Antidepressiva

Suizidgefahr bei Kindern und Jugendlichen erhöht


Bettina Martini, Memmingen

Während einer Therapie mit Antidepressiva wurde bei schwer depressiven Kindern und Jugendlichen, nicht aber bei Erwachsenen eine erhöhte Rate von Suizidversuchen und erfolgten Suiziden beobachtet. So das Ergebnis einer retrospektiven Fall-Kontroll-Studie. Die Risikogruppe von depressiven Kindern und Jugendlichen sollte daher besonders gründlich überwacht werden.

Hintergrund

Nachdem eine Metaanalyse eine erhöhte Rate von Suizidversuchen und -gedanken bei Kindern und Jugendlichen unter Therapie mit bestimmten Antidepressiva ergeben hatte, verpflichtete die amerikanische Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) die Hersteller, entsprechende Warnhinweise auf den Faltschachteln anzubringen. In jener Metaanalyse wurden allerdings keine Suizidtodesfälle beschrieben.

Nun wurden in einer Fall-Kontroll-Studie Häufigkeit von Suizid-Versuchen und erfolgten Suiziden bei Kindern und Erwachsenen mit und ohne Therapie mit Antidepressiva gegenübergestellt.

Studiendesign

Für die Fall-Kontroll-Studie wurde anhand von Krankenversicherungsdaten aus den Jahren 1999 und 2000 retrospektiv die antidepressive Medikation von 263 schwer depressiven Kindern im Alter von 6 bis 18 Jahren mit Suizidversuch und 8 Kindern mit erfolgtem Suizid mit der Medikation von 1241 ebenso schwer depressiven Kindern ohne Suizidversuch verglichen.

Ebenso wurde die Medikation bei Erwachsenen mit Suizidversuch (n=521) oder erfolgtem Suizid (n=86) einer Kontrollgruppe ohne Suizid/-versuch (n=2394) gegenübergestellt.

Alle Kinder und Erwachsenen waren zuvor wegen ihrer Depression in stationärer Behandlung. Patienten mit bipolaren Störungen, Schizophrenie oder anderen Psychosen waren ausgeschlossen. Primäre Zielkriterien waren die Zahl der Suizidversuche und erfolgten Suizide unter antidepressiver Therapie und ohne medikamentöse antidepressive Therapie.

Ergebnisse

Bei Kindern und Jugendlichen ergab sich unter Therapie mit Antidepressiva eine signifikant erhöhte Rate von Suizidversuchen, bei Erwachsenen war die Rate dagegen nicht erhöht (Tab. 1).

Tab. 1. Suizidversuche – Zusammenhang mit einer medikamentösen antidepressiven Therapie bei stark depressiven Kindern/Jugendlichen (Alter 6 bis 18 Jahre) und Erwachsenen

Patienten [%]

p-Wert

Odds-Ratio

(95%-Konfidenzintervall)

Fälle

Kontrollen

Kinder/Jugendliche

– ohne Antidepressivum

– mit Antidepressivum

(n=263)

54,4%

45,6%

(n=1241)

63,9%

36,1%

0,007

1,00

1,52 (1,12–2,07)

Erwachsene

– ohne Antidepressivum

– mit Antidepressivum

(n=521)

53,2%

46,8%

(n=2394)

55,9%

44,1%

0,46

1,00

1,10 (0,86–1,39)

Auch bei den Suizidtodesfällen ergab sich bei Kindern und Jugendlichen mit antidepressiver Therapie eine erhöhte Rate. Bei der Interpretation muss aber bedacht werden, dass diese Daten auf einer Fallzahl von 8 beruhen, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass tendenziell die schwerer depressiven Kinder Antidepressiva erhalten hatten. Bei den Erwachsenen wurde auch für Suizidtodesfälle kein Unterschied in Abhängigkeit von der antidepressiven Therapie festgestellt (Tab. 2).

Tab. 2. Suizide – Zusammenhang mit einer medikamentösen antidepressiven Therapie bei stark depressiven Kindern/Jugendlichen (Alter 6 bis 18 Jahre) und Erwachsenen

Patienten [%]

p-Wert

Odds-Ratio

(95%-Konfidenzintervall)

Fälle

Kontrollen

Kinder/Jugendliche

– ohne Antidepressivum

– mit Antidepressivum

(n=8)

50,0%

50,0%

(n=39)

87,2%

12,8%

0,002

1,00

15,62 (≥1,65)

Erwachsene

– ohne Antidepressivum

– mit Antidepressivum

(n=86)

54,4%

45,6%

(n=396)

45,2%

54,8%

0,70

1,00

0,90 (0,52–1,55)

Am stärksten erhöht war die Häufigkeit von Suizidversuchen mit trizyklischen Antidepressiva. Sie war etwa dreimal so hoch wie bei nicht medikamentös behandelten Kindern und Jugendlichen. Ebenfalls signifikant erhöhte Zahlen ergaben sich bei Venlafaxin (Trevilor®) und Sertralin (z.B. Zoloft®) (Tab. 3).

Tab. 3. Zusammenhang von Suizidversuchen mit einer medikamentösen antidepressiven Therapie bei stark depressiven Kindern/Jugendlichen (Alter 6 bis 18 Jahre)

Anteil [%] mit der genannten Therapie

p-Wert

Odds-Ratio

(95%-Konfidenzintervall)

Fälle
(n=263)

Kontrollen (n=1241)

Alle Antidepressiva

45,6

36,1

0,007

1,52 (1,12–2,07)

Alle SSRI

29,7

25,5

0,21

1,24 (0,86–1,79)

– Fluoxetin

4,9

6,9

0,16

0,69 (0,35–1,37)

– Paroxetin

9,9

7,4

0,27

1,36 (0,80–2,30)

– Sertralin

12,9

7,7

0,003

1,88 (1,15–3,06)

– Citalopram

2,3

3,8

0,21

0,68 (0,28–1,67)

– Fluvoxamin

0,4

0,3

0,92

0,91 (0,09–8,93)

Trizyklische Antidepressiva

4,2

1,4

0,002

3,09 (1,32–7,22)

Venlafaxin

7,2

3,4

0,007

2,33 (1,25–4,33)

Mirtazapin

3,8

2,1

0,13

1,64 (0,68–3,94)

Bupropion

4,9

4,6

0,97

1,07 (0,53–2,19)

Trazodon

4,9

4,0

0,59

0,86 (0,35–2,42)

Nefazodon

2,3

1,1

0,27

1,62 (0,58–4,53)

SSRI=selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

Antidepressiva bei Kindern: Augenmaß ist gefordert

Antidepressiva müssen bei der Behandlung von depressionskranken Kindern und Jugendlichen unter gebührender engmaschiger Kontrolle eingesetzt werden, allerdings muss das Risiko für Suizid(-versuche) durch eine antidepressive Therapie abgewogen werden gegen das entsprechende Risiko infolge einer unbehandelten Depression. Daran erinnerte Karen Wagner, MD, PhD, aus Galveston (Texas) bei der diesjährigen Tagung der American Psychiatric Association (APA).

Nach dem Erlass der Black-Box-Warnung durch die FDA im Jahr 2004 gingen die Verordnungen von Antidepressiva für unter 18-Jährige deutlich zurück (um 4% pro Monat) und verschoben sich in den Facharztbereich – waren im Zeitraum 12/03–2/04 nur 44% dieser Verordnungen von Psychiatern ausgestellt worden, so waren es ein Jahr später bereits 63%. Gleichzeitig mit dieser vielleicht sogar wünschenswerten Entwicklung fand eine Verschiebung zwischen den Antidepressiva-Gruppen statt: Bei der Diskussion um die erhöhte Suizidalität hatten vor allem die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) im Mittelpunkt gestanden, nun sank ihr Anteil rasch, von 74,5% im Februar 2004 auf 57,9% im Februar 2005, und zwar in starkem Maße zugunsten von Bupropion (10,7% → 20,8%) – angesichts der Tatsache, dass Bupropion für den Einsatz bei Kindern noch kaum untersucht war, eher eine irrationale Reaktion.

Eine aktuelle Metaanalyse (Bridge et al., JAMA 2007;297: 1683–96) ergab für Antidepressiva (SSRI, Venlafaxin, Nefazodon, Mirtazapin) bei <19-Jährigen mit Major Depression eine Number needed to treat (NNT) von 10. Die Number needed to harm (NNH) in Bezug auf Suizidgedanken und -versuche betrug 112. Vollendete Suizide waren in den Studien nicht aufgetreten. Insgesamt, so Dr. Wagner, überwog also bei weitem der Nutzen der Pharmakotherapie. Nichtsdestoweniger forderte auch sie weitere Studien zur Klärung der Suizidalität unter antidepressiver Therapie sowie weitere Studien zum Nachweis der Wirksamkeit von Antidepressiva bei depressiven Kindern und Jugendlichen – die bisherigen Studien kranken oft an einer hohen Plazebo-Ansprechrate. ho

Wagner K. Research advances in psychiatry: Antidepressants in children and adolescents. APA 160th Annual Meeting, San Diego (CA), 19.–24. Mai 2007.

Diskussion und Fazit

Insgesamt ergab sich in dieser Fall-Kontroll-Studie eine 1,5fach erhöhte Rate an Suizidversuchen bei Kindern und Jugendlichen während einer Therapie mit Antidepressiva verglichen mit ebenso depressiven Kindern und Jugendlichen ohne medikamentöse antidepressive Therapie. Das Ergebnis ist demnach konsistent mit den Daten der FDA, die ebenfalls ein erhöhtes Suizidrisiko für Kinder, nicht aber für Erwachsene ergaben.

Die Empfehlung, dass schwer depressive Kinder und Jugendliche auch nach einem stationären Aufenthalt gut betreut und streng beobachtet werden sollten, muss daher weiter betont werden.

Quelle

Olfson M, et al. Antidepressant drug therapy and suicide in severely depressed children and adults. Arch Gen Psychiatry 2006;63:865–72.

Psychopharmakotherapie 2007; 14(04)