Aggressivität von Maßregelvollzugspatienten vor und nach 12-wöchiger Behandlung mit Olanzapin


Eine retrospektive Erhebung

Cornelis Stadtland und Norbert Nedopil, München

Antiaggressive medikamentöse Behandlungen im Maßregelvollzug sind in Deutschland noch unzureichend untersucht. In dieser Untersuchung wurden 35 stationäre Maßregelvollzugspatienten vor und nach einer mindestens 12-wöchigen Therapie mit Olanzapin beobachtet. Die Patienten zeigten im Therapieverlauf zunehmende Krankheitseinsicht und Therapiemotivation sowie selbstkritischeren Umgang mit der Delinquenz. Die Impulsivität nahm ab. Zusammenfassend ergaben sich Hinweise, dass Olanzapin aggressive Symptome von Maßregelvollzugspatienten vermindern kann.
Schlüsselwörter: Olanzapin, Aggressionen, Maßregelvollzug, Krankheitseinsicht, Delinquenz
Psychopharmakotherapie 2006;13:202–4.

Antiaggressive Wirkungen atypischer Neuroleptika wurden bisher insbesondere für die Substanzen Clozapin, Risperidon und Olanzapin beschrieben und bestehen weitgehend unabhängig von psychiatrischen Diagnosen [1, 3, 5, 7, 9, 10, 14, 16, 21, 22]. In Deutschland erfolgen aufgrund strenger gesetzlicher Vorraussetzungen die meisten psychopharmakologischen Studien zur Aggressivität in der Allgemeinpsychiatrie [2, 4, 6, 15, 17]. Dort zeigen bis zur Hälfte aller Patienten verschiedene Arten aggressiven Verhaltens [2, 17, 20], welches eng mit psychopathologischen Auffälligkeiten korreliert [20]. Bisher ist ungeklärt, inwieweit sich die in der Allgemeinpsychiatrie gewonnenen Ergebnisse auf die spezielle Situation forensisch-psychiatrischer Patienten übertragen lassen, bei denen in der Regel Aggressionsdelikte und die Gefahr erneuter Aggressionen der Unterbringungsgrund sind.

Pinals et al. (1999) beschrieben, dass die im Maßregelvollzug Untergebrachten im Vergleich zu Patienten in der Allgemeinpsychiatrie tendenziell medikamentös unterversorgt seien [13]. Tatsächlich kann eine empirische Evaluation antiaggressiver medikamentöser Behandlungen dort aus rechtlichen Gründen nicht mit der gleichen Sorgfalt wie in der Allgemeinpsychiatrie (Plazebo-kontrolliert, doppelblind, randomisiert) erfolgen. Das deutsche Recht untersagt im Arzneimittelgesetz ausdrücklich die Forschung an gegen ihren Willen Untergebrachten [8, 12]. Demgegenüber ist eine Verhaltensänderung wesentliches Behandlungsziel, ohne die es zu keiner Rehabilitation und Entlassungsmöglichkeit kommen kann.

Patienten und Methoden

35 Maßregelvollzugspatienten (34 Männer und eine Frau; Alter: 15–67 Jahre, Mittel: 35,9 Jahre), die in Deutschland in unterschiedlichen Maßregelvollzugskliniken untergebracht waren, wurden nach einer mindestens 12-wöchigen Therapie mit Olanzapin (mittlere Dosis 15,4 mg/d, Range 5–30 mg/d) von ihren Therapeuten mit Hilfe der klinischen Variablen der Integrierten Liste der Risikovariablen (ILRV) [11] retrospektiv evaluiert. Ein dazu entwickelter Erfassungsbogen wurde im Jahr 2003 auf der Münchner Herbsttagung für Forensische Psychiatrie an im Maßregelvollzug tätige Ärzte verteilt und parallel dazu in Deutschland, Österreich und der Schweiz in verschiedenen Maßregelvollzugseinrichtungen ausgegeben. Die Therapeuten wurden gebeten, ihre Erfahrungen mit Patienten zu dokumentieren, denen sie in der Vergangenheit mindestens 12 Wochen lang Olanzapin (Zyprexa®) verabreicht hatten, um seit mindestens 12 Wochen bestehende aggressive Symptome zu verringern. Weitere Ein- und Ausschlusskriterien bestanden nicht. Allerdings sollten etwaige Begleitmedikationen nicht verändert worden sein. Die Erfassung erfolgte in vollständig anonymisierter Form, so dass nicht bekannt wurde, welche Therapeuten in welchen Kliniken wie viele Bögen ausgefüllt hatten. Auch eine darüber hinausgehende standardisierte Erfassung der allgemeinen Psychopathologie war durch das gewählte Untersuchungsdesign nicht zuverlässig möglich. Da die Zielsymptomatik Aggressivität im Vordergrund stand, wurde die Untersuchung nicht auf bestimmte Patientengruppen reduziert. Die unterschiedlichen psychiatrischen Diagnosegruppen wurden nach ICD-10-Kriterien getrennt dargestellt.

Die Integrierte Liste der Risikovariablen (ILRV)

Die ILRV ist ein Instrument, das entwickelt wurde, um Klinikern eine Liste wichtiger Aspekte an die Hand zu geben, die bei Prognosebeurteilungen berücksichtigt werden sollten [11]. Die Merkmale dienen vor allem dazu, wesentliche empirisch gesicherte Risikofaktoren und protektive Aspekte nicht zu übersehen. Für die ILRV konnte in früheren retrospektiven Untersuchungen unserer Arbeitsgruppe ein Inter-Rater-Reliabilitätskoeffizient von 0,93 gezeigt werden.

Die ILRV ist in vier Abschnitte unterteilt. Insgesamt fünf Items des ersten Abschnitts erfassen das Ausgangsdelikt und weitere neun des zweiten Abschnitts die anamnestischen Daten des Patienten. Die vorgenannten Items beruhen auf der Vergangenheit und sind therapeutisch nicht zu beeinflussen. Sie wurden deshalb für die Messung von Therapieeffekten nicht berücksichtigt.

Die sieben Items des dritten Abschnitts befassen sich mit der postdeliktischen Persönlichkeitsentwicklung. Im Gegensatz zu den Items der ersten beiden Abschnitte sind sie durch therapeutische Maßnahmen veränderlich. Sie werden auch als klinische Items bezeichnet. Die Auswertung dieser Items stellt die Basis dieser Arbeit dar.

Im vierten Abschnitt, der weitere acht Items umfasst und sozialer Empfangsraum genannt wird, werden potenzielle zukünftige Risikofaktoren wie beispielsweise das Fehlen eines Arbeitsplatzes oder das Fehlen zukünftiger Wohn- und Kontrollmöglichkeiten dokumentiert.

Jedes der 20 Items kann mit bis zu zwei Punkten bewertet werden. Insgesamt können mit der ILRV somit 40 Punkte erzielt werden. Höhere Punktwerte deuten auf ein größeres kriminelles Rückfallrisiko hin [18, 19].

Die sieben klinischen Risikovariablen (postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung) der ILRV können mit maximalen 14 Punkten bewertet werden. Diese Items wurden retrospektiv 12 Wochen vor und nach der 12-wöchigen Behandlung mit Olanzapin erfasst.

Im Einzelnen enthält der Abschnitt „Postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung“ folgende Items:

1. Krankheitseinsicht und Therapiemotivation

2. Selbstkritischer Umgang mit bisheriger Delinquenz

3. Besserung psychopathologischer Auffälligkeiten

4. Pro-/antisoziale Lebenseinstellung

5. Fortgesetzte Impulsivität (emotionale Stabilität)

6. Entwicklung von Coping-Mechanismen

7. Widerstand gegen Folgeschäden durch die Institutionalisierung

Es wurde die Hypothese geprüft, dass sich die klinischen Faktoren durch Olanzapin beeinflussen lassen. Die dabei Untersuchten hatten unterschiedliche psychiatrische Diagnosen: 23 von ihnen litten an einer Schizophrenie (65,7%), sechs an einer Persönlichkeitsstörung (17,1%) und vier an einer primären Intelligenzminderung (11,4%). Jeweils ein Patient hatte eine organische und eine neurotische Störung.

Statistik

Zur Anwendung kam der Wilcoxon-Test für verbundene Stichproben. Die Daten wurden mit SPSS 12.0 ausgewertet.

Ergebnisse

Das kumulative Gewicht aller sieben untersuchten klinischen Variablen (postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung mit max. 14 möglichen Punkten) nahm im Therapieverlauf um 2,31 Punkte ab, nämlich von 8,80 auf 6,49 Punkte (p<0,001).

Bei den 23 schizophrenen Patienten verringerten sich die Summenscores dieser Variablen im Mittel um 2,39 Punkte (von 8,35 auf 5,96), bei den sechs persönlichkeitsgestörten Patienten um 2,67 Punkte (von 11,17 auf 8,50) und bei den vier primär Intelligenzgeminderten um 2,0 (von 9,25 auf 7,25 Punkte). Auch diese Unterschiede im Vergleich zu den Ausgangswerten waren hoch signifikant (p<0,001).

Die Risikoabnahme zeigte sich am ausgeprägtesten durch eine Besserung psychopathologischer Auffälligkeiten (–0,71 Punkte; p=0,000), zunehmender Krankheitseinsicht und Therapiemotivation (–0,52 Punkte; p=0,002), selbstkritischeren Umgang mit der Delinquenz (–0,45 Punkte; p=0,001) und durch eine Abnahme der Impulsivität (–0,43 Punkte; p=0,026). Bezüglich des Widerstands gegen Folgeschäden durch die Institutionalisierung (–0,12 Punkte; n.s.), der Entwicklung von Coping-Mechanismen (–0,11; n.s.) und der antisozialen Lebenseinstellung (+0,03; n.s.) waren die Effekte nicht signifikant. Die Veränderung der Risikovariablen ist zusammenfassend in Abbildung 1 dargestellt.

Abb. 1. Postdeliktische Persönlichkeitsveränderung – Veränderung der Risikovariablen unter Olanzapin (Abnahme = Risikoverminderung); Signifikanzberechnungen per Wilcoxon-Test für verbundene Stichproben, ns = nicht signifikant

Diskussion

Die zusammenfassende Auswertung der retrospektiven Anwendungsbeobachtungen zeigt, dass Olanzapin einigen Maßregelvollzugspatienten, bei denen Aggressionen im Vordergrund stehen, helfen kann. Wenn neben psychopathologischen Auffälligkeiten mangelnde Krankheitseinsicht/Therapiemotivation, fehlende Selbstkritik und Impulsivität bestanden, wurden die stärksten Effekte gefunden. Nach 12-wöchiger Behandlung mit Olanzapin nahm die Ausprägung von vier der sieben klinischen Risikovariablen der ILRV deutlich ab. Die Effekte dürften vor allem dem Einfluss von Olanzapin zuzuschreiben sein, da zwar einige Patienten durchaus auch medikamentöse Begleittherapien erhielten, diese aber während der Erhebungszeit nicht mehr verändert wurden. Bedingt durch das Untersuchungsdesign konnte ein Effekt dieser Begleittherapien nicht gesondert erfasst werden. Die Risikoverminderung war sowohl bei Patienten mit Schizophrenien als auch bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen und Intelligenzminderungen zu beobachten. Die Ergebnisse dürfen allerdings wegen der sehr kleinen Fallzahl behandelter persönlichkeitsgestörter und intelligenzgeminderter Patienten nicht überinterpretiert werden. Für zuverlässige Aussagen müssten in Zukunft größere Fallzahlen über längere Beobachtungszeiträume erfasst werden.

Trotz der dargestellten methodischen Einschränkungen ergeben sich aus dieser Untersuchung erste Hinweise, dass die medikamentöse Behandlung mit Olanzapin einigen der hier beobachteten Patienten geholfen hat, ihre klinischen Risikovariablen zu verringern und dadurch ihre Rückfallprognose zu verbessern.

Literatur

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Dr. Cornelis Stadtland, Prof. Dr. Norbert Nedopil, Abteilung für Forensische Psychiatrie, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität, Nussbaumstr. 7, 80336 München, E-Mail: cstadtla@med.uni-muenchen.de

Olanzapine and the treatment of aggressive behavior in forensic-psychiatric patients. A retrospective evaluation

The purpose of this study was to investigate the influence of olanzapine on aggressive behavior in forensic psychiatric patients. A retrospective study design monitored the progress of 35 patients (schizophrenia: n=23; personality disorder: n=6; intelligence deficits: n=4, neurotic: n=1 and organic disorder: n=1) in maximum-security hospitals who were treated with olanzapine. The clinical variables on the ILRV were evaluated. A significant reduction in aggressive behavior was observed in all diagnostic groups. Insight into disorders, delinquency, and the motivation for treatment increased, whereas impulsivity decreased. Olanzapine may be an effective treatment for aggressive behavior in maximum-security hospitals.

Keywords: olanzapine, aggressive behavior, forensic psychiatry, insight, delinquency

Psychopharmakotherapie 2006; 13(05)