Widersprüchliche Evidenz auf höchster Ebene


Gibt es Unterschiede in der Wirksamkeit neuer Antidepressiva?

Levente Kriston, Alessa von Wolff, Hamburg, und Lars P. Hölzel, Freiburg

In zwei hochrangig publizierten Metaanalysen wurde die Frage untersucht, ob Unterschiede in der Wirksamkeit und Verträglichkeit neuer Antidepressiva existieren. Trotz einer vergleichbaren Vorgehensweise kamen die beiden Arbeiten zu widersprüchlichen Ergebnissen.
Schlüsselwörter: Antidepressiva, Depression, Metaanalyse, systematische Übersichtsarbeit, evidenzbasierte Medizin
Psychopharmakotherapie 2011;18:35–7.

Hintergrund

Bei der Akutbehandlung depressiver Erkrankungen spielen sogenannte „neue Antidepressiva“ (manchmal auch als „Antidepressiva der zweiten Generation“ oder „moderne Antidepressiva“ beschrieben) eine zentrale Rolle. Ob sich die Präparate in Bezug auf ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit unterscheiden, wird zurzeit kontrovers diskutiert. Um diese Frage zu beantworten wurden kürzlich zwei unabhängige qualitativ hochwertige Metaanalysen durchgeführt. Die Übersicht von Cipriani et al., veröffentlicht Anfang Januar 2009 im Lancet [2], fand sowohl im klinischen als auch im wissenschaftlichen Kontext große Beachtung, während das Ende 2008 in den Annals of Internal Medicine publizierte Review von Gartlehner et al. [5] im europäischen Raum zunächst weitgehend unbemerkt blieb.

Fragestellung

Beide Metaanalysen hatten zum Ziel die Wirksamkeit und Verträglichkeit von jeweils 12 modernen Antidepressiva für die Behandlung von unipolarer Depression bei Erwachsenen zu vergleichen.

Methoden

Beide systematische Übersichtsarbeiten bezogen sich auf die gleiche Zielgruppe, Patienten mit einer unipolaren depressiven Episode. Gartlehner et al. berücksichtigten in ihrer Arbeit auch die Evidenz für Patienten mit komorbiden Erkrankungen, Dysthymie und subsyndromaler Depression. In beiden Übersichtsarbeiten wurden Wirksamkeit und Verträglichkeit von Bupropion, Citalopram, Duloxetin, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Mirtazapin, Paroxetin, Sertralin und Venlafaxin überprüft. In jeweils einem Review wurden zusätzlich Milnacipran und Reboxetin (Cipriani et al.) sowie Nefazodon und Trazodon (Gartlehner et al.) untersucht.

In beide Arbeiten wurden randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) eingeschlossen, die einen direkten Vergleich zweier Präparate vorgenommen hatten. Im Gegensatz zu Cipriani et al. schlossen Gartlehner et al. für die Evaluation der Wirksamkeit auch Plazebo-kontrollierte Studien ein. Zusätzlich berücksichtigten Letztere bei der Überprüfung der Verträglichkeit auch Beobachtungsstudien. Beide systematischen Übersichten kombinierten Evidenz aus direkten und indirekten Vergleichen mittels Netzwerk-Metaanalyse (Cipriani et al.) oder Meta-Regression (Gartlehner et al.). Während die Zielgrößen bei Cipriani et al. das Chancenverhältnis (Odds-Ratio) von Response und Drop-out waren, erfassten Gartlehner et al. eine größere Anzahl an Outcomes (Response, Zeit bis zum Einsetzen der Wirkung, Remission, Dauer der depressiven Episode, Lebensqualität, Form und Häufigkeit von Nebenwirkungen, Drop-out aufgrund von Nebenwirkungen). Diese wurden für statistische Analysen als gewichtete mittlere Differenz („weighted mean difference“) und relatives Nutzenverhältnis („relative benefit ratio“) quantifiziert.

Ergebnisse

Insgesamt wurden in der Metaanalyse von Cipriani et al. 117 Studien und im Review von Gartlehner et al. 203 Studien und damit jeweils Daten von mehreren zehntausend Patienten berücksichtigt.

Die Metaanalyse von Cipriani et al. kam zu dem Ergebnis, dass in Bezug auf die Wirksamkeit statistisch signifikante und klinisch relevante Unterschiede zwischen den Präparaten bestehen, und zwar zugunsten von Mirtazapin, Escitalopram, Venlafaxin und Sertralin. Reboxetin erwies sich bezüglich der Wirksamkeit als allen anderen untersuchten Präparaten unterlegen. In Bezug auf die Verträglichkeit zeigten sich statistisch und klinisch signifikante Vorteile von Escitalopram, Sertralin, Citalopram und Bupropion. Weder Sensitivitätsanalysen mit Ausschluss von Studien mit Dosierungen außerhalb der empfohlenen therapeutischen Dosis oder von Studien mit unvollständigen Daten noch die Berücksichtigung der Finanzierung der Studien lieferten abweichende Ergebnisse.

Im Gegensatz zu Cipriani et al. kommt die Metaanalyse von Gartlehner et al. zu dem Ergebnis, dass zwischen einigen Präparaten zwar statistisch signifikante Unterschiede in der Wirksamkeit bestehen, diese jedoch sehr gering und als klinisch nicht relevant anzusehen sind. Dieser Befund ließ sich auch durch Subgruppenanalysen mit Populationen mit unterschiedlichen komorbiden Erkrankungen, Alter, Geschlecht und Ethnizität bestätigen. Unterschiede zwischen den Präparaten zeigten sich dagegen bezüglich der Zeit bis zum Einsetzen der Wirkung und verschiedener Nebenwirkungen. Zum Beispiel liegen konsistente Befunde vor, dass Mirtazapin schneller wirkt als Citalopram, Fluoxetin, Paroxetin oder Sertralin und dass Bupropion seltener die sexuelle Funktionsfähigkeit beeinträchtigt als Fluoxetin, Paroxetin oder Sertralin. Die empirischen Befunde für die Behandlung von Dysthymie oder subsyndromaler Depression mit modernen Antidepressiva erwiesen sich als unzureichend.

Schlussfolgerungen der Autoren

Aufgrund ihrer Ergebnisse folgerten Cipriani et al., dass Escitalopram und Sertralin die Präparate der ersten Wahl für die Akutbehandlung einer moderaten bis schweren Depression sein sollten, da hier das Verhältnis von Wirksamkeit und Verträglichkeit am günstigsten ausfällt. Unter der Berücksichtigung von Kosten empfahlen sie Sertralin als Medikament erster Wahl, obwohl sie einräumten, keine formale Kosten-Effektivitäts-Analyse durchgeführt zu haben. Cipriani et al. kamen darüber hinaus zu dem Schluss, dass Reboxetin nicht routinemäßig zur Behandlung von Depression eingesetzt werden sollte.

Gartlehner et al. folgerten dagegen, dass aufgrund der Abwesenheit klinisch relevanter Wirksamkeitsunterschiede zwischen den untersuchten Präparaten keine Auswahl erfolgen kann. Die Entscheidung für ein Medikament sollte daher aufgrund pharmakokinetischer Merkmale und unter Berücksichtigung von Nebenwirkungen getroffen werden. Folglich wiesen sie darauf hin, dass jeder Behandelnde mit einem breiten Spektrum von Antidepressiva vertraut sein sollte, da die wissenschaftlichen Grundlagen für eine differenzielle Indikation bisher unzureichend sind. Gartlehner et al. betonten auch, dass eine richtige Dosierung (maximale tolerierte Dosis) und eine angemessene Behandlungsdauer (mindestens 8 Wochen) für eine erfolgreiche Behandlung genauso wichtig seien wie die Wahl zwischen den spezifischen Medikamenten.

Kommentar

Auf den ersten Blick überraschen die widersprüchlichen Ergebnisse der zwei vorgestellten systematischen Übersichtsarbeiten. In beiden wurden unter Anwendung differenzierter statistischer Analysen Unterschiede in der Wirksamkeit und Verträglichkeit von neuen Antidepressiva untersucht. Trotz der großen Übereinstimmung in der Vorgehensweise kam die Studie von Gartlehner et al. zu dem Schluss, dass keine relevanten Unterschiede bezüglich der Wirksamkeit neuer Antidepressiva bestehen, wohingegen Cipriani et al. die Überlegenheit einiger Präparate feststellten. Einigkeit zwischen den Autoren scheint darüber zu herrschen, dass Unterschiede in der Verträglichkeit existieren.

Über das Zustandekommen dieser uneinheitlichen Ergebnisse im Hinblick auf die Wirksamkeit lassen sich einige Überlegungen anstellen. Wie in zahlreichen Leserbriefen im Lancet und in einem leidenschaftlichen „Schlagabtausch“ der Originalautoren auf den Seiten von Evidence Based Mental Care [1, 4] aufgezeigt wurde, gibt es wichtige Details, in denen sich die beiden Arbeiten unterscheiden. So werden zum Beispiel Unterschiede im Umgang mit der klinischen Heterogenität der Zielpopulation deutlich. Gartlehner et al. trennten bestimmte Patientenpopulationen voneinander und führten Subgruppenanalysen durch, während Cipriani et al. eine Gesamtgruppe analysierten. Des Weiteren sind Unterschiede in den angewandten Methoden festzustellen, zum Beispiel bei der Entscheidung über den Ein- oder Ausschluss von Plazebo-kontrollierten und Beobachtungsstudien oder bei der Operationalisierung der Endpunkte.

Der wahrscheinlich wichtigste Unterschied zwischen den Arbeiten besteht jedoch nicht bei der Datenerhebung oder -analyse, sondern bei der Interpretation der Ergebnisse. Trotz methodischer Differenzen finden beide Arbeiten vergleichbare Wirksamkeitsunterschiede zwischen den Präparaten. Cipriani et al. interpretierten diese als klinisch bedeutsam, während Gartlehner et al. sie als klinisch nicht relevant beurteilten. Dass ein solches Phänomen bei qualitativ hochwertigen und hochrangig publizierten Metaanalysen auftreten kann, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass über die Definition, Messung und Bedeutung von klinischer Relevanz sowohl in der klinischen Praxis als auch in der Forschung nach wie vor Uneinigkeit herrscht.

Die Metaanalysen scheinen sich auch bezüglich ihrer allgemeinen Schwerpunktsetzung zu unterscheiden. Dabei weist die Arbeit von Cipriani et al. einen eher globalen und wissenschaftlich gesteuerten Charakter auf, während die Arbeit von Gartlehner et al. nach spezifischen und praxisnahen Empfehlungen sucht. Gegenwärtig scheinen klinische Leitlinien eher mit letzterem Befund in Einklang zu stehen. So stellen die deutsche S3-Leitliniengruppe Unipolare Depression [3], das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) aus England [7] und das American College of Physicians (ACP) [8] in ihren aktuellen Behandlungsleitlinien keine klinisch relevanten Wirksamkeitsunterschiede zwischen neuen Antidepressiva fest und empfehlen Behandelnden, die Entscheidung für ein Präparat aufgrund anderer Faktoren, zum Beispiel Nebenwirkungen, zu treffen.

Im Gegensatz zu dem Bild einer objektiv beschreibbaren Realität und Wahrheit setzt die Bewertung von Information aus qualitativ hochwertigen Metaanalysen eine Klärung der eigenen Annahmen, Theorien und Zielsetzungen voraus. Die Vorstellung einer „allgemeingültigen Evidenz“ ist aufgrund der Komplexität der Versorgungsrealität manchmal von geringem Nutzen. Es sollte stets in Erinnerung gerufen werden, dass evidenzbasierte Medizin (EbM) weniger blindes Vertrauen auf die Befunde von Metaanalysen, sondern vielmehr eine Integration empirischer Ergebnisse mit den Kompetenzen und Erfahrungen der Behandelnden sowie mit den Wünschen und Präferenzen der Patienten bedeutet [6]. Dadurch lässt sich vielleicht die Frage, wer Recht hat, durch eine andere ersetzen, nämlich die Frage, welche Information in welchem Kontext nützlich ist.

Literatur

1. Barbui C, Cipriani A, Furukawa TA, Salanti G, et al. Making the best use of available evidence: the case of new generation antidepressants. Evid Based Mental Health 2009;12:101–4.

2. Cipriani A, Furukawa TA, Salanti G, Geddes JR, et al. Comparative efficacy and acceptability of 12 new-generation antidepressants: a multiple-treatments meta-analysis. Lancet 2009;373:746–58.

3. DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, et al. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung. 1. Auflage. Berlin, Düsseldorf: DGPPN, ÄZQ, AWMF 2009.

4. Gartlehner G, Gaynes BN. Are all antidepressants equal? Evid Based Mental Health 2009;12:98–100.

5. Gartlehner G, Gaynes BN, Hansen RA, Thieda P, et al. Comparative benefits and harms of second-generation antidepressants: background paper for the American College of Physicians. Ann Intern Med 2008;149:734–50.

6. Kriston L, Berner MM. Evidenzbasierte Medizin und die psychiatrische Praxis. Psychiatr Psychother up2date 2009;3:49–67.

7. National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE). Depression: the treatment and management of depression in adults. National Clinical Practice Guideline 90. London: National Institute for Health and Clinical Excellence, 2009.

8. Qaseem A, Snow V, Denberg TD, Forciea MA, et al. Using second-generation antidepressants to treat depressive disorders: A clinical practice guideline from the American College of Physicians. Ann Intern Med 2008;149:725–33.

Dr. phil. Levente Kriston, Dipl.-Psych., Alessa von Wolff, Dipl.-Psych., Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Martinistraße 52 (Haus W26), 20246 Hamburg, E-Mail: l.kriston@uke.uni-hamburg.de Lars P. Hölzel, Dipl.-Psych., Sektion Klinische Epidemiologie und Versorgungsforschung, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg, Hauptstraße 5, 79104 Freiburg

Contradictory high-level evidence for new-generation antidepressants

Two recently published high quality meta-analyses on efficacy and acceptability of new-generation antidepressants reported contradictory conclusions. One study claimed that substantial differences in efficacy between agents exist, while the other study found no such difference. Examination of the two studies showed that in addition to methodological issues this inconsistency can mainly be traced back to heterogeneous interpretations of similar results. This highlights the relevance of interpretation perspectives in the context of evidence based medicine.

Key words: Antidepressants, depression, meta-analysis, systematic review, evidence-based medicine

Psychopharmakotherapie 2011; 18(01)