Multiple Sklerose

Anhaltende Schubfreiheit mit Natalizumab


Dr. Heike Oberpichler-Schwenk, Stuttgart

Der Adhäsionsmolekül-Inhibitor Natalizumab (Tysabri®) ist wieder zur Monotherapie bei schubförmiger multipler Sklerose zugelassen. Inzwischen liegen Daten zur zweijährigen Anwendung vor, die belegen, dass Natalizumab die Schubrate anhaltend um zwei Drittel reduziert, die Behinderungsprogression um 42%.

Eine Schlüsselrolle in der Pathogenese der multiplen Sklerose (MS) spielt nach derzeitigem Wissen der Übertritt von aktivierten autoimmunreaktiven T-Zellen aus dem Blut über die Blut-Hirn-Schranke in das ZNS, wo sie Entzündungsprozesse anstoßen und unterhalten. Der Übertritt wird durch Interaktion zwischen Adhäsionsmolekülen auf den T-Zellen und auf dem Endothel vermittelt. Die Adhäsionsmoleküle auf den T-Zellen sind Alpha-4-Integrine (α4β1, α4β7). Mithilfe von α4β1-Integrin binden die T-Zellen an VCAM-1 (vascular cell adhesion molecule 1) auf den Endothelzellen der Blut-Hirn-Schranke und können anschließend in das ZNS eindringen. In Darm-assoziierten Blutgefäßen kommt nicht VCAM-1, sondern MAdCAM-1 (mucosal addressin cell adhesion molecule 1) vor, das mit α4β7-Integrin wechselwirkt.

Natalizumab ist ein rekombinanter humanisierter monoklonaler IgG4-Antikörper gegen α4β1-Integrin und α4β7-Integrin. Die Substanz bindet an die Alpha-4-Integrine und verhindert dadurch die Wechselwirkung der T-Zellen mit dem Endothel. Außerdem wird die Expression von VCAM-1 verringert, das im Gehirn erst bei Anwesenheit proinflammatorischer Zytokine nennenswert exprimiert wird. Im Ergebnis wird die Rekrutierung von Immunzellen in entzündliches Gewebe verhindert und die Entzündung verringert.

Humanisierter Antikörper

Ursprünglich aus Mäusen gewonnener monoklonaler Antikörper, in dem durch Manipulation der DNS alle konservierten Anteile durch die entsprechenden menschlichen Anteile ersetzt wurden. Nur noch die für die Antigen-Erkennung relevanten variablen Bereiche entsprechen dem murinen Ausgangsantikörper. Die Fremdproteinbelastung, die ein allergenes Potenzial birgt, wird dadurch minimiert.

Wechselvolle Geschichte

Natalizumab wurde im November 2004 zur Therapie der schubförmigen MS zugelassen, drei Monate später aber wieder vom Markt genommen, nachdem drei Fälle von progressiver multifokaler Leukoenzephalopathie (PML), einer von Polyomaviren verursachten demyelinisierenden Erkrankung, bei Natalizumab-behandelten Patienten mitgeteilt worden waren. Bei detaillierter Analyse der Unterlagen von mehr als 3100 Patienten, die durchschnittlich 17,9 Monate lang mit Natalizumab behandelt worden waren, ergab sich kein Hinweis auf weitere PML-Fälle. Im Juli 2006 wurde die Substanz deshalb wieder zur Monotherapie der schubförmigen MS zugelassen. Kurz zuvor wurden die 2-Jahres-Daten einer entsprechenden Doppelblindstudie veröffentlicht.

Anhaltende Schubreduktion, weniger Behinderung

Natalizumab wurde in der randomisierten Doppelblindstudie AFFIRM (Natalizumab safety and efficacy in relapsing remitting multiple sclerosis) bis zu 27 Monate als Monotherapie bei Patienten mit schubförmiger MS eingesetzt. Die Patienten hatten im Vorjahr mindestens einen Schub erlitten. Sie waren im Median seit fünf bis sechs Jahren erkrankt. Die Patienten erhielten alle vier Wochen eine i.v. Infusion mit 300 mg Natalizumab (n=627) oder Plazebo (n=315).

Die Studie wurde nach einem und nach zwei Jahren ausgewertet. (Die 1-Jahres-Daten lagen bereits zur ersten Zulassung vor.)

Der primäre Endpunkt nach einem Jahr war die Rückfall- bzw. Schubrate. Sie betrug in der Natalizumab-Gruppe 0,27 Schübe/Jahr, in der Plazebo-Gruppe 0,78 Schübe/Jahr (p<0,001). Das entspricht einer Reduktion von 66%. Der Unterschied blieb auch im zweiten Jahr mit 0,20 vs. 0,67 Schüben/Jahr erhalten. Über zwei Jahre gemittelt senkte Natalizumab die Schubrate um 68% von 0,73 auf 0,23 Schübe/Jahr.

Primärer Endpunkt nach zwei Jahren war kumulative Wahrscheinlichkeit einer anhaltenden Progression der Behinderung, gemessen anhand eines definierten Anstieg des EDSS-Scores (Expanded disability status scale) über mindestens 12 Wochen. Sie betrug in der Natalizumab-Gruppe 17%, in der Plazebo-Gruppe 29% (p<0,001; Abb. 1). Das entspricht einer relativen Risikoreduktion um 42%. Die klinischen Wirkungen waren auch mit einer Verbesserung der Lebensqualität verbunden (Abb. 2).

Abb. 1. Eintritt einer anhaltenden Progression der Behinderung (Kaplan-Meier-Kurven) [nach Polman et al., 2006]

Abb. 2. Veränderungen der Lebensqualität, ermittelt mit dem SF-36, nach zwei Jahren [nach Kieseier]

In der Natalizumab-Gruppe traten durchschnittlich 1,9 neue oder sich vergrößernde Hirnläsionen im T2-gewichteten Kernspintomogramm auf und damit 83% weniger als in der Plazebo-Gruppe mit durchschnittlich 11 Läsionen (p<0,001).

Weitere Ergebnisse der Natalizumab-Behandlung nach zwei Jahren waren:

 57% der Patienten ohne T2-Läsionen (Plazebo: 15%)

 67% der Patienten ohne Rückfall (Plazebo: 41%)

 28% der Patienten ohne jegliche Krankheitsaktivität (Plazebo: 6%)

Gute Verträglichkeit

Natalizumab wurde gut vertragen, was sich auch in der geringen Studienabbruchrate von 8% (Plazebo: 11%) nach 120 Wochen widerspiegelt. Aufgrund von Nebenwirkungen brachen 6% (Plazebo: 4%) der Patienten die Studie ab.

Signifikant häufiger als in der Plazebo-Gruppe traten in der Natalizumab-Gruppe Erschöpfung (27% vs. 21%), allergische Reaktionen (9% vs. 4%) und Überempfindlichkeitsreaktionen (< 1% vs. 0%) auf. Häufiger als in der Plazebo-Gruppe kam es auch zu Kopf- und Gelenkschmerzen. Infektionen waren in beiden Gruppen gleich häufig, schwere Infektionen traten bei 3,2% der Verum- und 2,6% der Plazebo-behandelten Patienten auf.

Infusionsreaktionen, also unerwünschte Wirkungen innerhalb von zwei Stunden nach Infusionsbeginn, traten bei 24% der Natalizumab-behandelten Patienten und 18% der Vergleichsgruppe auf (p=0,04). Nach Natalizumab-Infusion kam es bei 25 Patienten (4%) zu einer Hypersensitivitätsreaktion.

Bei 37 Patienten (6%) kam es zur anhaltenden Bildung von Antikörpern gegen Natalizumab. Dies war mit einer Zunahme an Infusionsreaktionen und Wirkungsverlust verbunden.

Monotherapie mit Natalizumab

Natalizumab ist zugelassen für die krankheitsmodifizierende Monotherapie von hochaktiver, schubförmig remittierend verlaufender multipler Sklerose bei

 Patienten mit erfolgloser Behandlung mit einem Interferon beta

 Patienten mit rasch fortschreitender Erkrankung (mindestens zwei Schübe im vorangegangenen Jahr) auch ohne andere krankheitsmodifizierende Vortherapie („hot naive patients“)

Natalizumab soll bis auf Weiteres nicht zusammen mit anderen krankheitsmodifizierenden Substanzen eingesetzt werden, weil die drei PML-Fälle unter Kombinationstherapie aufgetreten sind. Die Gabe von Glucocorticoiden bei akuten Schüben ist allerdings möglich. Vor der Um- oder Einstellung auf Natalizumab sollte ein unauffälliges weißes Blutbild nachgewiesen werden, akute Infekte sowie schwere rezidivierende Infekte in der Vorgeschichte sind auszuschließen. Die Therapie wird von einem Pharmakovigilanz-Programm begleitet, in dem unter anderem das Auftreten opportunistischer Infektionen überwacht wird. Bei anhaltender Bildung von Antikörpern gegen Natalizumab wird die Therapie unwirksam und muss abgesetzt werden.

Fazit

Natalizumab hemmt spezifisch die Entzündungsaktivität im ZNS bei MS-Patienten. Die Verringerung der Schubrate um 68% über zwei Jahre ist wesentlich ausgeprägter als bei anderen krankheitsmodifizierenden Therapien (z.B. Interferon beta, Glatirameracetat), mit denen Schubreduktionen um 30 bis 37% erreicht werden. Des Weiteren bremst Natalizumab die Behinderungsprogression deutlich. Die Substanz wird gut vertragen. Die nur vierwöchentliche Anwendung empfinden die Patienten möglicherweise als vorteilhaft. Aufgrund seiner Wirksamkeit und Verträglichkeit stellt Natalizumab eine Bereicherung der Therapieoptionen bei multipler Sklerose dar.

Quellen

Prof. Dr. med. Britta Engelhardt, Bern, Prof. Dr. med. Bernd Kieseier, Düsseldorf, Prof. Dr. med. Ralf Gold, Göttingen/Bochum, Pressekonferenz „Tysabri® – eine neue Substanzklasse bei multipler Sklerose. Effektivere Schubreduktion durch neuartigen Wirkmechanismus“, Berlin, 18. Juli 2006, veranstaltet von Biogen Idec GmbH.

Polman CH, et al. A randomized, placebo-controlled trial of natalizumab for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2006;354:899–910.

Yousry TA, et al. Evaluation of patients treated with natalizumab for progressive multifocal leukoencephalopathy. N Engl J Med 2006;354:924–33.

Psychopharmakotherapie 2006; 13(05)