Akathisie und Unruhe mit Suizidalität unter Aripiprazol


Detlef Degner, Göttingen, Renate Grohmann, München, Eckart Rüther und Stefanie Spiegel, Göttingen

In einer Falldarstellung berichten wir über einen 30-jährigen Patienten mit einer Schizophrenia simplex, der unter einer Tagesdosis von 10 mg Aripiprazol zwölf Tage nach Medikationsbeginn eine schwere Akathisie und innere Unruhe entwickelte, die sich bis zur akuten Suizidalität steigerte. Nach Absetzen der Substanz klang die Symptomatik innerhalb von elf Tagen komplett ab. Diese unerwünschte Arzneimittelwirkung wurde im Rahmen des AMSP-Projekts (Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie) dokumentiert und ausgewertet. Die Kasuistik unterstreicht die große klinische Relevanz unerwünschter Arzneimittelwirkungen und die Bedeutung von Pharmakovigilanz-Projekten.
Schlüsselwörter: Aripiprazol, AMSP, Akathisie, Suizidalität, UAW
Psychopharmakotherapie 2007;14:163–5.

In den 90er Jahren wurde eine Reihe neuer atypischer Antipsychotika entwickelt. Aufgrund verschiedenartig ausgeprägter Affinitäten zu mehreren Neurotransmittersystemen weisen diese Präparate zum Teil erhebliche Unterschiede bei den unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) auf. Verträglichkeitsaspekte und Nutzen-Risiko-Analysen gewinnen zunehmend an medizinischer und auch ökonomischer Bedeutung. Der in Deutschland 2004 neu eingeführte Wirkstoff Aripiprazol besitzt durch seine besonderen Rezeptorbindungs-Eigenschaften ein spezifisches UAW-Profil, mit deutlichen Unterschieden zu anderen Atypika. Mit diesem Fall aus dem AMSP-Programm soll darauf hingewiesen werden, dass es im Zusammenhang mit Akathisie und Unruhe auch unter Aripiprazol zu Suizidalität kommen kann.

Kasuistik

Aus der Vorgeschichte eines 30-jährigen Patienten waren seit mehreren Wochen Schlafstörungen bekannt. Im ambulanten Bereich kam es unter einer zweiwöchigen Behandlung mit Mirtazapin (15 mg/d) zu einer leichten Besserung der Schlafproblematik. Kurzzeitig hatte der Patient, vor der Mirtazapin-Verordnung, wegen der Insomnie passagere suizidale Gedanken, aber keine konkreten Suizidpläne entwickelt. Frühere Suizidversuche sind in der Anamnese nicht bekannt. Der Patient hatte keine früheren stationären psychiatrischen Aufenthalte, keine relevanten organischen Erkrankungen, keinen Alkohol- oder Drogenkonsum in der Vorgeschichte.

Nach Vorstellung des Patienten im psychiatrischen Notdienst erfolgte eine Woche später am 13. September 2006 eine elektive stationäre Aufnahme zur diagnostischen Abklärung aufgrund multipler körperlicher Beschwerden (z.B. „Wanderschmerzen“, „Gefühl, innerlich zu verbrennen“, „Rauschen und Piepen“ im Kopf), die der Patient sehr bizarr zu erklären versuchte. Weiterhin klagte der Patient über Antriebsarmut, zeigte eine Affektverflachung, Anhedonie und Interessenlosigkeit sowie deutliche Auffassungsstörungen. Retrospektiv gab es schon seit mehreren Monaten Teile dieser Symptomatik. Zum Aufnahmezeitpunkt bestanden keine akustischen oder optischen Halluzinationen, insbesondere keine suizidalen Gedanken oder Pläne.

Befunde

Die klinisch-neurologische Untersuchung war regelrecht. Sämtliche routinemäßig erhobenen Laborparameter lagen im Normbereich. Das MRT des Kopfes und ein IBZM-SPECT waren ohne pathologischen Befund. Das EEG zeigte einen normalen Alpha-Grundrhythmus. Die Untersuchung des Liquor cerebrospinalis ergab bis auf eine grenzwertige Schrankenfunktionsstörung ebenfalls einen unauffälligen Befund.

Als Diagnose wurde eine Schizophrenia simplex (ICD-10: F20.6) gestellt, die behandelnden Ärzte entschlossen sich zu einer antipsychotischen Medikation.

Die Mirtazapin-Vormedikation wurde am Aufnahmetag (13.09.06) abgesetzt. Es folgte eine Eindosierung von Aripiprazol (Abilify®) mit zunächst 5 mg/d vom 19. bis 24. September 2006, dann 10 mg/d vom 25. September bis zum 2. Oktober 2006. Zusätzlich wurde, wegen Durchschlafstörungen, seit dem 13. September 2006 Zopiclon, 7,5 mg zur Nacht, verordnet.

UAW

Ab dem 30. September 2006 (d.h. 12 Tage nach Beginn der Aripiprazol-Therapie) trat eine sich steigernde Akathisie auf, mit massivem Drang, ständig auf und ab zu laufen. Der Patient konnte im Verlauf praktisch nicht mehr sitzen und musste nach kürzester Zeit wieder aufstehen. Zwei Tage später entwickelte sich zusätzlich eine progrediente starke innere Unruhe und Anspannung. Der Patient berichtete schließlich über konkrete, massive suizidale Gedanken, so dass er am Abend des gleichen Tages auf eine geschlossene Station verlegt werden musste. Nach Diazepam-Gabe bis 15 mg/d und dem Absetzen von Aripiprazol (2. Oktober 2006) konnte der Patient am Folgetag wieder auf eine offen geführte Station zurückverlegt werden. Die Symptomatik besserte sich in der Folgezeit allmählich und war am 10. Oktober 2006 vollständig abgeklungen. Die Dauer der UAW betrug insgesamt elf Tage.

Weiterer Verlauf

Während der anschließenden mehrwöchigen stationären Behandlung erhielt der Patient als antipsychotische Medikation zunächst Quetiapin (maximal 200 mg/d), danach Amisulprid (maximal 300 mg/d). Darunter traten weder eine Akathisie oder Unruhezustände noch suizidale Gedanken auf. Der Patient konnte in stabilisiertem Zustand am 10. November 2006 entlassen werden.

Diskussion

Im Rahmen des AMSP-Projekts sahen wir bei dem hier dargestellten Fall einen kausalen Zusammenhang der UAW mit der Aripiprazol-Medikation bei einer initial sehr niedrigen Tagesdosierung und langsamen Dosissteigerung bis maximal 10 mg/d; für die UAW gab es keine patientenbezogene Alternativerklärung. Ein kausaler Zusammenhang der UAW mit dem Absetzen von Mirtazapin erschien schon zeitlich unwahrscheinlich, da dies bereits am Aufnahmetag, also 17 Tage vor UAW-Beginn, erfolgt war.

El-Sayeh und Morganti [5] analysierten in einer umfangreichen, methodisch exakten Studie die Cochrane-Schizophrenie-Datenbanken. Sie werteten die Daten von 15 randomisierten Studien mit insgesamt 7110 Patienten unter Aripiprazol aus. Die Gesamt-Inzidenz aller UAW unter Aripiprazol entsprach sowohl denen von Olanzapin und Risperidon (mit Ausnahme geringerer Prolactin-Anstiege) als auch denen von klassischen, typischen Antipsychotika.

Die Häufigkeit von extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen (EPS) bei atypischen Antipsychotika ist geringer als bei den Typika. In klinischen Studien zeigte sich unter Aripiprazol eine gleich häufige EPS-Rate wie unter Plazebo [8]. Kasuistisch sind unter Aripiprazol extrapyramidale Nebenwirkungen beschrieben worden. Bei Kombinationsbehandlungen beobachteten Zacher und Hatchett [13] ein komplexes „Rabbit-Syndrom“ (unter 20 mg/d Aripiprazol), Cohen et al. [2] zwei weitere EPS-Fälle, Sajbel und Mitautoren [10] eine akute Dyskinesie. Des Weiteren wurde eine deutliche Verschlechterung eines vorbestehenden Parkinson-Syndroms unter Aripiprazol publiziert [12].

Akathisien scheinen unter Aripiprazol dagegen deutlich häufiger aufzutreten [3, 8]. Im Beobachtungszeitraum 2004 bis 2005 wurden im Rahmen des AMSP-Monitorings insgesamt 1087 stationäre Patienten mit einer Aripiprazol-Medikation überwacht. Darunter fanden sich sechs Akathisie-Fälle, in drei Fällen wurde Aripiprazol allein angeschuldigt. Massive Unruhe- oder Erregungszustände wurden bei sechs weiteren Patienten beobachtet, davon ein Patient mit einer schweren Aggressivität. In einer Studie mit bipolar depressiv Erkrankten fand die Arbeitsgruppe von Kemp [7] bei fünf von zwölf mit Aripiprazol behandelten Patienten – im Rahmen einer Augmentation mit Aripiprazol – eine Akathisie (42,9% der Patienten). Patkar und Koautoren [9] ermittelten in einer kleinen, offenen Studie (n=10) bei depressiven Patienten, denen Aripiprazol (10–30 mg/d) additiv zu einer antidepressiven Medikation gegeben wurde, bei jeweils 20 % aller Patienten als UAW eine Akathisie oder Unruhe/Agitation.

Im hier vorliegenden Fall führte offensichtlich die Kombination einer ausgeprägten Akathisie, verbunden mit psychomotorischer und innerer Unruhe, zu einer schweren suizidalen Krise. Holzer und Eap [6] veröffentlichten den Fallbericht eines Suizidversuchs unter einer Monotherapie mit Aripiprazol bei einem Patienten, der zuvor Risperidon erhalten hatte. Suizidgedanken oder -versuche waren im Vorfeld nie aufgetreten. Scholten und Selten [11] beschrieben bei insgesamt fünf Patienten unter einer Aripiprazol-Medikation drei Suizidversuche, bei zwei Patienten traten Suizidgedanken auf. Die Suizidalität war meist mit Akathisie, Schlafstörungen oder Unruhe verbunden und bei keinem der Patienten vorher aufgetreten. In der Datenbank der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft und des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) [1] fanden sich bis November 2006 insgesamt 286 Meldungen über psychische UAW unter Aripiprazol, darunter über 6 Suizide, 14 Suizidversuche und 10 Suizidgedanken.

Aripiprazol besitzt einen komplexen Rezeptorenmechanismus. Die Substanz ist zum einen ein partieller Dopamin- („Dopamin-Modulation“) und 5-HT1A-Rezeptoragonist, zum anderen auch ein kompletter 5-HT2A-Antagonist [3]. DeQuardo [4] sieht als mögliche Ursache für Unruhe/Agitation den spezifischen partiellen Dopamin-Agonismus. Möglicherweise ist die spezielle Kombination aus Dopamin-agonistischen/antagonistischen verbunden mit den serotonergen Eigenschaften von Aripiprazol Ursache für die beschriebene Gesamtproblematik.

Ergebnisse von Pharmakovigilanz-Projekten stellen gegenüber klinischen Studien ein realistischeres Abbild der Alltagssituation dar. Gerade bei relativ neu eingeführten Substanzen besitzen Postmarketing-Überwachungssysteme eine hohe Relevanz. Nach Medikationsbeginn oder nach einer Dosissteigerung von Aripirazol sollte verstärkt auf Akathisie, Agitation und, vor allem in Verbindung damit, auf Suizidalität geachtet werden.

Literatur

1. Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Hypersexualität unter Aripiprazol (Abilify®) (Aus der UAW-Datenbank). Dtsch Ärztebl 2006;51–52:A3518.

2. Cohen ST, Rulf D, Pies R. Extrapyramidal side effects associated with aripiprazole coprescription in 2 patients. J Clin Psychiatry 2005;66:135–6.

3. Fleischhacker WW. Aripiprazole. Expert Opin Pharmacother 2005;6:2091–101.

4. DeQuardo JR. Worsened agitation with aripiprazole: adverse effect of dopamine partial agonism? J Clin Psychiatry 2004;65:132–3.

5. El-Sayeh HG, Morganti C. Aripiprazole for schizophrenia. Cochrane Database Syst Rev 2006;2:CD004578.

6. Holzer L, Eap CB. Aripiprazole and suicidality. Int Clin Psychopharmacol 2006;21:125–6.

7. Kemp DE, Gilmer WS, Fleck J, et al. Aripiprazole augmentation in treatment-resistant bipolar depression: early response and development of akathisia. Prog Neuropsychopharmacol Biol Psychiatry 2007;31:574–7.

8. Kinghorn WA, McEvoy JP. Aripiprazole: pharmacology, efficacy, safety and tolerability. Expert Rev Neurother 2005;5:297–307.

9. Patkar AA, Peindl K, Mago R, et al. An open-label, rater-blinded, augmentation study of aripiprazole in treatment-resistant depression: Prim Care Companion J Clin Psychiatry 2006;8:82–7.

10. Sajbel TY, Cheney EM, DeQuardo JR. Aripiprazole-associated dyskinesia. Ann Pharmacother 2005;39:200–1.

11. Scholten MR, Selten JP. Suicidal ideations and suicide attempts after starting on aripiprazole, a new antipsychotic drug. Ned Tijdschr Geneeskd 2005;8:2296–8.

12. Wickremaratchi M, Morris HR, Ali IM. Aripiprazole associated with severe exacerbation of Parkinson’s disease. Mov Disord 2006;21:1538–9.

13. Zacher JL, Hatchett AD. Aripiprazole-induced movement disorder. Am J Psychiatry 2006;163:160–1.

Dr. Detlef Degner, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Georg-August-Universität Göttingen, von-Siebold-Str. 5, 37075 Göttingen, E-Mail: ddegner@gwdg.de
Dr. Renate Grohmann, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München, Nussbaumstr. 7, 80336 München
Prof. Dr. Eckart Rüther, Dr. Stefanie Spiegel, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Georg-August-Universität Göttingen, von-Siebold-Str. 5, 37075 Göttingen

Psychopharmakotherapie 2007; 14(04)