Behandlung der multiplen Sklerose


Etablierte Konzepte und neue Optionen

Ralf Linker und Ralf Gold, Bochum

Wir fassen im Folgenden die aktuell etablierten Therapiekonzepte sowie Fortschritte bei der Behandlung der multiplen Sklerose zusammen. Der Schwerpunkt liegt auf Erkenntnissen aus klinischen Studien, aber auch der Grundlagenforschung, die bereits in die tägliche Praxis der MS-Therapie Eingang gefunden haben. Studienergebnisse, aber auch experimentelle Ansätze haben bereits zu einer deutlichen Verbesserung der Immuntherapie im letzten Jahrzehnt geführt. Dies betrifft sowohl die Schubtherapie mit hoch dosierten Glucocorticoiden und der Eskalationsoption der Plasmapherese als auch die Basistherapie der immunmodulatorischen Sekundärprophylaxe mit Interferon-beta-Präparaten und Glatriameracetat. In der Therapieeskalation stehen neben Mitoxantron mit Natalizumab und Rituximab zwei neue und innovative Behandlungsalternativen zur Verfügung. Für die Zukunft sind weiterentwickelte Therapeutika sowie wahrscheinlich auch individualisierte Behandlungsansätze zu erwarten.
Schlüsselwörter: Immuntherapie, Plasmapherese, Natalizumab, Rituximab
Psychopharmakotherapie 2007;14:209–14.

Die multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch verlaufende Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), die vorwiegend junge Erwachsene betrifft und zumindest bei einem Teil der Patienten zu schwerwiegenden Behinderungen führen kann. Entsprechend den 2002 neu vorgestellten und 2005 revidierten Diagnosekriterien (sog. „McDonald-Kriterien“) kann unter Einbezug der kraniellen (cMRT) und spinalen Kernspintomographie die Diagnose nun schon nach einem Schub und kernspintomographischer Progression nach einem Monat gestellt werden [23]. Histopathologische Studien belegen, dass die MS eine heterogene Erkrankung ist. Insbesondere im Vordergrund stand hierbei in den letzten Jahren die Untersuchung der axonalen Schädigung, die das morphologische Substrat einer bleibenden Behinderung darstellt. Diesen neuen, histopathologisch differenzierten Konzepten stehen heute noch meist empirisch definierte Behandlungsstrategien gegenüber. Aus den histopathologischen Untersuchungen leitet sich das Konzept ab, durch frühzeitige und konsequente Immuntherapie neben dem akuten Schaden auch eine langfristige, durch die Immunantwort ausgelöste Gewebedestruktion zu verhindern. Ein solches Therapiekonzept erscheint insbesondere wichtig, da sichere prognostische Marker für so genannte benigne MS-Verläufe bisher fehlen und kognitive Einschränkungen in den gängigen Klassifizierungen der Behinderung (z.B. EDSS) häufig unberücksichtigt bleiben.

Vor allem bei schubförmig-rezidivierenden (RR-MS), aber auch bei sekundär chronisch-progredienten Verläufen der MS (SP-MS) wurde im letzten Jahrzehnt eine Vielzahl Evidenz-basierter Therapiestudien mit immunmodulatorischen und immunsuppressiven Substanzen durchgeführt. Auf dieser Grundlage entstand bereits 1999 ein erstes Konsensuspapier der deutschsprachigen MS-Therapeuten (MS-Therapie-Konsensusgruppe, MSTKG [25]), das bereits dreimalig aktualisiert wurde. Im Rahmen eines umfassenden Behandlungskonzepts sollte auch die kürzlich von einer Expertengruppe bewertete symptomatische MS-Therapie berücksichtigt werden [12].

Behandlung schubförmiger Verschlechterungen

Klagt ein Patient über akute, neu aufgetretene Beschwerden, sollte dies zunächst Anlass zu erneuter Anamnese und körperlicher Untersuchung sein. Nach Ausschluss physiologischer Schwankungen werden als Schub nur ohne assoziierte Infekte oder Fieber auftretende neurologische Ausfälle bezeichnet, die mindestens 24 Stunden lang anhalten. Vorübergehende Verschlechterungen durch Erhöhung der Körpertemperatur (sog. Uhthoff-Phänomen, z.B. bei Sauna, Sport, heißem Bad) oder wenige Minuten dauernde Paroxysmen zählen nicht als Schub.

Die hoch dosierte Schubtherapie mit Glucocorticoiden ist seit über 20 Jahren die etablierte Behandlung einer schubförmigen Verschlechterung bei MS. Hierfür liegen auch relativ gute Evidenz-basierte Untersuchungen der Klasse II vor [Übersicht in 10]. Auf empirischer Basis wird in den meisten Studien Methylprednisolon in einer Dosierung von 3-mal 1000 mg oder 5-mal 500 mg i.v. für die so genannte „Pulstherapie“ des MS-Schubs verwendet. Eine anschließende orale Glucocorticoid-Gabe über 14 Tage kann je nach Rückbildung der Symptome und individueller Verträglichkeit angeschlossen werden, ohne dass eine hierdurch verbesserte Wirksamkeit definitiv belegt wäre. Eine längerfristige, niedrig dosierte orale Glucocorticoid-Therapie ist nachgewiesenermaßen ohne Nutzen und aufgrund der massiven Nebenwirkungen als obsolet anzusehen.

Falls auch nach zweimaliger Pulstherapie schwere Ausfallssymptome wie ausgeprägte Gangataxie, Querschnittsmyelitis oder kompletter Visusverlust bestehen bleiben, besteht die Möglichkeit einer zeitnahen Therapieeskalation mittels Plasmapherese-Serie wobei zur Indikationsstellung die Rücksprache mit einem erfahrenen MS-Zentrum ratsam ist. Bei Verschlechterung bereits unter der ersten Glucocorticoid-Pulstherapie kann die Plasmapherese auch ohne Wiederholung der Glucocorticoid-Gabe erwogen werden. Routinemäßig sind zunächst insgesamt fünf Plasmapheresen sinnvoll, darüber hinaus lässt sich erfahrungsgemäß zumeist kein weiterer Erfolg erzielen. Der pathogenetische Hintergrund der Intervention beruht darauf, dass bei vielen Patienten humoral vermittelte Läsionen aus histopathologischen Studien gut belegt sind (Antikörper und Komplement-vermitteltes Schädigungsmuster vom Typ II in der Klassifizierung nach Lassmann, Brück und Lucchinetti). Die Sinnhaftigkeit des Therapieansatzes konnte in einer Analyse hirnbiopsierter, histologisch klassifizierter Patienten hinsichtlich des Ansprechens auf die Plasmapherese auch praktisch bestätigt werden: Es existiert eine eindeutige Korrelation der Wirksamkeit der Plasmapherese mit dem Vorliegen des histopathologischen Subtyps II [17]. Eine kontrollierte Cross-over-Studie mit Klasse-I-Evidenz zeigte eine über 40%ige Erfolgschance der Plasmapherese-Therapie, wobei ein früher Therapiebeginn innerhalb von vier bis sechs Wochen nach den ersten Symptomen des Krankheitsschubs für den Therapieerfolg wesentlich war [18]. In eigenen Untersuchungen bei Patienten mit schwerer Optikusneuritis [27] und in einer Folgearbeit unter Einschluss auch hochgradiger sensomotorischer Ausfälle inklusive Erstmanifestationen der Erkrankung sowie Verschlechterungen im Rahmen einer Neuromyelitis optica [28] führte die Plasmapherese sogar bei etwa 70% der betroffenen Patienten zu einer deutlichen Besserung. Hierbei korrelierte das Ansprechen auf die Plasmapherese ebenfalls mit einem zeitnahen Beginn vier bis sechs Wochen nach Auftreten des Schubs, wobei die Verbesserung meist nach der dritten Plasmapherese zu verzeichnen war. Auch bei überlagernden Schüben im Rahmen einer sekundär-chronisch progedienten MS kann eine Plasmapherese erfolgsversprechend sein. In der Langzeittherapie der MS spielt sie jedoch keine Rolle.

Immunmodulatorische Basistherapie der MS

Interferon-Präparate

Zur Anwendung der drei Interferon-beta (IFN-β)-Präparate (Avonex® 6 Mio. I.U. IFN-β1a i.m. einmal pro Woche – Biogen Idec; Rebif® 22 bzw. 44 µg IFN-β1a s.c. dreimal pro Woche – Merck Serono; Betaferon® 8 Mio. I.U. IFN-β1b jeden zweiten Tag – Bayer Schering Pharma) existieren mittlerweile langjährige Erfahrungen. Unter den pleiotropen Wirkungsmechanismen sind vor allem Effekte an der Blut-Hirn-Schranke und auf Matrix-Metalloproteinasen herauszuheben. Alle drei Präparate sind in der jeweiligen Dosierung und Applikationsform gemäß der Zulassung als wirksam bei RR-MS anzusehen und besitzen keinerlei ernsthafte Langzeit-Nebenwirkungen. Drei große Phase-III-Studien haben eine eindeutig Wirksamkeit der jeweiligen IFN-β-Präparate bei RR-MS gezeigt: es kommt zu einer Schubreduktion von etwa 30% und einer bis zu 80%igen Abnahme neuer Läsionen in der cMRT [s. Übersicht in 24, 25].

Umstritten sind nach wie vor Fragen zur individuell-optimalen Auswahl der drei zugelassenen IFN-β-Präparate. Hierbei spielen insbesondere Fragen zu Surrogatmarkern, zur Dosis-Wirkungs-Beziehung und auch zur Bedeutung neutralisierender Antikörper eine Rolle, die bisher letztgültig nicht geklärt sind. Entsprechend den Empfehlungen der MSTKG sollte die Behandlung zunächst mit einem IFN-β-Präparat erfolgen, das für eine Patientenpopulation mit vergleichbarem Behinderungsgrad untersucht wurde. Bei klinischen und kernspintomographischen Hinweisen für eine Teilwirksamkeit des IFN-β-Präparats kann sich eine Umstellung auf ein höher dosiertes IFN-β-Präparat oder die Dosiserhöhung im Rahmen der Zulassungskriterien als sinnvoll herausstellen. Die hierzu durchgeführten Vergleichsstudien EVIDENCE und INCOMIN [3] haben allerdings methodische Schwächen und sind im Alltag nur bedingt hilfreich. Aufgrund der Auswertung der Schubfrequenz in großen Therapiestudien rechnet man mit einem Zeitraum von sechs bis acht Wochen nach Therapiebeginn, bis ein therapeutischer Effekt erwartet werden kann.

Parallel zu den neuen Diagnosekritierien der MS zur Frühdiagnose unter Zuhilfenahme der Kernspintomographie wurde die Wirkung von IFN-β-Präparaten bei Therapiebeginn nach Auftreten eines ersten demyelinisierenden Ereignisses im ZNS untersucht, wie beispielsweise nach einer Retrobulbärneuritis (CHAMPS-Studie, [13]), oder im Rahmen der ETOMS [5] und BENEFIT-Studie [16]. Die Auswertung dieser Studien zeigt, dass die Frühtherapie mit IFN-β den zweiten Schub und damit die klinisch sichere MS verzögern kann und dieser Vorteil einer frühen Behandlung in großen Patientenkollektiven über Jahre persistiert (CHAMPIONS, [19] und BENEFIT-Extension-Studie). In den kürzlich vorgestellten Drei-Jahres-Daten der BENEFIT-Studie konnte für IFN-β1b auch erstmals in einer Studie eine Wirksamkeit auf die Behinderung anhand des EDSS-Scores gezeigt werden. Mittlerweile haben die Präparate Avonex® und Betaferon® bereits die Zulassung zur Frühtherapie der MS erhalten. Dies ist insofern zu relativieren, als nach der überarbeiteten Version der McDonald-Kriterien für die Diagnosestellung einer MS diese theoretisch schon innerhalb von einem Monat nach Symptombeginn erfolgen kann und damit der Einsatz aller zugelassenen Therapien möglich ist [23].

Mehrere kontrollierte Studien mit IFN-β bei SP-MS haben eine signifikante Wirksamkeit in frühen Phasen des Übergangs von der schubförmigen in die chronische Verlaufsform gezeigt. Sowohl die Präparate Betaferon® als auch Rebif 44® (bei zusätzlichen Schüben) sind dafür formell zugelassen. Häufig ist allerdings der klinische Nutzen nicht zufriedenstellend und eine Therapieeskalation erforderlich (s.u.). Bei primär progredienter MS (PP-MS) konnte bisher kein überzeugender, klinisch relevanter Wirksamkeitsbeweis erbracht werden.

Zur Kombinationstherapie von IFN-β mit CSE-Hemmern („Statinen“) liegen mittlerweile negative Daten einer klinischen Studie vor, die sich in Zellkulturarbeiten durch gegenläufige Effekte von CSE-Hemmern im IFN-β-Signaltransduktionsweg erklären ließen.

Glatirameracetat

Bei Glatirameracetat (GLAT, Copaxone®, Fa. Teva Pharma/Sanofi-Aventis) handelt es sich ein synthetisches Tetrapeptid aus den vier Aminosäuren L-Glutaminsäure, L-Lysin, L-Alanin und L-Tyrosin in zufälliger Mischungsreihenfolge und Kettenlänge. In den letzten Jahren konnten in Untersuchungen zum Wirkungsmechanismus vor allem eine veränderte (anti-inflammatorische, sog. „Th2“) Polarisierung Antigen-präsentierender Zellen herausgearbeitet werden [Übersicht in 4]. Daneben sezernieren GLAT-spezifische T-Zellen vermehrt „brain derived neurotrophic factor“ (BDNF), ein Neurotrophin, das potenzielle Relevanz für das Überleben von Gliazellen und Axonen in der entzündlichen Läsion haben könnte [34]. In der zulassungsrelevanten Phase-III-Studie zeigten täglich 20 mg Glatirameracetat s.c. ähnlich wie IFN-β eine etwa 30%ige Schubreduktion sowie eine etwa 35%ige Reduktion neuer Entzündungsherde in der cMRT [14].

Im Jahre 2001 erfolgte auf der Basis der oben angeführten Studien in Deutschland die Zulassung von Glatirameracetat für die RR-MS in einer Dosierung von 20 mg täglich. Die positive Wirkung von Glatirameracetat auf die Kontrastmittelaufnahme im Kernspintomogramm (MRT) tritt anscheinend erst mit einer Latenz von bis zu sechs Monaten auf, wohingegen einige der mittlerweile verfügbaren klinisch-immunologischen Daten für einen früheren Wirkungseintritt sprechen. Die Glatirameracetat-Therapie hat keine relevanten systemischen Nebenwirkungen und nur geringe lokale Reizerscheinungen. Obwohl nicht explizit verlangt, empfiehlt sich wie bei allen Dauertherapien die gelegentliche Durchführung von Blutbildanalysen und klinisch-chemischen Kontrolluntersuchungen. In laufenden Studien wird die Wirksamkeit noch höherer Dosierungen von GLAT, nämlich 20 vs. 40 mg pro Tag, überprüft. Bei PP-MS sowie oraler Applikation von GLAT konnten bisher leider keine signifikanten Therapieerfolge erzielt werden.

Zusammengefasst lassen sich nach unserer Erfahrung vor allem bei Patienten in der frühen Erkrankungsphase einer RR-MS mit Glatirameracetat sehr gute Langzeiterfolge erzielen, wobei sich tierexperimentell Hinweise für synergistische Effekte in Kombinationstherapie mit niedrig dosierten CSE-Hemmern (Atorvastatin, Simvastatin) ergaben [31].

Azathioprin und intravenöse Immunglobuline: Basistherapie der zweiten Wahl

Die MS-Therapiestudien aus den 80er Jahren mit Azathioprin [33] erreichen nicht die Qualität moderner Studien. Dennoch besitzt Azathioprin eine Zulassung für die RR-MS, auch begünstigt durch Kostenaspekte und orale Verfügbarkeit. Allerdings muss das erhöhte Risiko für Sekundärlymphome berücksichtigt werden. Mehrere kleinere Studien belegen mittlerweile, dass eine Kombinationstherapie mit IFN-β und Azathioprin zwar sicher, aber klinisch nicht effektiver als eine IFN-β-Monotherapie ist.

In einem gerade erschienenen Konsensuspapier wurde der Stellenwert von Immunglobulinen (IVIg) Evidenz-basiert beurteilt [8]. Aufgrund kleinerer Studien bei RR-MS mit Mängeln im Studiendesign sind IVIg trotz positiver Studienergebnisse derzeit nicht Mittel der 1. Wahl, aber eine Alternative, wenn andere Therapien nicht toleriert werden. Eine monatliche Einmalgabe von 0,2 g/kg Körpergewicht erscheint hierfür ausreichend. Theoretisch sinnvoll wäre auch der peripartale Einsatz von IVIg bei stillenden Müttern. Für den Einsatz bei SP-MS, PP-MS oder zur Behandlung fixierter Defizite existiert keine wissenschaftliche Grundlage.

Eskalierende Immuntherapie

Natalizumab (anti-VLA4)

Bei Natalizumab (Tysabri®, BiogenIdec) handelt es sich um einen Antikörper gegen das Very-Late-Antigen-4 (VLA), ein aus einer Alpha-4- und Beta-1-Kette zusammengesetztes Integrinmolekül. VLA-4 spielt als Adhäsionsmolekül auf Immunzellen und hier insbesondere Lymphozyten und Monozyten eine Rolle für die Transmigration über die Blut-Hirn-Schranke. Nachdem eine Plazebo-kontrollierte Phase-IIb-Studie über den Behandlungszeitraum von sechs Monaten positive Effekte auf die Entzündungsaktivität in der Kernspintomographie und die klinische Schubrate bei guter Verträglichkeit gezeigt hatte [21], wurden in der Folge zwei Phase-III-Studien bei RR-MS durchgeführt. In einer Studie wurde die monatliche Gabe von 300 mg Natalizumab mit Plazebo verglichen. Bezogen auf den primären Endpunkt ergab sich eine Schubreduktion um 68%, und das relative Risiko einer anhaltende Behinderungsprogression während der Studiendauer war in der Verum-Gruppe um über 40% reduziert (von 29% in der Plazebo-Gruppe auf 17% bei den Verum-behandelten Patienten). Diese Ergebnisse spiegelten sich auch kernspintomographisch mit einer rund 90%igen Reduktion Gadolinium-aufnehmender Läsionen wider [22]. Die zweite Studie schloss Patienten ein, die unter Therapie mit Avonex® (IFN-β 1a) im Jahr vor Studienbeginn weiterhin mindestens einen Schub erlitten hatten. Alle Patienten erhielten Avonex® weiter sowie als zusätzliche Therapie entweder monatliche Infusionen mit 300 mg Natalizumab oder Plazebo. Der zusätzliche therapeutische Effekt von Natalizumab war vorhanden, aber im Vergleich zur Monotherapie-Studie deutlich geringer ausgeprägt [26].

Auf der Basis bereits positiver Daten einer Interimsanalyse nach einem Jahr wurde Natalizumab im November 2004 in den USA zugelassen. Drei Monate später wurde über drei Fälle von progressiver multifokaler Leukenzephalopathie (PML) bei Natalizumab-Studienpatienten berichtet [1]. Die PML wird durch das zur Papova-Familie gehörende JC-Virus vermittelt und überwiegend bei immunsupprimierten Patienten beobachtet, beispielsweise im Rahmen einer HIV-Infektion. Bemerkenswerterweise wurden beide betroffenen MS-Studienpatienten im Rahmen der Kombinationsstudie gleichzeitig mit Avonex® behandelt, der M.-Crohn-Patient erhielt vorausgehende und vermutlich nachwirkende Immuntherapien mit Azathioprin und TNF-α-Blockade. Somit kann bei allen drei PML-Fällen eine deutliche Veränderung der Immunkompetenz vermutet werden. Dennoch wurde eine zufriedenstellende Erklärung für das Auftreten einer PML unter Therapie mit Natalizumab bisher nicht gefunden. Möglicherweise vermittelt die Bindung von Natalizumab an Alpha-4-Integrine die Mobilisation JC-virustragender Zellen aus dem Knochenmark. Ebenso denkbar wäre auch eine Hemmung der Immunüberwachung im zentralen Nervensystem. Nach Bekanntwerden der PML-Fälle zog der Hersteller freiwillig die Zulassung für das Präparat vorübergehend zurück, bis die Pharmakovigilanz-Daten vorlagen, die in einer sehr detaillierten Nachuntersuchung von über 3000 Natalizumab-Patienten auch mittels MRT und Liquoranalyse keine weiteren Infektionsfälle erbrachten [32]. Nach umfassender Prüfung erhielt Natalizumab im Juni 2006 die Zulassung in USA und der EU für die Monotherapie. Zielpopulation sind Patienten mit RR-MS, die unter vorhergehender IFN-β-Therapie weiter Schübe entwickeln, sowie solche, die bereits unbehandelt eine hohe Krankheitsaktivität aufweisen. Tysabri® wird alle vier Wochen als Kurzinfusion über eine Stunde verabreicht, wobei anti-allergische Vorsichtsmaßnahmen getroffen und die Patienten für eine weitere Stunde nachbeobachtet werden müssen. Da in den Studien 6% der Patienten neutralisierende Antikörper gegen Natalizumab entwickelt haben, wird empfohlen den Antikörper-Status nach drei Infusionen zu testen. Für Deutschland wird die Testung in der Neurologischen Klinik des St. Josef-Hospitals Bochum, Ruhr-Universität Bochum durchgeführt.

In Hinblick auf das PML-Risiko (1:1000 unter Kombinationstherapie) sowie eventuell mögliche andere opportunistische Infektionen wurden aufwendige Pharmakovigilanzprogramme gestartet. Diese beinhalten Anweisungen für Patienten sowie behandelnde Ärzte. Bei zuvor immunsupprimierten Patienten sollte vor Behandlungsbeginn mit Natalizumab eine ausreichende Immunkompetenz inklusive normalem Differenzialblutbild sichergestellt sein. Entsprechende Empfehlungen für behandelnde Ärzte wurden kürzlich von einer Arbeitsgruppe zusammengefasst [7]. Beim Auftreten neuer neurologischer Symptome unter Therapie mit Natalizumab soll die Behandlung ausgesetzt und eine cMRT durchgeführt werden. Falls sich eine PML nicht ausschließen lässt, ist eine Liquoranalyse notwendig. Bleiben die Untersuchungen unauffällig, kann die Behandlung mit Natalizumab fortgeführt werden. Ein entsprechender Algorithmus zur Unterstützung der Ärzte wurde jüngst publiziert [15].

Mitoxantron

Mitoxantron wurde 1987 in die MS-Therapie eingeführt und erwies sich auch bei schwer verlaufender MS als hochwirksam sowie dem Cyclophosphamid überlegen [9]. Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass der zytotoxische Effekt von Mitoxantron über die Induktion von Apoptose, insbesondere von B-Zellen und auch NK-Zellen vermittelt wird. Aufgrund der Ergebnisse der MIMS-I-Studie [11] wurde Mitoxantron im Dezember 2002 unter dem Produktnamen Ralenova® für die Therapie rasch progredienter MS-Verläufe zugelassen. Im klinischen Alltag wird Mitoxantron in einer Dosis von 12 mg/m2 entweder bei RR-MS-Patienten mit hoher Schubfrequenz (typischerweise 3–4 pro Jahr unter Basistherapeutika, teils zunehmendes Residuum) oder bei der SP-MS mit deutlicher Einschränkung der Gehstrecke eingesetzt. Therapielimitierend ist die Kardiotoxizität, wobei in der Neurologie eine kumulative Lebenszeitdosis von 140 mg/m2 Körperoberfläche als Grenzdosis angesehen wird [29]. Darüber hinaus sollten die Patienten über die sehr niedrigen Risiken eines Sekundärlymphoms [6] sowie über die Gefahr einer Infertilität und damit verbunden bei Männern auch die Möglichkeit einer Samenspende aufgeklärt werden. Aktuell im Fokus des Interesses sind insbesondere Strategien zur so genannten Deeskalation, das heißt möglichen Anschlusstherapien nach Abschluss der Mitoxantron-Therapie. Ein attraktives Konzept mit ersten guten klinischen Erfahrungen beinhaltet eine zeitlich limitierte Therapie mit Mitoxantron für ein Jahr und anschließender Fortführung der Behandlung mit Glatirameracetat.

Rituximab (anti-CD20)

Bei Rituximab (MabThera®, Roche Pharma AG) handelt es sich um einen monoklonalen Antikörper gegen das Oberflächenantigen CD20, das sich beim Menschen auf der Oberfläche von reifen B-Lymphozyten und Prä-B-Zellen, aber nicht auf den bereits im Gewebe befindlichen, selber Antikörper-produzierenden Plasmazellen findet. Die Therapie mit Rituximab führt zu einer Depletion der CD20-exprimierenden B-Lymphozyten, vermutlich über antikörpervermittelte Zytotoxizität oder Komplement-vermittelte Lyse. Neben Fallberichten zur Wirksamkeit bei Gammopathie-assoziierter Polyneuropathie sowie bei multifokaler motorischer Neuropathie existierten auch erste Daten zur Anwendung bei chronisch autoimmun-entzündlichen ZNS-Erkrankungen, bei denen neuropathologische Studien auf die besondere Bedeutung humoraler, Antikörper- und Komplement-vermittelter Schädigungsmechanismen hinweisen (Typ II in der Klassifizierung nach Lassmann, Brück und Lucchinetti). Als Sonderfall dieses Spektrums wurde die Neuromyelitis optica charakterisiert, bei der sich Antikörper gegen das auf Perizyten exprimierte Kanalprotein Aquaporin-4 finden [20]. In einer unkontrollierten Fallserie von acht Patienten mit Neuromyelitis optica und deutlicher Behinderung führte die Therapie mit vier Infusionen Rituximab von 375 mg/m2 Körperoberfläche zu Schubfreiheit und Verbesserung der Gehfähigkeit [2]. Ein Fallbericht eines MS-Patienten mit persistierender Erkrankungsaktivität unter Therapie mit Mitoxantron beschreibt die klinische Stabilisierung nach Therapiewechsel auf Rituximab [30].

Zusammenfassend kann die Anwendung von Rituximab eine Erfolg versprechende neue Behandlungsoption in der Eskalationstherapie der MS darstellen. Momentan ist der Einsatz von Rituximab bei MS eine so genannte Off-Label-Situation und sollte nur an spezialisierten Zentren eingesetzt werden. Darüber hinaus ist anzumerken, dass Daten zum Langzeiterfolg bisher fehlen und klinische Surrogatparameter zur Selektion geeigneter Patienten mit dem oben genannten Typ-II-Schädigungsmuster bisher noch nicht etabliert sind. In der Bildgebung zeigen diese Patienten allerdings häufig eine ringförmige Kontrastmittelaufnahme in der cMRT. Kürzlich vorgestellte erste Ergebnisse einer Phase-II-Studie mit Rituximab bei RR-MS zeigen eine rasche Wirkung mit etwa 50%iger Schubreduktion. Weitere kontrollierte Therapiestudien mit Rituximab bei RR-MS sowie bei PP-MS stehen aus.

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Dr. med. Ralf Linker, Prof. Dr. med. Ralf Gold, Neurologischen Klinik, St. Josef-Hospital, Klinikum der Ruhr-Universität Bochum, Gudrunstraße 56, 44791 Bochum, E-Mail: Ralf.Linker@ruhr-uni-bochum.de

Die Leitlinie im Volltext:

Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose. In: Kommission „Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie“, Diener HC et al. (Hrsg.). Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 3. Aufl. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 2005:298–316. Online unter www.dgn.org


Therapy of multiple sclerosis – established concepts and recent advances

In this article, we summarize established concepts and recent advances in the treatment of multiple sclerosis (MS). The main focus of this review is on clinical studies in MS patients but also on experimental approaches relevant for present-day therapies. Recent results in MS research have already led to a significant improvement in the treatment of relapses as well as of long-term immunotherapies. These advances include relapse therapy with glucocorticosteroids and plasma exchange, but also interferons and glatiramer acetate as prophylactic treatment options. Besides mitoxantrone, natalizumab and rituximab are new and innovative approaches for therapy escalation. In the near future, therapeutic concepts may include further advanced and individualized MS therapies.

Keywords: Immunotherapy, plasmapheresis, natalizumab, rituximab

Psychopharmakotherapie 2007; 14(05)