Die Problematik der „Me-too“-Definition im Kontext der Psychopharmakologie


Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Möller, München

Die Tatsache, dass die Me-too-Quote in der Verschreibungspraxis der Psychiater besonders hoch liegt (13,8%; Quelle: GAmSi), hängt möglicherweise damit zusammen, dass wegen besonderer fachspezifischer Gegebenheiten unverhältnismäßig viele neue Psychopharmaka als „Analogpräparate ohne relevanten Zusatznutzen“ klassifiziert worden sind. Neben fachspezifischen Besonderheiten hängt dies obendrein mit der problematischen Definition des Innovationsgrades von Arzneimitteln, somit auch den Definitionskriterien von Analogpräparaten, wie sie in Deutschland traditionell gebraucht werden, zusammen. Diese Definitionskriterien sind möglicherweise im Hinblick auf Psychopharmaka besonders nachteilig.

In Deutschland wird in diesem Kontext seit 1982 der von den beiden Kölner Pharmakologen Fricke und Klaus geprägte Begriff „Analogpräparat“ (Synonyme: Me-too-Präparat – Scheininnovation) verwendet. Analogpräparate enthalten neue Wirkstoffmoleküle mit analogen pharmakologischen und klinischen Wirkungen wie bereits bekannte Arzneimittel. Eine eventuell vorhandene chemische Innovation geht bei Analogpräparaten einher mit pharmakologisch ähnlichen oder gleichartigen Wirkungen wie die vergleichbaren Wirkstoffe ohne indikationsspezifische therapeutische Vorteile [1]. Das von Fricke und Klaus 1982 erstellte Klassifikationsschema gilt auch heute noch als das in Deutschland im Rahmen der GKV akzeptierte Verfahren zur Bewertung des Innovationsgrades von Arzneimitteln [1].

Wenn man anerkennen will, dass dieses Klassifikationsschema prinzipiell in die richtige Richtung geht, so stellen sich doch eine Reihe von Fragen, die die zu einseitige und zu absolute Verwendung dieses Klassifikationsschemas als höchst fragwürdig erscheinen lassen und obendrein die Validität und Reliabilität in Frage stellen, zum Beispiel:

Was bedeutet innovative Struktur oder neuartiges Wirkungsprinzip mit therapeutischer Relevanz? Ab wann ist eine Struktur „innovativ“? Ab wann ist etwas von therapeutischer Relevanz?

Was bedeutet Verbesserung pharmakodynamischer oder pharmakokinetischer Eigenschaften bereits bekannter Wirkungsprinzipien? Ab wann liegt eine Verbesserung vor?

Wie lässt sich der klinische Zusatznutzen qualitativ und quantitiv bewerten? Was ist zum Beispiel ein nicht nur „marginaler“ Zusatznutzen?

Können Pharmakologen ohne klinische und ohne fachspezifische klinische Erfahrung den klinischen Zusatznutzen bewerten?

Darf dies in einseitiger Weise durch Pharmakologen oder andere Experten erfolgen, die den diesbezüglich relevanten Interessengruppen (z.B. Krankenkassen, kassenärztlichen Vereinigungen) besonders nahe stehen?

Wie kann man komplexe Gegebenheiten wie zum Beispiel Vorliegen von Vorteilen und Nachteilen im Sinne des klinischen Zusatznutzens gesamthaft bewerten?

Kann es sinnvoll sein, wie derzeit im GAmSi-Verfahren praktiziert, Jahre und Jahrzehnte zurückliegende Bewertungen auf der Basis der Zulassungsstudien zu übernehmen und alle später durchgeführten Studien zu ignorieren?

U.s.w.

Das Klassifizierungschema gibt keine Definitions- und Verfahrensregeln zu den hier beispielhaft skizzierten Fragen.

Die Fragen machen deutlich, dass die Bewertungen in grobem Ausmaß von subjektiven Ermessensspielräumen abhängen und dass zu erwarten ist, dass die Beurteilungszuverlässigkeit insbesondere im Sinne der Interraterreliabilität erheblich eingeschränkt ist. Das gilt ganz besonders, wenn die Bewertungen nicht von Mitarbeitern einer einzelnen Gruppe, sondern von Repräsentanten des gesamten Fachgebiets gemacht werden. Dabei dürften insbesondere, wenn es sich nicht nur um die Bewertung des pharmakologischen Wirkungsmechanismus und der chemischen Struktur, sondern der klinischen Effekte handelt, die Bewertung nicht nur von Pharmakologen durchgeführt werden, sondern es müssten klinisch erfahrene Kollegen einbezogen werden, um die Relevanz bestimmter Wirksamkeitsaspekte und Nebenwirkungsaspekte auf Grund ihrer klinischen Erfahrung zu bewerten. Dies ist aber beim derzeitigen Vorgehen nicht der Fall.

Hinzu kommt insbesondere bei den Antipsychotika ein therapeutisch-pharmakologisches Problem. Eine ausreichend befriedigende Antwort auf die Frage, ob ein neuer pharmakologischer Wirkungsmechanismus innovativ ist, ist nur möglich, wenn man die kausalrelevanten pharmakologischen Wirkungsfaktoren kennt. In Bezug auf die Neuroleptika/Antipsychotika ergeben sich unter anderem folgende Fragen: Sind zusätzliche pharmakologische Mechanismen zum primären hypothetischen Wirkungsmechanismus (Dopamin-D2-Rezeptorblockade wird als primärer antipsychotischer Wirkungsmechanismus unterstellt) nur nebenwirkungsrelevant oder tragen sie zum klinischen Wirkungsprofil (z.B. sedierend) oder gar zur Hauptwirkung bei (z.B. Bedeutung von 5-HT2A-Antagonismus, 5-HT1A-Antagonismus/Agonismus bei Neuroleptika der 2. Generation)?

Es verwundert nach dieser kritischen Diskussion des in Deutschland verwendeten Klassifikationsschemas für innovative oder nicht innovative Arzneimittel und der diesbezüglichen Erörterung über die Antipsychotika nicht, dass zum Beispiel Me-too-Listen, wie sie von der KV Nordrhein in den letzten Jahren publiziert wurden, in der Bewertung neuerer Neuroleptika uneinheitlich sind.

Wenn man den Innovationsgrad eines neuen Präparats beurteilen soll, muss man diese Gesamtproblematik erkennen. Die verwendete Klassifikation des Innovationsgrads ist nicht objektiv, valide und reliabel, sondern es handelt sich größtenteils um arbiträre und subjektive Beurteilungen.

Literatur

1. Schwabe U, Paffrath D. Arzneiverordnungs-Report 2006. Berlin Heidelberg New York: Springer-Verlag, 2007.

Psychopharmakotherapie 2007; 14(06)