Stellenwert von Antidepressiva in der Depressionsbehandlung


Antidepressiva in der Diskussion

AG Arzneimitteltherapie in der Psychiatrie der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)

Zwei aktuell erschienene Studien haben erneut eine Diskussion um die Wirksamkeit und den Stellenwert von Antidepressiva entfacht. Turner (Oregon, USA) und Kollegen zeigten in einem systematischen Vergleich der bei der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA eingereichten Studien und den in Fachzeitschriften publizierten Studien, dass deutlich mehr Arbeiten mit einem günstigen Ausgang in Fachjournalen publiziert werden als solche, in denen die Antidepressiva keine Wirksamkeit zeigten. Die Wahrnehmung der Wirksamkeit wird hierdurch zu Gunsten der Antidepressiva verzerrt. Kirsch (Hull, Großbritannien) und Kollegen kamen in der Analyse von Studien, die ebenfalls bei der US-amerikanischen Zulassungsbehörde eingereicht worden waren, zu dem Schluss, dass die Wirksamkeit von Antidepressiva bei leichten und mittelgradigen Depressionen kaum besser als Plazebo und nur bei schwersten Depressionen Plazebo wirklich überlegen sei. (Zur Schweregrad-Einteilung der Depressionen siehe Empfehlungen zur Therapie der Depression der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft; www.akdae.de).

Beide Erkenntnisse sind nicht neu, insofern ist die öffentliche Aufmerksamkeit nur begrenzt nachvollziehbar. Allerdings finden sie erst in jüngerer Zeit Berücksichtigung in Therapieempfehlungen. Der so genannte publication bias ist ein bekanntes Problem, weswegen seit einigen Jahren Zulassungsstudien für neue Medikamente vor ihrer Durchführung bei den Zulassungsbehörden angemeldet werden müssen. So soll verhindert werden, dass selektiv nur die positiv ausgefallenen Studien eingereicht werden. Dieses Verfahren war die Grundlage, dass für die beiden genannten Publikationen eine unselektierte Basis von Studien zur Verfügung stand. Auch die Abhängigkeit der Effektivität von Antidepressiva vom Schweregrad der Depression war bekannt [z.B. 10, 14, 18] und so bereits in den 2006 veröffentlichten Empfehlungen zur Therapie der Depression der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (www.akdae.de), aber auch in der NICE-Guideline aus Großbritannien (www.nice.org.uk/cg023) dargestellt.

Auch Kirsch und Kollegen stellen die Wirksamkeit von Antidepressiva nicht generell in Abrede, sondern weisen auf einen hohen Anteil des so genannten Plazeboeffekts an der Wirksamkeit hin. Bereits vor zehn Jahren waren sie zu der Einschätzung gekommen, dass dieser circa 50% der Besserung unter einer Antidepressiva-Therapie ausmache, weitere 25% entsprächen der natürlichen Tendenz von Depressionen zur Besserung [13].

Bei der Interpretation der Veröffentlichungen muss berücksichtigt werden, dass es in den letzten Jahren zu einer erheblichen Zunahme von Antidepressiva-Verordnungen gekommen ist (mehr als Verdreifachung in Deutschland von 1993 bis 2006, [15]). Auf der einen Seite ist zu diskutieren, ob eine Ausweitung des Depressionsbegriffs zu einer zu weit gehenden und unkritischen Verschreibung geführt hat, die das vermeintliche Nachlassen der Wirksamkeit mit erklären könnte. Hierzu passt auch der replizierte Befund, dass die Wirksamkeit von Plazebo in Antidepressiva-Studien im Laufe der Jahre kontinuierlich zunimmt [16, 18].

Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass Aktivitäten gegen Defizite im Erkennen von Depressionen (z.B. Kompetenznetz Depression) und die verbesserten Möglichkeiten zur Behandlung älterer Patienten [4] durch neuere, risikoärmere Medikamente zur Ausweitung der Verordnung beigetragen haben könnten. Dem Anstieg der Verordnungen steht eine (quantitativ geringere) Abnahme der Verschreibungen von Beruhigungsmitteln aus der Klasse der Benzodiazepine gegenüber [15].

Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft zieht folgende Schlussfolgerungen:

Antidepressiva sind wirksame und hilfreiche Medikamente in der Behandlung der Depression, deren Effektivität auch durch die neuen Publikationen nicht in Abrede gestellt wurde. Legt man die Number needed to treat (NNT) zugrunde, sind sie in ihrer Wirksamkeit vielen etablierten internistischen Medikamenten vergleichbar.

Aufgrund der geringen Wirksamkeit bei leichten und mittelgradigen Depressionen ist es vertretbar, bei diesen zunächst auf eine reine psychotherapeutische Behandlung oder aber bei leichten Depressionen für einen begrenzten Zeitraum (aufgrund der bei einem Teil der Depressionen vorhandenen Spontanbesserungstendenz) auf ein so genanntes aktives Beobachten (englisch: watchful waiting) zu setzen. Aufgrund der begrenzten Wirksamkeit von Antidepressiva sollten Patienten, die zunächst keine Pharmakotherapie wünschen, Alternativen angeboten werden. Wenn bei einem Patienten mehrere Antidepressiva-Behandlungen ohne Wirkung geblieben sind, sollten nicht weitere Medikamente aus dieser Substanzgruppe aneinander gereiht werden. Dies auch, da die Wirksamkeit der Strategie „Wechsel des Antidepressivums“ nicht wissenschaftlich belegt ist [1]. Diese Behandlungsempfehlungen finden sich bereits in den Empfehlungen zur Therapie der Depression der AkdÄ von 2006 (www.akdae.de) sowie in weiteren internationalen Depressionsbehandlungs-Leitlinien, beispielsweise in der NICE-Guideline.

Der Hinweis auf den hohen Anteil des Plazeboeffekts an der Wirksamkeit von Antidepressiva ist kein grundsätzliches Argument gegen den Einsatz dieser Medikamente. Vielmehr handelt es sich auch beim Plazeboeffekt um eine Wirksamkeit, die dem Patienten voll zu Gute kommt. Auch darf der so genannte Plazeboeffekt keinesfalls mit Nichtbehandlung verwechselt werden. Neben dem Attributionseffekt, der auf der Erwartung einer positiven Wirkung durch das eingenommene Medikament beruht, sind die jede Psychopharmakotherapie begleitenden stützenden ärztlichen Gespräche (clinical management) und die von Vertrauen, Empathie und Hoffnung geprägte Arzt-Patienten-Beziehung therapeutisch wirksam.

Antidepressiva per se sind keine ausreichende Maßnahme gegen Suizidalität. Sie können zur Behandlung des depressiven Syndroms einer mit Suizidalität einhergehenden Depression eingesetzt werden, verringern aber in der Akutbehandlung nicht das Risiko für Suizidversuche oder Suizide, wie sechs sehr große und in renommierten Fachzeitschriften publizierte Metaanalysen übereinstimmend zeigten [2, 5, 7–9, 11]. Dies bedeutet für den klinischen Alltag, dass zusätzliche Maßnahmen bei Suizidalität zwingend erforderlich sind. Dies sind zuallererst die enge, vertrauensvolle therapeutische Beziehung, das engmaschige Einbestellen des Patienten zu konkreten Terminen oder aber die Einweisung in stationäre Behandlung und im Bereich der Pharmakotherapie gegebenenfalls die vorübergehende zusätzliche Verordnung von Benzodiazepinen. In der längerfristigen Behandlung reduzieren Lithiumsalze das Suizidrisiko [z. B. 6].

Gewarnt werden muss vor dem Absetzen von gut wirksamen und verträglichen Antidepressiva aufgrund der neuen Publikationen. Insbesondere, wenn mit Antidepressiva eine erfolgreiche Rezidivprophylaxe bei wiederkehrenden Depressionen betrieben wird, ist mit einem erneuten Krankheitsausbruch bei nicht indiziertem Absetzen von Antidepressiva zu rechnen. Die rezidivverhütende Wirksamkeit von Antidepressiva ist gut belegt [3].

Literatur

1. Bschor T, Baethge C. Wechsel des Antidepressivums. In: Bschor T (Hrsg.). Behandlungsmanual therapieresistente Depression. Pharmakotherapie – somatische Therapieverfahren – Psychotherapie. Stuttgart: Kohlhammer, 2008.

2. Fergusson D, Doucette S, Glass KC, Shapiro S, et al. Association between suicide attempts and selective serotonin reuptake inhibitors: systematic review of randomised controlled trials. BMJ 2005;330:396–402.

3. Geddes JR, Carney SM, Davies C, Furukawa TA, et al. Relapse prevention with antidepressant drug treatment in depressive disorders: a systematic review. Lancet 2003;361:653–61.

4. Grobe TG, Bramesfeld A, Schwartz FW. Versorgungsgeschehen. In: Stoppe G, Bramesfeld A, Schwartz FW (Hrsg.). Volkskrankheit Depression? Berlin, Heidelberg: Springer, 2006:39–98.

5. Gunnell D, Saperia J, Ashby D. Selective serotonin reuptake inhibitors (SSRIs) and suicide in adults: meta-analysis of drug company data from placebo controlled, randomised controlled trials submitted to the MHRA’s safety review. BMJ 2005;330:385–9.

6. Guzzetta F, Tondo L, Centorrino F, Baldessarini RJ. Lithium treatment reduces suicide risk in recurrent major depressive disorder. J Clin Psychiatry 2007;68:380–3.

7. Hammad TA, Laughren TP, Racoosin JA. Suicide rates in short-term randomized controlled trials of newer antidepressants. J Clin Psychopharmacol 2006;26:203–7.

8. Khan A, Khan S, Kolts R, Brown WA. Suicide rates in clinical trials of SSRIs, other antidepressants, and placebo: analysis of FDA reports. Am J Psychiatry 2003;160:790–2.

9. Khan A, Khan SR, Leventhal RM, Brown WA. Symptom reduction and suicide risk in patients treated with placebo in antidepressant clinical trials: a replication analysis of the Food and Drug Administration Database. Int J Neuropsychopharmacol 2001;4:113–8.

10. Khan A, Leventhal RM, Khan SR, Brown WA. Severity of depression and response to antidepressants and placebo: an analysis of the Food and Drug Administration database. J Clin Psychopharmacol 2002;22:40–5.

11. Khan A, Warner HA, Brown WA. Symptom reduction and suicide risk in patients treated with placebo in antidepressant clinical trials: an analysis of the Food and Drug Administration database. Arch Gen Psychiatry 2000;57:311–7.

12. Kirsch I, Deacon BJ, Huedo-Medina TB, Scoboria A, et al. Initial severity and antidepressant benefits: a meta-analysis of data submitted to the Food and Drug Administration. PLoS Med 2008;5:e45.

13. Kirsch I, Sapirstein G. Listening to prozac but hearing placebo: a meta-analysis of antidepressant medication. Prev Treat 1998;1:Article 0002a.

14. Paykel ES, Freeling P, Hollyman JA. Are tricyclic antidepressants useful for mild depression? A placebo controlled trial. Pharmacopsychiatry 1988;21:15–8.

15. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungsreport 2007. Heidelberg: Springer, 2008.

16. Stolk P, ten Berg MJ, Hemels MEH, Einarson TR. Meta-analysis of placebo rates in major depressive disorder trials. Ann Pharmacother 2003;37:1891–9.

17. Turner EH, Matthews AM, Linardatos E, Tell RA, et al. Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. N Engl J Med 2008;358:252–60.

18. Walsh BT, Seidman SN, Sysko R, Gould M. Placebo response in studies of major depression: variable, substantial, and growing. JAMA 2002;287:1840–7.

AG Arzneimitteltherapie in der Psychiatrie der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), Herbert-Lewin-Platz 1, 10623 Berlin, E-Mail: info@akdae.de

Psychopharmakotherapie 2008; 15(04)