Antidepressiva

Unterschiedliche Verschreibungsmuster in Europa


Priv.-Doz. Dr. Dieter Angersbach, Wolfratshausen

Die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) sind die am häufigsten verordneten Antidepressiva in Europa. In einer europaweiten Beobachtungsstudie gab es jedoch beträchtliche Unterschiede in der Verschreibung verschiedener Antidepressiva-Gruppen. In Deutschland erhielten nur 31,7% der Patienten einen SSRI, in Frankreich dagegen 81,5%. In Deutschland wurden erheblich häufiger trizyklische Antidepressiva (TZA) verordnet (26,5% der Patienten) als in anderen europäischen Ländern (zwischen 1,5% in den Niederlanden und 8,6% in Österreich). Am zweithäufigsten wurden insgesamt die Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) eingesetzt.

Seit der Markteinführung des Imipramins im Jahre 1958 ist das Spektrum der verfügbaren Antidepressiva ständig breiter geworden. Zunächst kamen weitere TZA hinzu, später erschienen die SSRI, die SNRI und andere Substanzen.

Zwar gibt es Unterschiede im Wirkungsmechanismus zwischen diesen verschiedenen Antidepressiva-Gruppen, jedoch modifizieren sie alle die Funktion von nur drei Neurotransmittern: Noradrenalin und/oder Serotonin und/oder Dopamin. Sie haben daher auch eine vergleichbare antidepressive Wirksamkeit. Unterschiede gibt es in der Art und Ausprägung von Nebenwirkungen.

Die Gründe für die Auswahl eines Antidepressivums mögen unterschiedlich sein, wie beispielsweise traditionelles Verschreibungsverhalten im betreffenden Land, Schwere der Depression oder körperliche und psychische Begleiterkrankungen.

In einer 6-monatigen prospektiven Beobachtungsstudie (Factors influencing depression endpoints research [FINDER] study) in 12 europäischen Ländern untersuchte ein internationales Forscherteam die länderspezifischen Verschreibungsmuster und den Einfluss von Arzt und Patient auf die Auswahl des Antidepressivums. Sowohl Allgemeinärzte/Internisten (primary care physicians) als auch Spezialisten (meist Psychiater) nahmen an der Studie teil und schlossen geeignete Patienten von Mai 2004 bis September 2005 in die Studie ein.

Aufgenommen wurden adulte Patienten (≥18 Jahre) mit der Diagnose einer Depression (erste Episode oder Wiedererkrankung), deren Arzt die Behandlung mit einem Antidepressivum vorgesehen hatte.

Studiendaten wurden bei Einschluss, nach 3 und nach 6 Monaten erhoben. Bei Einschluss wurden Daten über Anzahl der vorangegangenen Episoden, Dauer der gegenwärtigen Episode sowie Typ und Dosis des vorgesehenen Antidepressivums aufgezeichnet. Die Antidepressiva wurden in Klassen zusammengefasst: SSRI (wie Citalopram, Sertralin, Paroxetin), SNRI (wie Duloxetin, Venlafaxin), TZA (wie Amitriptylin, Imipramin, Clomipramin) und andere (wie Monoaminoxidase-Hemmer, pflanzliche Antidepressiva, Lithiumsalze, Reboxetin). Weiterhin wurden Kombinationsbehandlungen mit Antidepressiva aus unterschiedlichen Klassen ausgewertet.

Neben den Daten zu den Antidepressiva wurden auch Faktoren analysiert, die möglicherweise die Auswahl des Antidepressivums beeinflussen, wie depressionsbegleitende Angst, Lebensqualität, depressionsbegleitende Schmerzen, aber auch andere patientenbezogene Merkmale, wie Alter, Geschlecht, Gewicht, Ausbildung, berufliche Betätigung. Daneben wurden auch arztbezogene Merkmale ausgewertet, wie deren Alter, Geschlecht und Spezialisierung.

Ergebnisse

Insgesamt wurden die Daten von 3468 Patienten ausgewertet. Abbildung 1 enthält die Anzahl der Patienten in den einzelnen Ländern. In Portugal und Norwegen wurden vergleichsweise wenig Patienten (n<50) aufgenommen. Daher wurden die Daten beider Länder nicht getrennt aufgeführt.

Abb. 1. Verschreibung von Antidepressiva in 10 von 12 untersuchten europäischen Ländern

Abbildung 1 zeigt weiterhin, dass die SSRI die am häufigsten verschriebenen Antidepressiva waren (63,3% aller Patienten), gefolgt von den SNRI (13,6% aller Patienten).

Auffallend waren die großen Unterschiede im Verschreibungsmuster zwischen verschiedenen Ländern. Die Verschreibung von SSRI reichte von 31,7% (Deutschland) bis 81,5% (Frankreich) der Patienten und die der SNRI von 6,1% (Österreich) bis 25,5% (Holland). TZA wurden am häufigsten in Deutschland (26,5% der Patienten) verordnet, während sie in anderen Ländern deutlich seltener eingesetzt wurden, nämlich bei 1,5% (Schweden, Holland) bis 8,6% (Österreich) der Patienten. Kombinationen wurden häufiger in Österreich (24,5% der Patienten) und gar nicht in Holland und Irland verschrieben.

Folgende Faktoren waren mit der Antidepressiva-Auswahl korreliert:

  • SSRI: eine geringere Häufigkeit der Verschreibung von SSRI wurde gefunden bei Patienten, die früher bereits ein Antidepressivum erhalten hatten, und bei höherem Alter von Arzt und Patient.
  • SNRI: die Verschreibungshäufigkeit war erhöht bei weiblichen Ärzten und bei Patienten, die früher bereits ein Antidepressivum erhalten hatten.
  • Eine Kombinationsbehandlung war korreliert mit dem Schweregrad der Depression und mit einer früheren Gabe eines Antidepressivums.
  • TZA (Deutschland): weniger TZA verschrieben weibliche Ärzte im Vergleich mit ihren männlichen Kollegen und Spezialisten verglichen mit Allgemeinärzten.

Obwohl in allen untersuchten Ländern übereinstimmend die SSRI am relativ häufigsten verschrieben werden, unterscheiden sich die Verschreibungsmuster innerhalb Europas erheblich. Die Autoren diskutieren dafür verschiedene Gründe, wie Verfügbarkeit, Preis, Empfehlungen nationaler Richtlinien, Wiedererstattungsfähigkeit und Intensität der Bewerbung durch den Außendienst des Herstellers. Auch die Zusammensetzung der Studienärzte aus Allgemeinärzten und Spezialisten mag eine Rolle gespielt haben. So werden in Österreich, der Schweiz und Italien depressive Patienten ausschließlich von Spezialisten, in Irland und Holland dagegen ausschließlich von Allgemeinärzten behandelt. Die Autoren fragen sich, ob die Studie den klinischen Alltag in den betreffenden Ländern tatsächlich zutreffend widerspiegelt, da die Teilnehmer vermutlich eine Auswahl der interessierten und erfahrenen Ärzte darstellt. Dadurch könnte die Studie arztbezogene Faktoren unterschätzt haben.

Kommentar

Ein Vergleich des Verschreibungsmusters der verschiedenen Länder zeigt, dass das Verschreibungsverhalten der deutschen Ärzte am deutlichsten vom europäischen Durchschnitt abweicht. Auffallend ist die zurückhaltende Verschreibung von SSRI und besonders auffallend ist der exzessive Einsatz alter Antidepressiva, nämlich der TZA. Das ist nicht darauf zurückzuführen, dass TZA in dieser Studie ausschließlich von Allgemeinärzten verschrieben worden wären. Vielmehr haben auch die Spezialisten erheblich zu diesem Verschreibungsmuster beigetragen. Dieses Muster könnte mit einer deutschen traditionellen Vorliebe für diese Substanzen zusammenhängen, da einige dieser frühen Antidepressiva, wie Imipramin, Amitriptylin, Doxepin, im deutschen Sprachraum entwickelt wurden und daher deutsche Ärzte diese Substanzen frühzeitig und ausgiebig kennen lernten und einsetzten. Die neueren Antidepressiva wurden dagegen überwiegend im angloamerikanischen Bereich entwickelt.

Zudem ist die sedierende Wirkung einiger TZA ein Effekt, den etliche deutsche Ärzte gerne nutzen. In den meisten anderen europäischen Ländern dagegen gelten die TZA als relativ unverträgliche Substanzen, die man Patienten nicht verabreichen sollte.

Quelle

Bauer M, et al. Prescribing patterns of antidepressants in Europe: Results from the Factors Influencing Depression Endpoints Research (FINDER) study. Eur Psychiatry 2008;23:66–73.

Psychopharmakotherapie 2008; 15(06)