Aushebeln des Anspruchs auf Therapie gemäß des Standes der Wissenschaft durch Zielvereinbarungen?


Jürgen Fritze, Pulheim

Im Gefolge des Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetzes schreibt § 84 SGB V vor, dass die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich und die Kassenärztliche Vereinigung zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln bis zum 30. November für das jeweils folgende Kalenderjahr eine Arzneimittelvereinbarung treffen. Die Vereinbarung hat Versorgungs- und Wirtschaftlichkeitsziele und konkrete, auf die Umsetzung dieser Ziele ausgerichtete Maßnahmen (Zielvereinbarungen) festzulegen.

Die Arznei- und Verbandmittelvereinbarung für das Jahr 2006 vom 21. November 2005 zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein und den Landesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen (zugänglich bei www.kvno.de/mitglieder/arznmitl/zielve06.html) legt in § 4 Abs. 2 Nr. 2 fest, dass der durch den jeweiligen Vertragsarzt verursachte arztgruppenbezogene Verordnungsanteil des Bruttoumsatzes der „Me-too-Präparate“ um fünf Prozentpunkte zu reduzieren sei. Konkret werden auf Basis der Zahlen des GKV-Arzneimittel-Schnellinformationssystems (GAmSi) für das Kalenderjahr 2005 arztgruppenspezifische Höchstwerte festgelegt. Dabei bleiben die Fachgebiete Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie zwar ungenannt, aber von individuell festzulegenden Zielwerten bedroht: „Soweit sonstige Arztgruppen ihr Richtgrößenvolumen – auch unterjährig – überschreiten, werden mit den hiervon betroffenen Vertragsärzten individuelle, ggf. von den in § 4 Abs. 2 genannten Zielfeldern abweichende Zielwerte vereinbart“. Gemäß § 7 wird der Arzt bei Zielüberschreitung in Haftung genommen.

Zur Definition, welches Arzneimittel ein „Me-too-Präparat“ sein soll, wird unter Bezugnahme auf die GAmSi des Wissenschaftlichen Institutes der Ortskrankenkassen (WidO) die Klassikation und Einstufung von Prof. Dr. Uwe Fricke und Prof. Dr. Wolfgang Klaus in der im jährlichen Arzneiverordnungs-Report veröffentlichten Fassung herangezogen. Gemäß GAmSi und Arzneiverordnungsreport werden die Begriffe Me-too-Präparat, Analog-Präparat, Schritt- und Scheininnovation synonym gebraucht, und zwar für Präparate mit Wirkstoffen, die keinen oder nur marginale Unterschiede zu bereits eingeführten Wirkstoffen aufweisen. Solchen Analog-Präparaten wird grundsätzlich unterstellt, sie wären vom pharmazeutischen Unternehmen entwickelt worden, um bei Auslaufen des Patentschutzes und dem damit wirksam werdenden Preiswettbewerb zwischen Generika, für die ggf. zusätzlich der Gemeinsame Bundesausschuss gemäß § 35 SGB V Festbetragsgruppen bildet, ohne innovativen Zusatznutzen weiterhin den höheren Preis eines patentgeschützten Wirkstoffs erzielen zu können. Folglich sind per Definitionem nur Wirkstoffe als „Me-too-Präparate“ zu berücksichtigen, die unter Patentschutz stehen.

Bei Inkrafttreten der Zielvereinbarung umfasste die GAmSi-Liste der Me-too-Präparate unter anderem die Neuropsychopharmaka Cipralex® (Escitalopram), Comtess® (Entacapon), Edronax® (Reboxetin), Exelon® (Rivastigmin), Idom® (Dosulepin), Lyrica® (Pregabalin), Nipolept® (Zotepin), Reductil® (Sibutramin), Requip® (Ropinirol), Risperdal® (Risperidon), Seroquel® (Quetiapin), Sifrol® (Pramipexol), Solvex® (Reboxetin), Sonata® (Zaleplon), Trevilor® (Venlafaxin), Trileptal® (Oxcarbazepin), Zeldox® (Ziprasidon) und Zyprexa® (Olanzapin), also wichtige moderne Antidepressiva und alle modernen, sog. atypischen Neuroleptika, soweit sie unter Patentschutz stehen, mit Ausnahme von Abilify® (Aripiprazol).

Die Widersinnigkeit der Liste ergibt sich schon allein aus wenigen Beispielen: Comtess® wurde hier offensichtlich als Analogpräparat zu Tasmar® (Tolcapon) aufgefasst. Tasmar® darf aber wegen seiner Lebertoxizität nur noch eingesetzt werden bei Parkinson-Kranken, die „auf andere COMT-Inhibitoren nicht ansprechen bzw. diese nicht vertragen“. Dass Abilify® nicht genannt wurde, kann nur der Tatsache „zu verdanken“ sein, dass der Arzneiverordnungsreport 2005 unvollständig berücksichtigt wurde. Idom® (Dosulepin), ein Antidepressivum der ersten Generation, das im Jahr 1985 in Deutschland eingeführt wurde, nachdem es über Jahrzehnte zuvor das häufigst verordnete Antidepressivum in Großbritannien war, steht seit Dekaden nicht mehr unter Patentschutz, kann also kein Analog-Präparat im Sinne der Vereinbarung sein.

GAmSi bietet den Vertragsärzten ein benchmarking als Grundlage für ihr Verschreibungsverhalten. Das ist grundsätzlich willkommen. Es ist aber unakzeptabel, dass bezüglich der so genannten Analog-Präparate eine wissenschaftlich nicht nachvollziehbare, subjektive Einstufung zweier Autoren zugrunde gelegt wird. Die Vertragsärzte werden durch ökonomische Bedrohung gezwungen, wider die wissenschaftliche Evidenz zu verordnen. Das hebelt den gesetzlichen Anspruch (§ 2 SGB V) der Patienten auf eine dem Stand der Wissenschaft entsprechende Therapie aus. Wenn die nunmehr von Prof. Dr. Schwabe, Mitherausgeber des Arzneiverordnungsreport, überarbeitete Liste der „Me-too-Präparate“ der GAmSi (Stand 26. Mai 2006) Wirkstoffe wie u.a. Aripiprazol, Budipin, Dosulepin, Escitalopram, Olanzapin, Oxcarbazepin, Pregabalin, Quetiapin und Zaleplon enthält und durch Übernahme in die Zielvereinbarung bindenden Charakter erhält, so wird geltendes Recht außer Kraft gesetzt: Dies ist Aufgabe des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) auf der Basis etwaiger Empfehlungen des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).

Die Ständige Konferenz der Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an den deutschen Universitäten hat deshalb mit Schreiben vom 21. Februar 2006 die Zielvereinbarung bei der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein und beim Gemeinsamen Bundesausschuss moniert. Mit ihrer Antwort vom 1. März 2006 versuchte die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein zu beschwichtigen: „... für die Gruppe der Nervenärzte gibt es keine Me-too-Quote und wird es keine geben. Insofern ist auch die Me-too-Liste für das Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie keine Grundlage für einen Regress“. Die Me-too-Liste werde zudem überarbeitet.

Diese Beschwichtigung hilft nicht weiter. Gemäß Zielvereinbarung bleiben die Fachgebiete, für die „individuelle, ggf. von den in § 4 Abs. 2 genannten Zielfeldern abweichende Zielwerte“ zu vereinbaren sind, unverändert von solcher Vereinbarung bedroht, möglicherweise sogar besonders bedroht, indem die unscharfe Formulierung der Zielvereinbarung die Interpretation zulässt, arztindividuelle (also nicht nur arztgruppenspezifische) Vereinbarungen festzulegen. Davon wären unter anderem auch Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie betroffen. Diese „Vorratsregelung“ kann – wegen ihrer Unschärfe – sogar eine stärkere Bedrohung darstellen als die für einige Fachgruppen vereinbarten „Me-too-Quoten“.

Noch bedeutsamer aber ist, dass die „Me-too-Liste“, die der Zielvereinbarung zugrunde liegt und Teil der Vereinbarung ist, und das Verfahren ihrer Erstellung wissenschaftlich unhaltbar ist und mit geltendem Recht nicht zu vereinbaren. Einige pharmazeutische Unternehmer haben inzwischen mit Erfolg gegen die Me-too-Liste geklagt. Dem ist vermutlich zu verdanken, dass auch einige Psychopharmaka, die ursprünglich enthalten waren (z.B. Reboxetin, Venlafaxin, Ziprasidon) in der aktuellen Liste nicht mehr erscheinen. Damit wird die Beliebigkeit der Liste noch klarer erkennbar.

Die Zielvereinbarung klassifiziert auf der Basis der subjektiven Bewertung durch Fricke und Klaus im Arzneiverordnungsreport – nunmehr modifiziert durch Schwabe – Arzneimittel als Analogpräparate ohne ordentliche, transparente wissenschaftliche Analyse. Dies ergibt sich schon daraus, dass die revidierte Liste (März 2006) unverändert Idom® (Dosulepin) nennt.

Die Zielvereinbarung erkennt den Arzneimitteln mittelbar ab, in der „Wirkungsweise neuartig“ oder „eine therapeutische Verbesserung, auch wegen geringerer Nebenwirkungen“ im Sinne des Gesetzes (§ 35 SGB V) zu sein. Dies aber behält das Gesetz dem Gemeinsamen Bundesausschuss vor.

Der Gemeinsame Bundesausschuss aber hat sich mit diesen Arzneimitteln noch gar nicht befasst. Er hat zwar am 18. Januar 2005 das IQWiG unter anderem beauftragt, den Nutzen von Antidepressiva zu bewerten. Diese Bewertung ist aber bei weitem noch nicht abgeschlossen. Erst am 20. März 2006 hat das IQWiG den Berichtsplan „Selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) bei Patienten mit Depressionen“, der offensichtlich nur zwei der Antidepressiva (Venlafaxin, Duloxetin) gilt, fertiggestellt. Dabei haben die Bewertungen des IQWiG nur empfehlenden Charakter; um rechtswirksam zu werden, bedürfen Sie eines entsprechenden Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses und des Ausbleibens einer Beanstandung durch seine Rechtsaufsicht, das Bundesministerium für Gesundheit. Wenn die Zielvereinbarung aber mit geltendem Recht unvereinbar ist, dann ist die Zielvereinbarung in dieser Form nichtig.

Soweit bisher nur den Medien zu entnehmen, hat das Sozialgericht Düsseldorf mit Beschlüssen vom 20. April 2006 (Az: S 8 KR 98/06 ER) und vom 5. Mai 2006 (Az: S 34 KR 108/06 ER) der KV Nordrhein vorläufig untersagt, zwei Präparate forschender Arzneimittelsteller als „Me-too-Präparate“ zu bezeichnen, sowie die Vertragsärzte unter Androhung eines Abzugs in Höhe von 4% vom Jahreshonorar aufzufordern, diese Präparate nur zur Höhe der „Me-too-Quote“ zu verordnen. Beide Beschlüsse sind nicht rechtskräftig. Die KV Nordrhein hat bereits Beschwerde eingelegt.

Erst wenn die schriftlichen Urteile vorliegen, wird erkennbar sein, wie tiefgehend das Sozialgericht das Kernproblem gewürdigt hat, nämlich die rechtswidrige Einstufung als Analog-Präparat ohne wissenschaftlichen Standards genügendes Verfahren, wie sie das Gesetz (§ 35b SGB V, § 139a SGB V) implizit dem IQWiG und explizit dem Gemeinsamen Bundesausschuss (§ 92(1) SGB V: „nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“) vorschreibt.

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Gesundheitspolitischer Sprecher, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), Asternweg 65, 50259 Pulheim

Psychopharmakotherapie 2006; 13(05)