Heilerde als auslösender Faktor einer depressiven Episode bei rezidivierender depressiver Störung


Eine Kasuistik

Stefanie Becker, Kiel, und Elmar Habermeyer, Rostock

Mit zunehmender Verbreitung naturheilkundlicher Arzneimittel werden signifikante Wirkungen, aber auch mögliche Wechsel- und Nebenwirkungen dieser Präparate entdeckt. In der vorgestellten Kasuistik entwickelte eine 60-jährige Patientin, bei der in der Vorgeschichte eine rezidivierende depressive Störung bekannt war, ein depressives Rezidiv, was auf eine mangelnde gastrointestinale Absorption des verabreichten Antidepressivums Citalopram durch die zeitgleiche eigenständige Einnahme von Heilerde gegen Refluxbeschwerden zurückgeführt werden konnte. „Heilerde“ ist ein weitverbreitetes naturheilkundliches Präparat, das bei innerlicher Anwendung unterschiedliche gastrointestinale Beschwerden durch Absorption von Magen- und Gallensäure lindern soll. Nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte tendieren dazu, die Nebenwirkungen und das Interaktionspotenzial von naturheilkundlichen Präparaten zu unterschätzen. Angesichts der weiten Verbreitung dieser Arzneien sollte auch der Psychiater bei der Erhebung der Medikamentenanamnese stets nach dem Einsatz von naturheilkundlichen Substanzen fragen.
Schlüsselwörter: Antidepressiva, Naturheilkunde, Phytopharmaka, Interaktionen
Psychopharmakotherapie 2007;14:31–3.

Mit zunehmender Verbreitung naturheilkundlicher Arzneimittel werden signifikante Wirkungen, aber auch mögliche Wechsel- und Nebenwirkungen dieser Präparate entdeckt [6, 15]. Zum Beispiel konnte gezeigt werden, dass Johanniskraut (Hypericum perforatum), bekannt als breit eingesetztes pflanzliches Antidepressivum, über eine Aktivierung des Cytochrom-P450-Systems die Plasmaspiegel anderer Präparate, wie beispielsweise von Antikoagulanzien, Immunsupressiva und oralen Kontrazeptiva, senken kann [7]. Diese Wechselwirkung tritt nach neueren Erkenntnissen auch bei Kombination mit trizyklischen Antidepressiva auf [10]. Bei gleichzeitiger Gabe von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) besteht darüber hinaus die Gefahr eines Serotonin-Syndroms [7].

Deutlich wurden die Risiken einer Einnahme pflanzlicher Präparate im Fall des milden naturheilkundlichen Anxiolytikums Kava (Piper methysticum). Bei gleichzeitiger Einnahme anderer zentralnervös wirksamer Präparate kommt es zu einer Verstärkung der Effekte von Kava. In einem Fallbericht wurde sogar über die Entwicklung eines komatösen Zustands unter Kombination von Kava und Alprazolam berichtet [1]. Selbst bei alleiniger Gabe des Präparats besteht das Risiko schwerer Leberschädigungen, weshalb Kava mittlerweile vom deutschen Markt genommen wurde [5].

Resorptionsbedingte Störungen der Plasmaspiegel von Psychopharmaka ließen sich in Studien sowohl für die gleichzeitige Gabe von Antazida wie auch den Genuss von Kaffee oder Tee nachweisen [13, 14].

Inzwischen werden kritische Stimmen laut, die eine geschärfte Aufmerksamkeit der Ärzte und die Überprüfung von Wirksamkeit, Interaktionspotenzial und Anwendungsrisiken von naturheilkundlichen Präparaten in kontrollierten Studien fordern [11]. In dieser Debatte wurde unter anderem angeregt, dass auch bei diesen Präparaten in der Gebrauchsinformation explizit auf Wechselwirkungen mit anderen Mitteln eingegangen werden sollte [10]. Die medizinische und insbesondere psychiatrische Beschäftigung mit naturheilkundlichen Arzneien konzentrierte sich bislang jedoch auf die pflanzlichen Antidepressiva und Anxiolytika. Über die möglichen psychischen Auswirkungen pflanzlicher Präparate, die bei internistischen Beschwerdebildern eingenommen werden, beziehungsweise zu deren Wechselwirkung mit rezeptpflichtigen Psychopharmaka ist bislang wenig bekannt. Ein Fall aus der klinischen Praxis soll daraus resultierende Schwierigkeiten illustrieren:

Kasuistik

Eine 60-jährige Patientin mit bekannter rezidivierender depressiver Störung wurde wegen einer mittelgradigen Episode stationär aufgenommen und auf 60 mg Citalopram eingestellt. Die Entlassung erfolgte in voll remittiertem Zustand. In Absprache mit dem niedergelassenen Nervenarzt reduzierte sie vier Wochen später Citalopram auf eine morgendliche Einmaldosis von 40 mg, da sie Einschlafstörungen beklagte und eine gastrale Schmerzsymptomatik mit Refluxbeschwerden auf das Präparat zurückführte. Die Schlafstörung sei nach Reduktion zwar rückläufig gewesen, das „Sodbrennen“ habe jedoch persistiert. Etwa zwei Wochen später habe sich die affektiv weiterhin ausgeglichene Patientin – wie auch Jahre zuvor bei ähnlicher Symptomatik – Heilerde in der Apotheke besorgt. Unter regelmäßiger morgendlicher und abendlicher Einnahme hätten sich die gastrointestinalen Beschwerden rasch zurückgebildet. Zwei Wochen später kam es erneut zu akuter Stimmungsverschlechterung mit zirkadianer Rhythmik, erhöhter Angstbereitschaft, ausgeprägter Antriebs- und Freudlosigkeit sowie kognitiven Einbußen. Die Patientin wurde nochmals stationär aufgenommen. Unter der initialen Annahme eines Rezidivs nach Dosisreduktion wurde die Citalopram-Dosis auf 60 mg/d erhöht. Als die Patientin jedoch über die eigenständige Fortführung ihrer Heilerde-Behandlung berichtete, stellte sich bei Lektüre der Anwendungshinweise heraus, dass vor und nach der Einnahme anderer Arzneimittel ein Zeitabstand von ein bis zwei Stunden eingehalten werden muss. Die Patientin gab an, dies nicht berücksichtigt zu haben. Nach Absetzen der Heilerde kam es innerhalb weniger Tage zu einer Vollremission.

Diskussion

„Heilerde“ ist ein weitverbreitetes naturheilkundliches Präparat, dem bei innerlicher Anwendung die Linderung unterschiedlicher gastrointestinaler Beschwerden nachgesagt wird. Beschrieben wird eine Wirkung von Heilerde bei Gastritis, gastroduodenalen Ulzera, Refluxösophagitis, Meteorismus, Flatulenz sowie Durchfallerkrankungen [15]. Mineralogisch setzt sich das feine Pulver vornehmlich aus Quarz, Feld- und Kalkspat zusammen. Insbesondere bei gastraler Hyperazidität und Diarrhö scheint die Eigenschaft als wirksames Adsorbens für die klinische Wirkung maßgeblich zu sein. Sowohl Gallen- als auch Magensäure wird durch Heilerde effizient gebunden [15]. Die Wirksamkeit des Präparats wurde über Jahrhunderte tradiert, signifikante Nebenwirkungen wurden bislang nicht beschrieben.

Obwohl es nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden kann, legt der geschilderte Fall nahe, dass der eigenständige, nicht mit dem behandelnden Arzt abgesprochene Einsatz von Heilerde wegen Refluxbeschwerden über eine Resorptionsstörung des Antidepressivums zur Entwicklung des depressiven Rezidivs beigetragen hat. In der Packungsbeilage des Herstellers wird auf die Notwendigkeit der Einhaltung eines zeitlichen Abstands bis zur Einnahme anderer Arzneimittel hingewiesen. In der Annahme, dass ein naturheilkundliches Präparat keine relevanten Neben- oder Wechselwirkungen haben könne, hatte es die Patientin jedoch versäumt, die Gebrauchsinformation zu studieren.

Es ist aber auch fraglich, ob dem Behandler, wäre er von der Patientin über die Einnahme informiert worden, das Risiko einer Resorptionsstörung bekannt gewesen wäre. Die potenziellen Nebenwirkungen pflanzlicher Präparate werden nämlich nicht nur von Patienten, sondern auch von Ärzten unterschätzt. So berichten Cohen et al. [3] am Beispiel gerontologischer Patienten, dass nur bei 35 % einer Stichprobe von Patienten, die in der Anamneseerhebung über die regelmäßige Einnahme naturheilkundlicher Präparate berichtet hatten, dies durch den behandelnden Arzt in der Akte vermerkt wurde. In der Literatur finden sich außerdem Hinweise darüber, dass entgegen der zunehmenden Verbreitung von pflanzlichen Arzneimitteln – laut Zahlen aus den USA nehmen 25 bis 40% der Bevölkerung naturheilkundliche Präparate ein [12, 15] – ein erhebliches Wissens- und Ausbildungsdefizit unter der Ärzteschaft besteht [2, 12]. Daher fragen Ärzte nur selten gezielt nach Einnahmegewohnheiten von alternativmedizinischen Präparaten. Dies kann zu unabhängig voneinander bestehenden naturheilkundlichen und schulmedizinischen Behandlungsregimes führen, deren Wechselwirkungen vernachlässigt und letztlich übersehen werden. So nahmen 25% der Stichprobe von Cohen [3] Antikoagulanzien und alternativmedizinische Präparate mit gerinnungshemmender Wirkung parallel ein. Darüber hinaus trägt das Desinteresse der Schulmedizin dazu bei, dass Patienten sich unverstanden fühlen und sich von der Schulmedizin ab- und nicht-medizinischen Anlaufstellen zuwenden [4, 16].

Die Tatsache, dass alternative Behandlungsformen vorwiegend von Menschen mit chronischen Erkrankungen genutzt werden [17], unterstreicht die psychiatrische Bedeutung der Thematik. Psychisch kranke Menschen sind oft über Jahre hinweg gezwungen, Medikamente mit zum Teil nicht unerheblichen Nebenwirkungen einzunehmen. Außerdem sind psychiatrische Störungsbilder und deren psychopharmakologische Behandlung in der Gesellschaft durchaus umstritten [9], was Krankheitskonzepte und Compliance der Patienten zu beeinflussen vermag. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass ein nicht unwesentlicher Anteil von Patienten mit chronischen psychiatrischen Krankheitsbildern neben oder anstatt der Psychopharmakotherapie auf alternativmedizinische Behandlungsmethoden zurückgreift.

Zurzeit muss offen bleiben, ob die raren Veröffentlichungen zu Nebenwirkungen und Wechselwirkungen naturheilkundlicher Präparate ausschließlich auf deren Anwendungssicherheit beruhen oder eher einem Desinteresse der Schulmedizin zuzuschreiben sind. Angesichts der weiten Verbreitung naturheilkundlicher Präparate sollte auch der Psychiater bei der Erhebung der Medikamentenanamnese stets nach dem Einsatz von naturheilkundlichen Arzneien fragen. Mögliche Interaktionen mit psychiatrischen Medikamenten könnten dann thematisiert und deren Risiken reduziert werden. Außerdem können durch ein offenes Gespräch über die Einnahmegewohnheiten des Patienten dessen Krankheitskonzepte sowie Vorbehalte gegen psychopharmakologische Interventionen thematisiert und eventuell korrigiert werden.

Literatur

1. Almeida JC, Grimsley EW. Coma from the health food store: interaction between kava and alprazolam [Letter]. Ann Intern Med 1996;125:940–1.

2. Bodane C, Brownson K. The growing acceptance of complementary and alternative medicine. Health Care Manager 2002;20:11–21.

3. Cohen RJ, Ek K, Pan CX, Complementary and alternative medicine (CAM) use by older adults: A comparison of self-report and physician chart documentation. Journals of Gerontology Series A: Biological Sciences and Medical Sciences 2002;57:M223–7.

4. Corbin Winslow L, Shapiro H. Physicians want education about complementary and alternative medicine to enhance communication with their patients. Arch Intern Med 2002;162:1176–81.

5. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Widerruf der Zulassung für Kava-Kava- und Kavain-haltige Arzneimittel. Dtsch Ärzteblatt 1999;27:A1921.

6. Ernst E. Harmless herbs? A review of the recent literature. Am J Med 1998;104:170–8.

7. Ernst E. Second thoughts about safety of St John’s wort. Lancet 1999;354:2014–6.

8. Herskowitz I. Regulating natural health products [Letter]. Science 2002;296:46–7.

9. Hoffmann-Richter U, Wick F, Alder B, Finzen A. Neuroleptics in the newspaper. A mass media analysis. Psychiatr Prax 1999;26:175–80.

10. Johne A, Schmider J, Brockmoller J, Stadelmann AM, et al. Decreased plasma levels of amitriptyline and its metabolites on comedication with an extract from St John’s wort (Hypericum perforatum). J Clin Psychopharmacol 2002;22:46–54.

11. Koop CE. The future of medicine. Science 2002;295:233.

12. LaFrance WC, Lauterbach EC, Coffey CE, Salloway SP, et al. The use of herbal alternative medicines in neuropsychiatry. A report of the ANPA committee on research. J Neuropsychiatry Clin Neurosci 2000;12:177–92.

13. Hurwitz A. Antacid therapy and drug kinetics. Clin Pharmacokinet 1977;2:269–80.

14. Lasswell WL Jr., et al. In vitro interaction of neuroleptics and tricyclic antidepressants with coffee, tea and gallotannic acid. J Pharm Sci 1984;73:1056–8.

15. Olesch B. Heilerde – ein natürliches Antazidum. Naturamed 1996;4:28–31.

16. Owen DK, Lewith G, Stephens CR. Can doctors respond to patients’ increasing interest in complementary and alternative medicine? BMJ 2001;322:154–8.

17. Pies R. Adverse neuropsychiatric reactions to herbal and over-the-counter “antidepressants”. J Clin Psychiatry 2000;61:815–20.

Dr. med. Stefanie Becker, Zentrum für Integrative Psychiatrie (ZIP GmbH), Tagesklinik Villa Karlstal, Karlstal 34a, 24143 Kiel, E-Mail: sb2001@web.de
Dr. med. Elmar Habermeyer, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Rostock, Gehlsheimer Str. 20, 18147 Rostock, E-Mail: elmar.habermeyer@med.uni-rostock.de

Healing earth as a contributory factor in the recurrence of depression – A case report

As the use of natural medicines becomes increasingly widespread, the possible interactions of these substances are receiving increasing attention. Critics have started to call for more attention on the part of medical practitioners. A 60-year old patient with a history of recurrent depressive disorders once again developed depressive symptoms. In this case an inhibited absorbtion of her antidepressant medication with citalopram caused by the independent use of “healing earth” against reflux symptoms has been a contributory factor in the recurrence of her depression. “Healing earth” is a widely used natural medicine which is believed to alleviate a number of gastro-intestinal complaints by absorbing both gastric and bile acids. Not only patients but also medical practitioners tend to underestimate the possible side effects and interactions of herbal remedies and fail to ask patients about the use of natural medicines. In view of the widespread use of natural remedies, psychiatrists should always ask patients whether they take such remedies because of possible interactions with psychotropic drugs.

Keywords: Antidepressive agents, complementary therapy, alternative medicine, herbal remedies, interactions

Psychopharmakotherapie 2007; 14(01)