraussetzung: Therapieresistenz, bzw. intolerable Nebenwirkungen unter anderen Neuroleptika; 2) Medikament der zweiten Wahl, mit einer Reihe von Auflagen versehen, u. a. nur bei Patienten mit Unverträglichkeit mindestens eines anderen Neuroleptikums, nicht in Notfallsituationen bei akut gestörten Patienten zur raschen Symptomreduktion; 3) nur partiell atypische Eigenschaften; 4) auch zugelassen in der Indikation „depressive Störung“, wenn Behandlung mit anderem Antidepressivum nicht möglich oder erfolglos war; 5) mit Affektverflachung, emotionalem und sozialem Rückzug; 6)nicht Risperdal® Consta, bei Versagen alleiniger psychologischer Therapie und nur in Kombination mit dieser; 7) bei Patienten, die in der Akutphase auf Olanzapin angesprochen haben; 8) bei Patienten mit überwiegend manischen Episoden, die auf Aripiprazol ansprachen; 9) nach Versagen der Standardtherapie; 10) Kurzzeitbehandlung; 11) äußerst sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung; 12) eventuell niedrigere Initial- u. Erhaltungsdosis, nicht zur (bzw. Vorsicht bei der) Behandlung von Psychosen bei Demenz; 13) Kurzzeitbehandlung anhaltender Aggression bei Verhaltensstörung; DAT: Demenz vom Alzheimertyp

Tab. 6. Zugelassene Indikationen konventioneller Neuroleptika (niedrig- und mittelpotent bzw. sedierend)

Fluspirilen
(Imap®)

Perazin
(z.B. Taxilan®)

Zuclopenthixol (Ciatyl® Z)

Chlorprothixen (z.B. Truxal®)

Levomepromazin (z.B. Neurocil®) 4)

Melperon
(z.B. Melneurin®)

Pipamperon
(z.B. Dipiperon®)

Prothipendyl
(Dominal®)

Thioridazin
(z.B. Melleril®)

Schizophrenien akut

+

+

+

Schizophrenien chronisch

+

+

+

+ 6)

Manien

+

+

+

Psychomotorische Erregung, Unruhe

+

+ 2)

+ 3)

+ 3), 5)

+

+

+

+ 6)

Unruhe-, Verwirrtheits-

zustände

+

Tic-Störungen,

z.B. Tourette-Syndrom

Schlafstörungen, insbes. bei geriatrischen Patienten

+

+

+

In einer zugelassenen Indikation:

Ältere Patienten1) >65 J.

+

+

+

+

+

+

+

+

+

Kinder u. Jugendliche <18 J.

>16 J.

>3 J.

>16 J.

>12 J.

+

+

(+) 7)

1) niedrigere Initial- u. Erhaltungsdosis, äußerst sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung; 2) bei geistiger Behinderung und Demenz; 3) im Rahmen akuter psychotischer Symptome; 4) auch in Kombinationsbehandlung bei schweren und/oder chronischen Schmerzen; 5) i. R. manischer Symptome; 6) bei chronischen Psychosen, bei denen psychomotorische Unruhe und Erregungszustände im Vordergrund stehen, v. a. wenn andere Standardtherapeutika nicht ausreichend wirksam sind; 7) bei Kindern nur, wenn sämtliche andere Arzneimittel ausgeschlossen wurden, nicht 100 mg und 200 mg (Retard)Tabletten, bei Kindern und Jugendlichen 1–2 mg/kg KG/Tag

Tab. 7. Zugelassene Indikationen von Lithium, Antikonvulsiva und atypischen Neuroleptika als Phasenprophylaktika

Lithium-Carbonat (z.B. Quilonum® Retard)

Carbamazepin (z.B. Timonil®)

Lamotrigin
(z.B. Lamictal®)

Valproinsäure
(z.B. Ergenyl®/
-chrono)

Aripiprazol (Abilify®)

Olanzapin
(Zyprexa®)

Quetiapin (Seroquel®/
-prolong)

Risperidon
(z.B. Risperdal®)

Ziprasidon
(Zeldox®)

Therapie, akut
manische Episoden u. Syndrome

+

+

+

+

+

+

+

Therapie, akut
depressive Episoden u. Syndrome

+

+

Phasenprophylaxe
manische Episoden u. Syndrome

+

+ 3)

+

+

+ 4)

+

Phasenprophylaxe
depressive Episoden u. Syndrome

+

+ 3)

+

+

+ 4)

+

In einer zugelassenen Indikation:

Ältere Patienten >65 J.

+ 1), 2)

+ 2)

+

+

+ 2)

+ 5)

+ 5)

+ 2) 2x0,5 mg, max. 2x2 mg/Tag

+ 5)

Kinder u. Jugendliche <18 J.

>12 J.

+

>10 J. 2)

1) Häufigere Kontrollen des Lithium-Serumspiegels; 2) niedrigere Dosierung, Dosisanpassung; 3) bei Versagen von Lithiumtherapie oder bei schnellem Phasenwechsel oder bei Kontraindikation von Lithium; 4) bei Patienten, die in der Akutphase der manischen Episode auf Olanzapin angesprochen haben; 5) niedrigere Initial- und Erhaltungsdosis, nicht zur (bzw. Vorsicht bei der) Behandlung von Psychosen in Verbindung mit Demenz

Raten von annähernd 50% „nicht bestimmungsgemäßen Gebrauchs“ psychotroper Medikamente, wie sie von Assion und Jungck exemplarisch für stationäre psychiatrische Behandlung beschrieben wurden – nicht nur insgesamt, sondern auch auf einzelne Medikamente zutreffend [1] –, widersprechen der Vorstellung des „individuellen Heilversuchs“, was auch seitens der Kostenträger so interpretiert werden könnte.

Im ambulanten Bereich erfolgt Kostenerstattung durch die GKV bei Anerkennung des Off-Label-Use als bestimmungsgemäßen Gebrauch. Ansonsten besteht die Möglichkeit einer Privatrezeptierung, wobei der Patient die Kosten (zunächst) übernimmt und der Behandler die Kostenübernahme beim Kostenträger beantragt. Zumindest die Verordnung von Neuroleptika bei depressiven und von Antidepressiva bei psychotischen Störungen erscheint in der Praxis unproblematisch. Selbstverständlich bestehen bei Privatrezeptierung gleichermaßen erhöhte Anforderungen an die Sorgfalt bei Patientenaufklärung, Dokumentation und Umgang mit der Off-Label-Medikation. Auch das Haftungsrisiko bleibt auf Seiten des Behandlers bestehen.

Registered and off-label use of psychotropics

In psychiatric clinical practice, psychotropic medication is frequently prescribed for indications, not listed in the original drug registration. Such off-label use has been reported for up to 50% of all prescribed psychotropic drugs, which is not consistent with the idea of a case for case assessment of clinical benefit. Off-label-use of psychotropics also has associated financial implications, as public health insurance companies generally do not cover these treatment costs. The Federal Social Court (Bundessozialgericht) attempted to lay down guidelines for the relevant and necessary off-label-use of drugs in clinical practice. These guidelines addressed and tried to balance the issues of liability risk and the clinician’s obligation to act off-label where indicated. The tensions arising from juxtaposing the necessary constraints set by new drug testing and authorization on the one hand, and the clinical benefits in practice of off-label prescribing on the other are discussed in this article. Data is also presented on the updated approved indications of antidepressants, mood stabilizers and neuroleptics in Germany. Off-label-use of psychotropic drugs should be a clinically-informed decision and not simply a result of ignorance regarding the detail of the respective drug registration.

Quellen

1. Assion HJ, Jungck C. Off-label prescribing in a German psychiatric hospital. Pharmacopsychiatry 2007;40:30–6.

2. Bundessozialgericht (BSG) B1 KR 37/00R, NJW 2003,460–3.

3. Fritze J, Schmauß M. Off-Label-Use in der Psychopharmakotherapie. Nervenarzt 2002; 73:796–9.

4. Groleger U. Off-label use of antipsychotics: rethinking „off-label“. Psychiatr Danub 2007;19:350–3.

5. Haw C, Stubbs J. Off-label use of antipsychotics: are we mad? Expert Opin Drug Saf 2007;6:533–45.

6. http://bundesrecht.juris.de/amg_1976/ _24html (Zugriff am 25.07.2010).

7. www.bfarm.de (Zugriff am 15.07.2010).

8. www.bfarm.de/cln_103/DE/Arzneimittel/3_nachDerZulassung/offLabel/offlabel-node.html (Zugriff am 25.07.2010).

9. www.emea.eu (Zugriff am 15.07.2010).

10. www.g-ba.de/institution/presse/pressemitteilungen/396/ (Zugriff am 11.07.2011).

11. Kaschka WP, Kretzschmar R, Jandl M. Psychopharmaka kompakt. Klinik- und Praxis-Guide. Stuttgart: Schattauer 2009.

12. Kölch M, Allroggen M, Fegert JM. Off-Label-Use von Psychopharmaka in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Nervenarzt 2009;80:789–96.

13. Oberlandesgericht (OLG) Köln 30.05.1990, NJW RR 1991, 800.

14. Rote Liste Service GmbH, Hrsg. Rote Liste 2010. Frankfurt a. M. 2010.

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Priv.-Doz. Dr. med. Martin Jandl, Helga Baumhauer-Gessler, Prof. Dr.med. Wolfgang P. Kaschka, Prof. Dr.med. Tilman Steinert, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I, Universitätsklinikum Ulm, ZfP Südwürttemberg, Weingartshofer Str. 2, 88214 Ravensburg, E-Mail: martin.jandl@uni-ulm.de

Psychopharmakotherapie 2011; 18(05)