Verordnungsgewohnheiten von Psychopharmaka an deutschen psychiatrischen Krankenhäusern


Ergebnisse einer Befragung der Bundesdirektorenkonferenz Teil III: Antidepressiva

Gerd Laux, Sissi Artmann, Wasserburg a. Inn, Wilfried Günther, Wolfgang Trapp, Bamberg, Max Schmauß, Augsburg, Reinhard Steinberg, Klingenmünster, Ulrich Frommberger, Offenburg, Thomas Messer, Augsburg, Norbert Müller, München, Heinrich Schultze-Mönking, Telgte, und Karl Ludwig Täschner, Stuttgart

Pharmakoepidemiologische Daten zum Verordnungsverhalten bezüglich Psychopharmaka liegen für die psychiatrischen Kliniken Deutschlands bislang nicht vor. Um das tägliche, in Kliniken praktizierte Verordnungsverhalten abzubilden, wurde von der Arbeitsgruppe biologische Psychiatrie der Bundesdirektorenkonferenz ein umfangreicher Fragebogen entwickelt. Die Angaben von 279 Ärzten zur differenzierten Verordnung von Antidepressiva machen insgesamt die Präferenz neuerer Substanzen deutlich und zeigen, dass überwiegend leitlinienkonform behandelt wird. Empfohlene Kontrolluntersuchungen (Labor, EKG, EEG) werden offenbar eingehalten oder sind zumindest bekannt. Hervorzuheben ist die hohe Konformität der Angaben mit marketingstrategischen Positionierungen verschiedener Präparate. Neben einem Teilnahme-Bias muss methodologisch beachtet werden, dass die Angaben einer Befragung die tatsächliche Verordnungsrealität nicht unbedingt präzise abbilden.
Schlüsselwörter: Antidepressiva, Verordnungspraxis, Pharmakoepidemiologie
Psychopharmakotherapie 2008;15:265–71.

Die Verordnung von Antidepressiva hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt, derzeit sind in Deutschland 27 verschiedene Antidepressiva verfügbar [21, 30]. Ziel war die Entwicklung selektiv wirkender Substanzen (spezifisch serotonerg, noradrenerg, „dual“) mit Wirksamkeits- oder/und Verträglichkeitsvorteilen [26]. Pharmakoepidemiologische Daten zur Verordnung liegen für den ambulanten Bereich vor und werden jährlich im Arzneiverordnungsreport publiziert [29, 30]. Für den stationären Sektor, also die Verordnung in deutschen psychiatrischen Kliniken, liegen bislang keine repräsentativen Daten vor. Die vorliegende Arbeit präsentiert einen Teil einer Umfrage, die im Jahr 2004/2005 an deutschen psychiatrischen Versorgungskliniken durchgeführt wurde mit dem Ziel, im Sinne einer naturalistischen Erhebung die gegenwärtige Verordnungspraxis in der medikamentösen Behandlung depressiver Störungen zu eruieren und mit nationalen sowie internationalen Leitlinien (Guidelines) zu vergleichen. Teil I (Antipsychotika) und II (Tranquilizer und Hypnotika) sind in Heft 5/2008 der Psychopharmakotherapie publiziert [13, 31].

Patienten und Methodik

Die Daten entstammen einer Befragung von 283 Ärzten in deutschen psychiatrischen Kliniken aus dem Jahr 2004/2005, die durch die Arbeitsgruppe biologische Psychiatrie der Bundesdirektorenkonferenz erstellt und durchgeführt wurde und die Verordnungskonzepte hinsichtlich aller Psychopharmaka-Gruppen einschloss. Die unten dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf 21 Fragen zu Verordnungsgewohnheiten im Hinblick auf Antidepressiva, sie umfassten folgende Fragen:

  • Präferenz konventioneller vs. neuerer Antidepressiva, hauptverordnete Antidepressiva
  • Kriterien für die Auswahl, Indikationsspektrum
  • Dosierungen
  • Wirkungseintritt
  • Procedere bei Nonresponse
  • Behandlung spezieller Depressions-Gruppen (KHK, Diabetiker, Parkinson-Kranke)
  • Verordnungsdauer, Rezidivprophylaxe
  • Kontrolluntersuchungen

Die zur Auswahl stehenden Antidepressiva sind in Tabelle 1 aufgeführt.

Tab. 1. Zur Auswahl stehende Antidepressiva (AD; internationale Freinamen [INN] in alphabetischer Reihenfolge)

Konventionelle AD („Trizyklika”)

Amitriptylin

AMI

Amitriptylinoxid

AMIOX

Clomipramin

CLO

Doxepin

DOX

Imipramin

IMI

Nortriptylin

NOR

Trimipramin

TRI

Andere

(Freitext)

Neuere AD

Citalopram

CIT

Escitalopram

ESC

Fluoxetin

FLU

Mirtazapin*

MIR

Moclobemid**

MOC

Paroxetin

PAR

Reboxetin

REB

Sertralin

SER

Venlafaxin*

VEN

Konventionelle MAO-Hemmer

Tranylcypromin

TRA

„Atypische” AD

Johanniskraut

HYP

Sulpirid

SUL

Opipramol

OPI

*sog. „duale“ AD, **MAO-Hemmer

Der ausführliche Fragebogen ist an anderer Stelle publiziert [13 sowie unter www.sozialstiftung-bamberg.de].

Der Fragebogen wurde elektronisch an alle an der Bundesdirektorenkonferenz teilnehmenden Ärztlichen Direktoren/Chefärzte von Versorgungskrankenhäusern (Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie) versandt mit der Bitte, die ärztlichen Kollegen ihrer jeweiligen Klinik anonym zu befragen. Es bestand die Möglichkeit, den Bogen auszudrucken und handschriftlich zu bearbeiten oder direkt elektronisch auszufüllen. Der umfangreiche, differenzierte Fragebogen machte eine minimale Bearbeitungszeit von einer Stunde erforderlich. Zunächst wurden die persönliche klinische Erfahrung der Befragten, das Bundesland des Arbeitsplatzes sowie die Anzahl der Betten der jeweiligen Klinik dokumentiert. Im Einzelnen sollten die Klinikärzte Stellung nehmen zur eigenen Verordnungspraxis von Antipsychotika, Antidepressiva, Antidementiva/Nootropika, Tranquilizern/Hypnotika sowie von Mood-Stabilizern/Stimmungsstabilisierern.

Die Auswertung erfolgte in getrennten Zentren nach gemeinsamen statistischen Vorgaben und Absprachen. Eine ausführliche Beschreibung zur Methodik findet sich bei Günther et al. [13]. Die Prozentangaben im Ergebnisteil beziehen sich jeweils auf diejenigen (224–279) von 283 Befragten, die auch den Antidepressiva-Teil bearbeiteten.

Neben einer rein deskriptiven Auswertung der Daten wurden zu den einzelnen Fragen auch statistische Tests durchgeführt, um zu überprüfen, ob sich Unterschiede in den Verordnungsgewohnheiten je nach Zeitraum der Beschäftigung im psychiatrischen Bereich zeigen (Chi2-Test; Mann-Whitney-U-Test; Wilcoxon-Test). Hierbei wurden Angaben von Ärzten, die bis neun Jahre in der Psychiatrie beschäftigt waren, den Daten von Ärzten gegenübergestellt, die eine Berufserfahrung von zehn oder mehr Jahren aufweisen.

Ergebnisse

Von den befragten Ärzten waren knapp die Hälfte bis zu sechs Jahre, 53% länger als sechs Jahre berufstätig, 54% waren Männer. Der jüngste Arzt war 25, der älteste 63 Jahre alt. 55% waren Assistenzärzte, 15% arbeiteten zum Befragungszeitpunkt in Baden-Württemberg, 59% in Bayern, 11% in Nordrhein-Westfalen und 15% in den übrigen Bundesländern.

Die Befragung der klinisch tätigen Psychiater zur stationären Akutbehandlung depressiver Störungen ergab, dass generell eine eindeutige Präferenz neuerer Antidepressiva gegenüber konventionellen Antidepressiva besteht (Abb. 1), wobei sich keine Unterschiede je nach Tätigkeitsdauer der Ärzte zeigen.

Abb. 1. Präferenz für neuere vs. konventionelle Antidepressiva (n=224)

83% der Ärzte bevorzugten zu 75 bis 100% neuere Antidepressiva. Als hauptverordnete Mittel in einer stationären Behandlung werden bei konventionellen Antidepressiva am häufigsten Amitriptylin, Doxepin und Trimipramin genannt (Abb. 2).

Abb. 2. Hauptverordnete konventionelle Antidepressiva (Mehrfachnennungen erbeten)

Je nach Zeitraum der psychiatrischen Tätigkeit weisen Ärzte jedoch unterschiedliche Präferenzen auf (p=0,05): Ärzte, die seit zehn Jahren in der Psychiatrie tätig waren, verordnen häufiger Clomipramin, Nortriptylin und Trimipramin als ihre Kollegen.

Von den neueren Antidepressiva werden am häufigsten Mirtazapin, Citalopram und Venlafaxin als Hauptverordnung angegeben (Abb. 3).

Abb. 3. Hauptverordnete neuere Antidepressiva (Mehrfachnennungen erbeten)

Öfter genannt wurden auch Escitalopram, Reboxetin und Sertralin. Auch hier zeigen sich je nach Tätigkeitsdauer unterschiedliche Gewohnheiten (p=0,02): Ärzte, die bis zu neun Jahre in der Psychiatrie tätig waren, verordneten häufiger Citalopram, während Ärzte mit längerer Berufserfahrung häufiger auch Reboxetin, Sertralin und Venlafaxin verwenden.

Für jeweils 97% der Befragten sind bei der Auswahl der Antidepressiva die Wirkpotenz, das Wirkprofil und das Nebenwirkungsprofil „wichtig“ bis „sehr wichtig“. Drei Viertel der Ärzte orientieren sich auch am Patientenwunsch, für nur 27,6% sind auch die Kosten entscheidend. Ärzten, die bis neun Jahre psychiatrisch tätig waren, sind hierbei der Patientenwunsch (70,4 vs. 86,9%; p=0,05) und die Kosten (28,6 vs. 41,7%; p=0,02) seltener „wichtig“ bis „sehr wichtig“ als ihren Kollegen.

Die Dosis bei konventionellen Antidepressiva bewegt sich zwischen 75 und 300 mg/d (Abb. 4), für Trizyklika liegt sie bei durchschnittlich 135 mg/d.

Abb. 4. Dosierung von konventionellen Antidepressiva (Mittelwert und Standardabweichung)

Einzig bei der Substanz Amitriptylin zeigt sich ein Unterschied je nach Dauer der beruflichen Tätigkeit in der Psychiatrie: Ärzte, die schon über zehn Jahre tätig sind, bevorzugen hier im Schnitt signifikant (p=0,001) höhere Dosen als ihre Kollegen.

Die angegebenen durchschnittlichen Dosierungen von neueren Antidepressiva sind in Abbildung 5 wiedergegeben:

Abb. 5. Dosierung von neuen Antidepressiva, MAO-Hemmern und atypischen Antidepressiva (Mittelwert und Standardabweichung)

Im Falle der neueren Antidepressiva zeigt sich, dass Ärzte mit einer längeren Berufstätigkeit Escitalopram (p=0,003) und Mirtazapin (p=0,004) im Schnitt höher dosieren. Auch der MAO-Hemmer Tranylcypromin wird von dieser Gruppe im Schnitt in einer höheren Dosis verordnet (p=0,02).

Als für die Dosierung relevant angegeben werden klinische Effekte und Nebenwirkungen (99–100%), Herstellerangaben (72%) und Plasmaspiegel (43%).

Bei schweren Depressionen werden vorwiegend die neueren Antidepressiva Mirtazapin, Venlafaxin, Citalopram und Escitalopram eingesetzt, häufiger aber auch die konventionellen Antidepressiva Amitriptylin und Doxepin (vgl. Tab. 2).

Tab. 2. Hauptverordnete konventionelle und neuere Antidepressiva bei schweren Depressionen (Nennungen [%] bei Mehrfachnennungen)

Substanz

In der Psychiatrie tätig seit bis 9 Jahren (n=404)

In der Psychiatrie tätig seit über 10 Jahren (n=313)

Gesamt
(n=728)

Amitriptylin

36,4

48,6

42,2

Clomipramin

4,9

12,6

8,5

Doxepin

15,4

19,8

17,4

Citalopram

48,3

24,3

37,2

Escitalopram

27,3

18,0

23,3

Mirtazapin

60,1

62,2

60,5

Venlafaxin

46,9

55,9

50,4

Angaben zu den restlichen Substanzen liegen jeweils unter 10%

Hierbei unterscheiden sich Ärzte je nach Berufsdauer signifikant (p=0,000): Ärzte mit längerer Berufserfahrung verordnen öfter die genannten konventionellen Antidepressiva, während ihre Kollegen insbesondere die Substanzen Citalopram und Escitalopram häufiger verwenden.

Bei leichtgradigen Depressionen und Dysthymie verwenden 87% der Ärzte „öfter“ bis „zumeist“ SSRI, 73% geben duale Substanzen an. Johanniskraut wird von nur 13% und MAO-Hemmer von nur 11% der Ärzte „öfter“ bis „zumeist“ verwendet, nahezu die Hälfte der Ärzte verordnen diese Substanzen „nie“.

Auf den Wirkungseintritt warten 63% der befragten Ärzte in der Regel drei bis vier Wochen (bis zu 2 Wochen warten 14%, bis zu 3 Wochen 28%, bis zu 4 Wochen 36%, bis zu 6 Wochen 21%).

Nonresponse

Bei mangelnder Wirksamkeit eines SSRI stellen 40% auf einen anderen SSRI, 59% auf ein Trizyklikum, 44% auf Reboxetin, 90% auf eine dual wirksame Substanz und 20% auf MAO-Hemmer um. Bei mangelnder Wirksamkeit eines Trizyklikums stellen 81% auf eine dual wirksame Substanz, 78% auf einen SSRI, jeweils knapp ein Drittel auf ein anderes Trizyklikum, Reboxetin oder auf MAO-Hemmer um (Tab. 3).

Tab. 3. Bevorzugte Umstellung bei Nichtansprechen (Prozentangaben der Nennungen „öfter“ und „zumeist“)

Umstellung von

Umstellung auf

SSRI

Trizyklikum

Reboxetin

Duale Substanz

MAO-Hemmer

SSRI

39,7

58,8

43,8

89,7

19,8

Trizyklikum

77,9

30,6

32,0

81,3

31,0

Duale Substanz

54,3

56,1

33,9

35,4

28,7

Gesamtskala: zumeist/öfter/gelegentlich/nie

Ärzte, die seit mehr als zehn Jahren psychiatrisch tätig sind, stimmten der Aussage häufiger zu (p=0,02), dass sie bei Unwirksamkeit eines SSRI „öfter“ oder „zumeist“ auf ein anderes SSRI umstellen wollen (46,5%), als ihre Kollegen (31,7%).

Im Falle von chronischen „therapieresistenten“ Depressionen werden von jeweils etwa 80% der Ärzte duale Substanzen und Trizyklika „öfter“ bis „zumeist“ eingesetzt. Bemerkenswert häufig werden bei Therapieresistenz Plasmaspiegelkontrolle (therapeutisches Drug-Monitoring), Lithium-Augmentation sowie Augmentation mit einem atypischen Antipsychotikum, die Kombination Trizyklika und SSRI sowie die Verordnung von MAO-Hemmern angegeben.

Seltener dagegen wird der Aussage zugestimmt, bei therapieresistenter Depression Reboxetin, eine T3- oder eine Buspiron-Augmentation einsetzen zu wollen. Ärzte, die seit mindestens zehn Jahren psychiatrisch tätig waren, verordnen häufiger eine Plasmaspiegelkontrolle (p=0,05) sowie eine Lithium- (p=0,05) und T3-Augmentation (p=0,02) als ihre Kollegen, die noch nicht so lange in der Psychiatrie beschäftigt sind.

Spezielle Patientengruppen

Als Mittel der ersten Wahl bei Alterspatienten, Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen, Diabetikern und Parkinsonpatienten werden von den befragten Ärzten besonders häufig Citalopram, Escitalopram und Mirtazapin genannt (Abb. 6).

Abb. 6. Antidepressiva-Wahl bei speziellen Patientengruppen

Bei einer Altersdepression dosieren 50,2% der Befragten niedriger.

Ärzte mit längerer Berufserfahrung bevorzugen Mirtazapin und Escitalopram, während ihre Kollegen bei Komorbiditäten öfter Citalopram verwenden. Diese Unterschiede zeigen sich im Falle der Verordnungen bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen (p=0,002) und bei Parkinson-Patienten (p=0,05) signifikant.

Als Langzeitmedikation zur Phasenprophylaxe bei unipolaren Depressionen werden von den Ärzten im Schnitt zu 71% Antidepressiva, zu 28,4% Lithium und zu 19,9% Carbamazepin eingesetzt. Bei diesen Präferenzen bestehen einige Unterschiede je nach Dauer der Berufstätigkeit der Ärzte: Während Ärzte, die bis zu neun Jahren psychiatrisch tätig sind, im Schnitt zu 74% Antidepressiva einsetzen, verordnen ihre Kollegen mit einer längeren Berufstätigkeit Antidepressiva zur Langzeitprophylaxe im Schnitt zu 67% (p=0,04). Dagegen setzen Ärzte mit einer Berufserfahrung von >10 Jahren Lithium im Schnitt zu 31% ein, ihre Kollegen aber nur zu knapp 26% (p=0,03).

Hinsichtlich der Dauer der Erhaltungstherapie empfehlen bei Ersterkrankung 57% die Antidepressiva-Medikation nach Klinikentlassung für sechs Monate, 36% für ein Jahr.

Bei einer Langzeittherapie zur Phasenprophylaxe liegt die Dosierung jeweils signifikant (p=0,000) niedriger als bei den Angaben der Ärzte zur durchschnittlichen Akutdosis.

Als Dosierung werden für Trizyklika durchschnittlich 105 mg/d, für Sertralin 80 mg/d, für Venlafaxin 135 mg/d, für Citalopram 24 mg/d, für Mirtazapin 32 mg/d, für Paroxetin 24 mg/d, für Reboxetin 6 mg/d, für Tranylcypromin 21 mg/d angegeben.

Indikationen

Außer bei Depressionen werden Antidepressiva bei verschiedenen anderen Erkrankungen und Störungen eingesetzt (Abb. 7).

Abb. 7. Indikationsspektrum von Antidepressiva (Nennungen von „häufig“ oder „sehr häufig“)

Ärzte, die seit zehn Jahren im psych-iatrischen Bereich arbeiten, verwenden Antidepressiva bei Impulskontrollstörungen (p=0,01) und Essstörungen (p=0,02) signifikant häufiger.

Verträglichkeit

Unter den unerwünschten Wirkungen werden zentralnervöse, hämatologische und kardiovaskuläre Nebenwirkungen von jeweils etwa 97% der Ärzte als „wichtig“ bis „sehr wichtig“ erachtet. Für 77 bis 86% der Ärzte sind auch endokrinologische, dermatologische und gastrointestinale Nebenwirkungen sowie sexuelle Funktionsstörungen bedeutsam. Sexuelle Dysfunktionen schätzen Ärzte mit längerer Berufstätigkeit signifikant wichtiger ein (p=0,05) als ihre Kollegen.

Auf die Frage nach Kontrolluntersuchungen werden für EKGs die in Abbildung 8 dargestellten Zeitabstände angegeben.

Abb. 8. Kontrolluntersuchungen – EKG

Ein EEG wird zur Kontrolle in der Akut-behandlung bei Trizyklika und bei neueren Antidepressiva am häufigsten monatlich (Trizyklika: 81%; neuere AD: 87%) und bei Langzeitbehandlungen am häufigsten jährlich (Trizyklika: 51%; neuere AD: 60%) angeordnet. Laboruntersuchungen finden nach Angabe der Ärzte in der Akutbehandlung bei Trizyklika überwiegend wöchentlich (51%), bei neueren Antidepressiva am häufigsten wöchentlich (41%) oder alle zwei Wochen (35%) statt.

In der Langzeitbehandlung werden vierteljährliche Kontrolluntersuchungen bevorzugt (Trizyklika: 57%; neuere AD: 48%). Im Falle der Kontrolluntersuchungen bei Langzeitbehandlungen unterscheiden sich die Angaben der Ärzte wieder je nach Berufserfahrung: Bei der Vergabe von neueren Antidepressiva werden EKGs von Ärzten, die bis zu neun Jahre psychiatrisch tätig waren, vermehrt viertel- oder halbjährlich (77%) durchgeführt, während ihre Kollegen häufiger eine halbjährliche oder jährliche Kontrolle bevorzugen (71%) (p=0,01). Ärzte mit weniger Berufsjahren ordnen EEGs bei Trizyklika und neueren Antidepressiva doppelt so häufig wie ihre Kollegen auch in einem vierteljährlichen Zeitraum an, während Ärzte mit längerer Berufstätigkeit häufiger einen jährlichen Untersuchungszeitraum angaben (Trizyklika: p=0,03; neuere AD: p=0,006).

Diskussion

Die vorliegenden Ergebnisse basieren auf der bislang größten industrieunabhängigen Erhebung zur Psychopharmaka-Verordnung in psychiatrischen Kliniken Deutschlands. Die Befragung spiegelt eindeutig die Präferenz neuerer Antidepressiva in der stationären Depressionsbehandlung deutscher Fachkliniken wider. Als Spitzenreiter fungieren Mirtazapin, Citalopram und Venlafaxin, während bei den Trizyklika Amitriptylin, Doxepin und Trimipramin dominieren.

Die verfügbaren Erhebungsdaten aus den deutschen Arzneimittelüberwachungssystemen AGATE und AMSP lassen sich basierend auf Stichtagserhebungen wie folgt zusammenfassen: Verordnung von Trizyklika 22%, von SSRI 12%, von Mirtazapin und Venlafaxin 45%; am meisten verordnet werden Mirtazapin, Escitalopram, Venlafaxin und Citalopram (AGATE N=25500, [9]). Kombinationsbehandlungen im Sinne einer Polypharmazie haben nach diesen Daten erheblich zugenommen, was sich auch in der Literatur widerspiegelt [24, 25]. Im Jahr 2001 waren in der AMSP-Erhebung Mirtazapin mit 25%, Venlafaxin und Sertralin mit jeweils 13%, Doxepin mit 11% und Citalopram mit 9% die meistverordneten Substanzen, MAO-Hemmer wurden sehr selten (<1%) verordnet [12]. Für den Vergleich mit ambulanten Verordnungen (GKV) können die Angaben des Arzneiverordnungsreports des Befragungsjahrs herangezogen werden: 2004 wurden von SSRI 250 Millionen definierte Tagesdosen (DDD), von TZA 211 Millionen DDD (mit Opipramol 268 Mio.!) verordnet, meistverordnet waren Citalopram, Amitriptylin, Sertralin, Mirtazapin und Venlafaxin [29]. Während die Verordnung von Trizyklika in etwa analog zu den ambulanten Daten erfolgt (Nortriptylin häufiger, Maprotilin seltener), werden Mirtazapin und Reboxetin häufiger, Sertralin und Fluoxetin deutlich seltener angegeben. Auffallend ist, dass Kliniker offenbar nach wie vor im Gegensatz zu den niedergelassenen Kollegen pharmakoökonomische Aspekte bei der Verordnung weniger beachten [33].

Die angegebene Durchschnittsdosierung entspricht weitestgehend den Empfehlungen psychopharmakologischer Lehrbücher [8, 20, 21], sie ist höher als ambulant und liegt adäquat im Zulassungsrahmen. Die im AMSP-System erhobenen Tagesdosierungen lagen für Mirtazapin bei 45 mg, für Venlafaxin bei 225 mg, Sertralin 100 mg, Doxepin 100 mg, Citalopram und Paroxetin 30 mg [12]. Dass knapp die Hälfte angibt, Plasmaspiegel bei der Dosisentscheidung zu berücksichtigen, ist sicherlich ein Teilnehmer-Selektions-Bias angesichts des bislang in der Versorgung nicht durchgehend etablierten therapeutischen Drug-Monitorings [7, 16]. Für die ambulante, haus-, primär- und fachärztliche Depressionsbehandlung liegen inzwischen State-of-the-Art-Empfehlungen und mehrere Leitlinien vor [2, 14, 20, 22, 26, 27], ebenso für die Behandlung von Altersdepressionen [3].

Die Angabe, dass schwere Depressionen vor allem mit dual wirksamen Substanzen und Amitriptylin behandelt werden, entspricht der wissenschaftlichen Literatur und vorliegenden Leitlinien [2, 4–6, 10, 26]. Gleiches gilt für die Angabe, wie lange eine Medikation bis zum Wirkungseintritt beibehalten wird (2–4 Wochen). Hier muss offen bleiben, inwieweit dies mit der klinischen Realität konform geht. Ebenfalls im Einklang mit der Literatur (z.B. publizierte Algorithmen) ist die Umstellung von Nonrespondern unter SSRI vor allem auf dual wirksame Substanzen oder ein Trizyklikum [1, 31]. An dieser Stelle sei auf die große und aufwendige STAR-D-Studie hingewiesen, die letztlich in ihrer Aussage für die Praxis aber wenig hilfreich ist [28].

Ebenfalls kritisch angemerkt sei, dass die Sinnhaftigkeit von Leitlinien keineswegs unumstritten ist [15, 23].

Bei den Angaben zur Behandlung sogenannter therapieresistenter Depressionen überrascht die Häufigkeit der Augmentierung mit einem atypischen Antipsychotikum sowie die Kombination Trizyklika und SSRI – für beide Vorgehensweisen liegt noch keine ausreichende Evidenzbasierung und Leitlinienempfehlung vor [5, 6]. Demgegenüber wird der irreversible MAO-Hemmer Tranylcypromin hier kaum genannt, obgleich für ihn positive Studiendaten vorliegen [19].

Überraschenderweise wird – auch bei der Behandlung leichter Depressionen – Johanniskraut kaum aufgeführt, obgleich inzwischen für einige Hypericum-Extrakte auch im Vergleich zu TZA und SSRI positive Studienergebnisse vorliegen [11].

Enttäuschend sind die Angaben zu speziellen Patientengruppen: Hinsichtlich Altersdepressionen, Depressionen mit somatischer Komorbidität (Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen) sowie bei depressiven Parkinson-Patienten liegen offenbar keine differenzialtherapeutischen Erfahrungen mit einzelnen Antidepressiva in ausreichendem Maße vor. Hier besteht dringender Fortbildungsbedarf [3, 17, 18].

Die Angaben zur Antidepressiva-Verordnungsdauer in der Langzeitbehandlung im Falle von Erst- und Wiedererkrankungen entsprechen erfreulicherweise den vorliegenden Leitlinien, auch in Bezug auf die Dosierung.

Entsprechend dem Zulassungsstatus werden Antidepressiva auch bei Angst- und Panikstörungen, Zwangsstörungen und chronischen Schmerzsyndromen eingesetzt. Fast 45% verordnen Antidepressiva auch bei Impulskontrollstörungen, knapp 40% bei Essstörungen und schizophrener Minussymptomatik. Angesichts der Off-Label-Problematik lassen sich hieraus sinnvolle Zulassungserweiterungen ableiten.

Von den Nebenwirkungen wird praktisch das gesamte mögliche Spektrum als für die Verordnung wichtig bis sehr wichtig angesehen, eine nähere Spezifizierung und Differenzierung erfolgt hier nicht. Die empfohlenen Zeitintervalle für Kontrolluntersuchungen (EKG, EEG, Labor) entsprechen weitestgehend den in Lehrbüchern gemachten Empfehlungen [8, 21], hier stellt sich sicherlich die Frage, inwieweit dies mit der Realität übereinstimmt. Im ambulanten Sektor können schon rein budgettechnisch diese Vorgaben sicherlich nicht eingehalten werden, im Übrigen entbehren sie bislang einer Evidenzbasierung.

Zusammenfassend kann die hohe Konformität der Angaben von Klinikern zur Verordnung von Antidepressiva mit vorliegenden Leitlinien, aber zum Teil auch mit Empfehlungen aus dem Marketing der pharmazeutischen Industrie (Präparate-Positionierung) konstatiert werden. Die gemachten Angaben geben auch Hinweise auf sinnvolle und indizierte Zulassungserweiterungen. Kritisch ist anzumerken, dass aufgrund der Rücklaufquote und der Dominanz süddeutscher Kliniken die Erhebung nicht als absolut repräsentativ angesehen werden kann, auch muss die tatsächliche Verordnungsrealität offen bleiben. Dringend angezeigt ist die Evaluierung der Implementierung, die tatsächliche Umsetzung von Leitlinien im Klinikalltag.

Prescribing habits with regard to psychotropic drugs in German psychiatric hospitals – Part III: Antidepressants

Data regarding prescription habits and reasons for drug selection in German psychiatric hospitals are missing so far. Results of a survey concerning medication concepts of n=279 physicians regarding antidepressants are presented. In general, newer antidepressants like mirtazapine, citalopram and venlafaxine are preferred, the dosages are in accordance with recommendations. Regarding severe depressions, dual acting antidepressants and amitriptyline are preferred, same to so-called therapy-resistant depressions. Therapeutic drug monitoring and lithium augmentation are noticed additionally, MAO inhibitors to a minor extent. The answers regarding length and treatment options are in line with published guidelines, as well as control investigations recommended. The concordance with marketing strategies seems to be obvious, selection bias and unknown real prescription lines are further limitations.

Keywords: Antidepressants, prescription habits, pharmacoepidemiology

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Federführender Autor: Prof. Dr. Gerd Laux, Inn-Salzach-Klinikum, Gabersee 7, 83512 Wasserburg a. Inn, E-Mail: Gerd.Laux@isk-kbo.de oder g.laux-isk@t-online.de

Psychopharmakotherapie 2008; 15(06)