Klinische Studien und Arzneimittelzulassungen für Psychopharmaka aus Sicht der pharmazeutischen Medizin


Jörg Czekalla, Neuss

Die klinischen Prüfszenarien für die Arzneimittelzulassung von Psychopharmaka werden skizziert. Ein wesentliches Merkmal der Entwicklung in diesem Bereich ist der Übergang von nationalen zu zentralen Zulassungen für neue Psychopharmaka in psychiatrischen Indikationen (z.B. Major Depression). Die Evaluierung erfolgt inzwischen überwiegend zentralisiert durch die kontinentalen Behörden EMEA (European Agency for the Evaluation of Medicinal Products) und FDA (Food and Drug Administration, Nordamerika). Klinische Entwicklungsprogramme der pharmazeutischen Industrie folgen im Prinzip den durch das CHMP (Committee for Human Medicinal Products) erlassenen Richtlinien, die sich auf nosologische Entitäten, angelehnt an DSM-IV-Kriterien, eingrenzen. Die Prüfung der Wirkung gegenüber Plazebo und Sicherheit in möglichst kurzen Studien steht im Vordergrund. Dagegen ist die klinische Praxis der Psychopharmakotherapie auch von syndromal-symptomatischen Indikationsstellungen und Überlegungen zur langfristigen Effektivität geprägt. Weitere wichtige Faktoren (z.B. Arbeits- und Fahrtauglichkeit, rehabilitative Ziele) werden in der Regel nicht im Rahmen von Zulassungsstudien geprüft und bewertet. Daher besteht vor dem Hintergrund der Off-Label-Problematik und der neuen Kosten-Nutzen-Beurteilungen (GBA, IQWiG) auch ein Bedarf an erweiterten Endpunkten vor und nach der Zulassung (Phase-IV-Forschung).
Schlüsselwörter: Klinische Studien, Zulassungsverfahren, Psychopharmakotherapie, Evidenz, Phase-IV-Forschung, Kosten-Nutzen-Analysen, Endpunkte
Psychopharmakotherapie 2007;14:198–202.

Im Folgenden soll zunächst eine Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Verfahren zur Arzneimittelprüfung und -zulassung mit Schwerpunkt Psychopharmakotherapie gegeben werden. Die Zulassung neuerer Psychopharmaka anhand definierter nosologischer Krankheitsentitäten (z.B. Schizophrenie, Major Depression) der psychiatrischen Klassifikationssysteme (ICD, DSM) wird der therapeutischen Realität in der klinischen Psychiatrie gegenübergestellt, die häufiger an symptomatischen und syndromalen Zustandsbildern orientiert ist. In diesem Zusammenhang werden das Phänomen des Off-Label-Gebrauchs und der Stellenwert von Erkenntnissen (Evidenz) über den Nutzen eines Arzneimittels, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Psychopharmakotherapie, thematisiert. Der vorliegende Artikel soll somit zum Verständnis der pharmazeutischen Grundlagen, die die Psychopharmakotherapie beeinflussen, beitragen und dem in der Psychopharmakotherapie tätigen Arzt die Beurteilung der regulatorischen Grundlagen für seine individuelle therapeutische Entscheidung erleichtern.

Arzneimittelprüfung und -zulassung

Die von pharmazeutischen Herstellern zum Zwecke der Zulassung eines Arzneimittels durchgeführten präklinischen und klinischen Prüfungen folgen den Richtlinien, die durch die nationalen (für Deutschland: BfArM = Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) und internationalen Zulassungsbehörden (Europa: EMEA = European Agency for the Evaluation of Medicinal Products; Nordamerika: FDA = Food and Drug Administration) vorgegeben sind. Die noch für ältere Psychopharmaka (z.B. trizyklische Antidepressiva, typische Neuroleptika) auf nationaler Ebene durchgeführten Zulassungsverfahren haben zum Teil noch zu der Beschreibung breiterer und syndromaler Anwendungsgebiete geführt. Clomipramin beispielsweise ist laut Fachinformation zugelassen für depressive Syndrome unabhängig von ihrer nosologischen Zuordnung sowie Zwangsstörungen, Phobien und Schlafstörungen. Diese in nationaler Verantwortung durchgeführten Zulassungsverfahren wurden inzwischen, insbesondere seit der Einführung eines gegenseitigen europäischen Anerkennungsverfahrens („Mutual Recognition [MR]“-Verfahren) im Jahr 1995, durch europäische Zulassungsverfahren abgelöst.

Der europäische Ausschuss für Humanarzneimittel (Committee for Medicinal Products for Human Use, CHMP; bis 2004 CPMP, Committee for Proprietary Medicinal Products), in dem Mitglieder aller EU-Staaten (für Deutschland aus dem BfArM) vertreten sind, hat für einige psychiatrisch-neurologische Krankheitsentitäten zunächst Richtlinien („Note for guidance on clinical investigation of medicinal products in the treatment of …“) für den Wirksamkeitsnachweis von Psychopharmaka erlassen, beispielsweise für Major Depression, Schizophrenie, generalisierte Angststörung, Panikstörung und Zwangserkrankung. Richtlinien für andere Erkrankungen (z.B. posttraumatische Belastungsstörung) sind zum Teil noch in der Diskussion und Entwicklung („Concept paper“) oder inzwischen ratifiziert worden. Spezielle Richtlinien oder Empfehlungen für den Einsatz von Psychopharmaka in der Langzeittherapie (z.B. Rehabilitation) sind bislang nicht initiiert.

Phasen der Arzneimittelprüfung

Im Folgenden werden kurz die Phasen der präklinischen und klinischen Prüfung und Zulassung allgemein, wie sie auch prinzipiell für Psychopharmaka gelten, skizziert. Pharmazeutische Arzneimittelprüfungen sind zwar qualitativ hochstandardisiert, die im Folgenden beschriebenen Phasen erfordern jedoch einen erheblichen finanziellen (im Bereich von 300 bis 700 Mio. Euro) und zeitlichen (5 bis 10 Jahre) Aufwand. Diese Entwicklungszeit reduziert die Patent-Laufzeit, die meist im Anschluss an die biologisch-chemische Forschungsphase beginnt. Deshalb wird zunehmend versucht, die finanziell aufwendigsten klinischen Entwicklungsphasen (II, III) zu straffen („Faster time to market“-Prinzip). Die klinische Untersuchung in der Breite, also auch über die Akutphase hinaus in der Langzeittherapie und in erweiterten Indikationen (z.B. Subpopulationen, subsyndromale Zustandsbilder) projiziert sich hiermit weitgehend auf die Nach-Zulassungsphase (Phase IV).

Biologisch-chemische und präklinische Forschungsphase

Nach der biologisch-chemischen Optimierung des Wirkstoffkandidaten (New chemical entity, NCE) wird in der präklinischen Phase geprüft, ob er sich prinzipiell für den Einsatz am Menschen eignet. Dazu gehören pharmakodynamische, pharmakokinetische und toxikologische Untersuchungen. Anhand der präklinischen Forschungsergebnisse wird dann die eventuelle Wirkung beim Menschen und das Risiko für die Erstanwendung beim Menschen eingeschätzt.

Klinische Prüfungsphasen

Erweist sich der gefundene Wirkstoff als Erfolg versprechend und erfüllt außerdem die strengen behördlichen Auflagen gemäß den präklinischen Tests, wird er meist in drei klinischen Phasen direkt am Menschen getestet.

Phase I: Verträglichkeit an gesunden Testpersonen: Pharmakokinetik- und -dy- namikstudien sowie Dosiseskalationsstudien gehen der Prüfung am Patienten (Phase II) voran.

Phase II: Ermittlung der optimalen Dosis: In Phase II erhalten einige hundert Patienten das neue Arzneimittel, um den therapeutischen Effekt zu überprüfen („proof of concept“). Ausgewählt werden sollen hier Patienten in spezialisierten Kliniken, die über Studienerfahrung und die entsprechenden Untersuchungsmethoden verfügen (z.B. Neuroimaging-Verfahren, spezielle Ratings).

Phase III: Nachweis der Wirksamkeit in der breiten klinischen Erprobung. Hier werden schließlich mehrere tausend Patienten behandelt, um die Wirksamkeit und Verträglichkeit auch bei längerer Anwendung des Präparats abzuklären. Dabei können aufgrund der höheren Patientenzahl auch Hinweise auf seltener auftretende Nebenwirkungen generiert werden.

Administrative Zulassung

Hat das Medikament alle Phasen durchlaufen, folgt das Zulassungsverfahren bei den Behörden (europäische Behörde: EMEA). Erst nach der Zulassung (durch die Europäische Kommission) kann der Wirkstoff auf den Markt gebracht werden. Ein neues Medikament kann erst zugelassen werden, wenn es in klinischen Prüfungen seine Qualität, Wirksamkeit und Verträglichkeit bewiesen hat. Dabei sind die Bedingungen einer klinischen Prüfung durch zahlreiche nationale und internationale Vorschriften geregelt. Nach Beendigung der Phase III werden die Prüfungsunterlagen dem BfArM beziehungsweise der EMEA vorgelegt. Grundlage für die Anforderungen an den Antrag auf Zulassung oder Registrierung und der erforderlichen Dokumentationen sind die §§22 bis 26 AMG (Arzneimittelgesetz). Dort werden Angaben über die Bestandteile des Arzneimittels nach Art und Menge, Darreichungsform, Wirkungen, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen mit anderen Mitteln und über die Dosierung gefordert. Außerdem werden dort Angaben über die Herstellung, Kontrollmethoden und Dauer der Haltbarkeit verlangt.

Zulassung und therapeutische Realität

Wie bereits anhand der klinischen Prüfungs- und Zulassungsverfahren erläutert, werden die Anwendungsgebiete durch die nationalen und europäischen Zulassungsbehörden inzwischen sehr viel enger gefasst als in der Vergangenheit. Der Wortlaut zu Indikationen oder Dosierungen bezieht sich nur noch explizit auf solche Patientengruppen und Krankheitsentitäten (z.B. Schizophrenie bei Antipsychotika), die in Phase-III-Studien untersucht wurden. Die Phase-III-Studien sind jedoch häufig durch zahlreiche Ein- und Ausschlusskriterien geprägt. Das Einsatzspektrum in der klinischen Realität geht aber oft weit darüber hinaus. Dies zeigen Studien nach der Zulassung (Phase IV), wobei auch maßgeblich Anwendungsbeobachtungen über die tatsächliche therapeutische Verwendung Aufschluss geben können [8], wenn diese wissenschaftlich orientiert durchgeführt werden. Der so genannte „Off-Label“-Gebrauch ist daher in der gesamten Psychopharmakotherapie eher die Regel als die Ausnahme [5]. Rund 50% der Psychopharmaka werden außerhalb zugelassener Indikationen verordnet. In einer älteren (1996) Analyse von 8,8 Mio. Verordnungen (IMS) von Neuroleptika galten nur 38% dem Spektrum der Schizophrenien, 62% also anderen Indikationen. Obwohl neuere publizierte Daten hierzu fehlen, kann davon ausgegangen werden, dass ein Großteil der Verordnungen von Psychopharmaka außerhalb der Zulassung erfolgt.

Bestandteile der Zulassung sind bekanntlich Anwendungsgebiet, Darreichungsform, Dosierung und Anwendergruppe. Die FDA beschreibt den Off-Label-Use 1997 wie folgt: “Use for indication, dosage form, dose regimen, population or other use parameter not mentioned in the approved labelling.” Demnach ist die Anwendung außerhalb der Zulassung nicht auf das Anwendungsgebiet (Indikation) beschränkt, sondern umfasst somit die durch die Zulassung definierten Parameter. Der zeitliche und finanzielle Aufwand des pharmazeutischen Herstellers für die klinische Entwicklung von Indikationserweiterungen bereits zugelassener Präparate unterscheidet sich nicht wesentlich von demjenigen einer Erstzulassung. Die für ein Präparat zugelassenen Indikationen sind also einerseits durch kontrollierte, qualitativ hochwertige Studienprogramme verifiziert, der mögliche Nutzen in anderen Anwendungsgebieten ist damit aber keinesfalls auszuschließen.

Für den Bereich der Psychopharmakotherapie kann im Wesentlichen davon ausgegangen werden, dass es sich bei den meisten Diagnosen um schwerwiegende, zum Teil ernsthaft bedrohende (Suizidalität), aber zumindest die Lebensqualität deutlich einschränkende Erkrankungen handelt (z.B. Demenzen).

Das Fehlen einer (zugelassenen) therapeutischen Alternative kann beispielsweise vor dem Hintergrund eines fehlgeschlagenen vorangegangenen Behandlungsversuchs vorliegen. Dies kann bei Unverträglichkeit oder Unwirksamkeit mit einem zugelassenen Medikament bei der Behandlung der jeweiligen Erkrankungen der Fall sein. Für manche Erkrankungen, beispielsweise die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter oder die schweren Persönlichkeitsstörungen (z.B. Borderline-Persönlichkeitsstörung) ist bislang kein Medikament explizit zugelassen.

Zur Behandlung der Zwangsstörung, der Panikstörung oder anderer Indikationen kann aus einer Medikamentenklasse, hier beispielsweise den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI), dasjenige Präparat ausgewählt werden, für das eine spezifische Zulassung besteht. Falls keine zugelassenen therapeutischen Alternativen innerhalb einer Substanzklasse zur Verfügung stehen, stellt sich die Frage nach hochwertigen klinischen Studien und Konsensus-Empfehlungen entsprechender Fachkreise. Für den Einsatz von Psychopharmaka ist die Situation auch hier verbesserungswürdig, da Leitlinien, wenngleich von Fachgesellschaften aufgrund der Evidenzlage erstellt, von Kosten- und Entscheidungsträgern nicht immer ausreichend berücksichtigt werden.

Tabelle 1 soll für einige zentrale Substanzklassen der Psychopharmaka einen ersten Überblick über zugelassene Indikationen, Off-Label-Bereiche, Zulassungserweiterungen und Hinweise auf klinische Studien und/oder Empfehlungen von Fachkreisen (z.B. Fachgesellschaften) geben. Die in der Tabelle aufgeführten Anwendungsgebiete sind aus formalen und rechtlichen Gründen ausdrücklich nicht als therapeutische Empfehlung zu verstehen und erheben vor dem Hintergrund ständig neuer Einführungen und Zulassungen von Psychopharmaka keinen Anspruch auf Aktualität und Wiedergabe der umfassenden Zulassungstexte, die im Einzellfall den Produkt- und Fachinformationen zu entnehmen sind.

Tab. 1. Substanzklassen, zugelassene Indikationen, Evidenzen

Substanzklasse

Indikationsbereiche
mit Zulassungen (praktisch alle Präparate*)

Partiell In-Label
(Zulassungserweiterungen einzelner Substanzen)

Überwiegend Off-Label (Substanzklasse)

Evidenzen (I–V, s. Tab. 2) zu Off-Label-Bereichen

„Antidepressiva“

Depressive Erkrankungen und Syndrome; Zwangsstörungen; Phobien; Angst-/
Panikstörungen

Bulimie (i. R. eines psychotherapeutischen Konzepts); langfristige (chronische) Schmerzbehandlung; Schlafstörungen; Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit

Borderline-Persönlichkeitsstörungen; ADHS des Erwachsenenalters; soziale Phobie; posttraumatische Belastungsstörung

Vereinzelt kontrollierte randomisierte Studien (Ib, z.B. bei Borderline), zum Teil offene Studien (II, III, z.B. bei ADHS)

„Antipsychotika“

Schizophrenie(n); schizophrene Psychosen; Manie

Phasenprophylaxe bipolarer Störungen; Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe schizophrener Psychosen; Verhaltensstörungen
bei Demenz

Therapieresistente/wahnhafte Depression; Psychose bei M. Parkinson; Zwangsstörung; Borderline-Persönlichkeitsstörung; Phasenprophylaxe bipolarer Störungen

Mehrere kontrollierte (Ib) und offene (II–IV) Studien, Fallberichte

„Traditionelle Stimmungsstabilisierer (Lithiumsalze, einige Antiepileptika)“

Epilepsien

Prophylaxe manisch-depressiver (bipolarer) Phasen; neuropathische Schmerzen; therapieresistente Depressionen; akute Manien

Bipolare Störungen (akute Manie
und Phasenprophylaxe); Borderline- Persönlichkeitsstörungen; Alkoholentzugssyndrom; Panikstörung

Mehrere kontrollierte (Ib, IIb) Studien und Leitlinien von Fachgesellschaften (APA, DGBS)

„Suchttherapeutika“

Alkoholabhängigkeit; Nicotinentwöhnung; Opiatentwöhnung

Therapieresistente/bipolare Depression; ADHS d. Erwachsenenalters; Borderline-Persönlichkeitsstörungen

Mehrere kontrollierte (Ib) und einzelne offene (IIb) Studien

„Hypnotika, Tranquilizer“

Ein- und Durchschlafstörungen

Breite Anwendung bei sämtlichen psychiatrischen Symptomen und Syndromen/Krankheitsbildern (z.B. Angststörungen, affektive Störungen, Psychosen)

Überwiegend offene Studien

*Zu beachten ist, dass die Indikationsansprüche für einen Wirkstoff sehr unterschiedlich sein können in Abhängigkeit vom pharmazeutischen Hersteller (Warenzeichen)

Die Bezeichnung der Substanzklassen selbst („Antidepressivum“) sind per se keine pharmakologisch begründete Einschränkung der Anwendung. So ist es beispielsweise klinischer Usus, dass „Antipsychotika“, obwohl nominell keine „Antidepressiva“, einen Stellenwert in der Therapie von affektiven Störungen verschiedener Nosologie haben können, beispielsweise bei bipolaren Verläufen im Sinne einer Stimmungsstabilisierung.

Obwohl der Einsatzbereich der als Psychopharmaka entwickelten Substanzen zum Teil auch über psychiatrische Indikationen hinausgeht – als Beispiele seien hier antiemetische Effekte von Neuroleptika oder der Stellenwert von Antidepressiva im Bereich der Therapie chronischer Schmerzzustände genannt –, sind zugelassene Indikationen hierfür kaum zu finden. Die hier als Tranquilizer/Hypnotika genannte Substanzgruppe wird trotz des bekannten Abhängigkeitspotenzials weit über die Grenzen der eigentlichen Zulassung (Ein- und Durchschlafstörungen) verordnet, wird aber wahrscheinlich aufgrund des begrenzten Kostenrahmens deutlich weniger als Off-Label-Use von Kostenträgern angemahnt. Die Wirkung und Verträglichkeit ist bei einigen symptomatischen Indikationen allerdings sehr spezifisch und zumeist sehr tolerabel (z.B. Lorazepam bei Angstzuständen). Eine Rolle bei der teils sehr unkritischen Anwendung spielt möglicherweise auch die Tatsache, dass im Vergleich zu patentgeschützten Originalpräparaten aus dem Bereich der anderen Substanzklassen hier sehr kostengünstige Präparate auf dem Markt sind.

Evidenz aus Nicht-Zulassungsstudien

Evidenz-basierte Medizin ist nicht auf kontrollierte Zulassungsstudien und Metaanalysen begrenzt. Sie beinhaltet die Suche nach der jeweils besten wissenschaftlichen Evidenz zur Beantwortung der klinischen Fragestellung: Um etwas über die Genauigkeit eines diagnostischen Verfahrens zu erfahren, benötigt man beispielsweise gut durchgeführte Querschnittsstudien von Patienten, bei denen die gesuchte Diagnoseentität klinisch vermutet wird – keine kontrollierte Studie. Für eine prognostische Fragestellung, insbesondere für die Langzeittherapie, werden methodisch angepasste Follow-up-Studien von Patienten benötigt, die in einem einheitlichen, frühen Stadium ihrer Krankheit in die Studie aufgenommen wurden.

Obwohl doppelblinde randomisierte, kontrollierte klinische Prüfungen als „Goldstandard“ für die Verifizierung des Nutzen-Risiko-Profils einer Therapie (siehe Zulassungsverfahren) dienen, sind für manche Fragestellungen diese Studien keinesfalls optimal. Zudem muss, wenn keine kontrollierte Studie für die individuelle Behandlungsentscheidung durchgeführt wurde, die nächstbeste externe Evidenz gefunden und berücksichtigt werden werden. Hier kann es sich vor allem um naturalistische Studien (auch Anwendungsbeobachtungen) handeln (Tab. 2).

Tab. 2. Evidenzklassen (FDA 5/98: Guidance for Industry, WHO and AHCPR 1994)

I a

Evidenz aufgrund von Metaanalysen randomisierter kontrollierter Studien in systematischen Übersichtsarbeiten

I b

Evidenz aufgrund von mindestens einer randomisierten, kontrollierten Studie

II a

Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, kontrollierten Studie ohne Randomisierung

II b

Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, quasi-experimentellen Studie

III

Evidenz aufgrund gut angelegter, nichtexperimenteller, deskriptiver Studien (z.B. Fall-Kontroll-Studien)

IV

Evidenz aufgrund von Berichten/Meinungen von Expertenkreisen, Konsensuskonferenzen und/oder klinischer Erfahrung anerkannter Autoritäten ohne transparenten Beleg

V

Fallbericht

Endpunkte in Zulassungsstudien und naturalistischen Studien

Endpunkte in klinischen Prüfungen mit dem Ziel der Zulassung zielen primär auf den Wirkungsnachweis im Vergleich mit einem Plazebo-Arm. Diese Endpunkte werden von den Zulassungsbehörden wie der EMEA anhand der „Note for guidance“ vorgegeben. Im Rahmen eines „Scientific advice“ besteht bei der nordamerikanischen FDA die Möglichkeit, mit dem pharmazeutischen Sponsor Endpunkte zu diskutieren. Eine prinzipielle Abstimmung zwischen den kontinentalen Zulassungsbehörden (EMEA, FDA) ist nicht gegeben. Für die Zulassung werden in der Regel primär Akutstudien gefordert, die im Sinne des syndromalen Wirkungsnachweises auf traditionelle Skalen-abgeleitete Endpunkte fokussieren, beispielsweise auf kurzfristige Verbesserungen bei Summenscores psychiatrischer Skalen wie der PANSS-Skala (Positive and negative syndrome scale) bei Psychosen. In Langzeitstudien und in Studien zur Erfassung des klinischen Nutzens (sog. „effectiveness studies“) werden naturalistische Endpunkte, die das „real life“-Szenario der klinischen Versorgung abbilden, nach der Zulassung immer häufiger gefordert. Als globalere Effektivitätsparameter werden unter anderem der klinische Therapieabbruch und die subjektive Lebensqualität von Patienten diskutiert. Das National Institute for Clinical Excellence (NICE) in London, UK, kam in einer aktuellen Analyse der Evidenz bisheriger klinischer Studien (überwiegend Zulassungsstudien) zu der Schlussfolgerung, dass die untersuchten Endpunkte zu sehr symptom- oder arztorientiert waren. Funktionelle Auswirkungen wie das soziale Funktionsniveau oder die Arbeitsfähigkeit wurden selten untersucht. In einem unlängst durchgeführten Zulassungsverfahren für das neue Antipsychotikum Paliperidon ER wurde erstmals eine Skala zur Beurteilung des sozialen Funktionsniveaus der Patienten, die Personal and Social Performance Scale (PSP), als patientenrelevanter Endpunkt in den für die Zulassung relevanten Studienprogrammen von der FDA und EMEA akzeptiert.

Zusammenfassung

Psychopharmaka werden nur für die wenigsten möglichen Anwendungen der Psychopharmakotherapie im Rahmen von Zulassungsverfahren klinisch geprüft. Die international harmonisierten Zulassungsverfahren orientieren sich primär an übergeordneten nosologischen Krankheitsbildern (z.B. Major Depression, Schizophrenie). Aspekte der Langzeittherapie sowie vieler syndromaler Krankheitsbilder des psychiatrisch-psychosomatischen Spektrums können im Rahmen der kontrollierten und aufwendigen Arzneimittelprüfungen nicht ausreichend einbezogen werden. Demgegenüber ist in der Psychopharmakotherapie und insbesondere Langzeittherapie ein Einsatz von Psychopharmaka über die formellen Grenzen der Zulassung hinaus (Off-Label) häufig. Alle klinisch relevanten Indikationen im Rahmen einer kontrollierten Arzneimittelprüfung im Hinblick auf das Nutzen-Risiko-Profil behördlich zu regeln, ist schon aus Gründen der operativen und finanziellen Durchführbarkeit auch durch erweiterte Zulassungsrichtlinien nicht praktikabel. Daher müssen für die Beurteilung des klinischen Nutzens auch die besten verfügbaren Erkenntnisse außerhalb geregelter Zulassungsverfahren herangezogen werden. Neben der individuellen klinischen Erfahrung als integraler Bestandteil der medizinischen Evidenz kommen hier vor allem praxisnahe Therapiestudien in Frage, die sich speziell mit chronifizierten Verläufen und Langzeitergebnissen auseinandersetzen. Diese systematischen Erkenntnisse sind nicht nur aus doppelblind angelegten und zumeist kurzen Akutstudien zum Wirksamkeitsbeleg zu gewinnen, sondern können auch aus groß angelegten und longitudinalen naturalistischen Verlaufsstudien (Phase-IV-Studien) gewonnen werden. Auch die Einteilung der Evidenz-basierten Medizin sollte insofern nicht als hierarisch (Metaanalysen kontrollierter Studien als höchste Evidenzklassse) verstanden werden. Die pharmazeutische Medizin kann hierzu unter anderem einen Beitrag leisten, indem auch wissenschaftlich-fundierte Phase-IV-Studien für offene Fragestellungen der Psychopharmakotherapie in Zusammenarbeit mit Experten der Psychopharmakotherapie und klinischen Psychiatrie genutzt werden. In diesen Studien sollten sich sinnvolle Endpunkte mit einem hierzu passenden Studiendesign kombinieren.

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Dr. med. Jörg Czekalla, M.D., E.C.P.M., Psychiater/FMH Pharmazeutische Medizin (FMH), Executive Director Therapeutic Area CNS, Medical & Scientific Affairs, Janssen-Cilag GmbH, Raiffeisenstraße 8, 41470 Neuss, E-Mail: jczekall@jacde.jnj.com

Internetadressen der Zulassungsbehörden

www.bfarm.de Bundesinstitut für Arzneimittel- und Medizinprodukte

www.emea.europa.eu European Agency for the Evaluation of Medicinal Products

www.fda.gov Food and Drug Administration: USA, Nordamerika

Clinical studies and registration procedures for psychiatric drugs – a pharmaceutical medicine perspective

The article intends to broach the issue of clinical development and formal registration for psychiatric drugs which are also used in general medicine. Due to the historical shift from national to European registration procedures in the EU, new compounds for major psychiatric disorders (e.g., Major Depression) are centrally evaluated by the EMEA (European Agency for the Evaluation of Medicinal Products; North America: FDA). Clinical development programs by the pharmaceutical industry follow the CHMP (Committee for Medicinal Products for Human Use) guidelines (Note for guidance on clinical investigation of medicinal products), and refer mainly to syndromal diagnostic criteria of major psychiatric disorders due to ICD and DSM. Furthermore, they refer more or less to the proof of efficacy and safety in acute disease states. Instead, psychopharmacotherapy in the field of psychiatry and related areas is frequently driven by different and more symptomatic indications. Furthermore the long-term outcomes and other specific aspects of pharmacotherapy (e.g., working and driving ability) are important for patients and physicians. Thus, there is need to consider those issues also with regard to off-label-use and the increasing request (by national agencies like NICE, IQWiG) for cost-effectiveness data from naturalistic studies (phase IV research).

Keywords: Clinical development, registration procedures, psychopharmacotherapy, evidence, phase IV research, naturalistic studies, cost-effectiveness, endpoints

Psychopharmakotherapie 2007; 14(05)