Medikamentöse Behandlung der Depression im Kindes- und Jugendalter


Was tun angesichts multipler Warnhinweise gegen SSRI und SNRI?

Jörg M. Fegert, Ulm, Katrin Janhsen, Bremen, und Isabel Böge, Ravensburg

Die aktuelle Debatte über den Gebrauch von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) im Kindes- und Jugendalter basiert auf einer im Auftrag der FDA durchgeführten Reklassifikation der vorliegenden Daten aller pharmakologischen Studien im Kindes- und Jugendlichenalter (24 Studien/>4400 Probanden). Ausgehend von diesen Daten wurde von der FDA im Oktober 2004 die schärfste Form einer Warnung, eine so genannte „Black-Box Warning“ bezüglich einer Pharmakotherapie mit Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen (SSRI, SNRI, Trizyklika, MAO-Hemmer) herausgegeben. Die britische Zulassungsbehörde MHRA hatte schon zuvor, Ende des Jahres 2003, eine Kontraindikation für alle SSRI mit Ausnahme von Fluoxetin ausgesprochen. Die europäische Zulassungsbehörde EMEA erließ Mitte Dezember 2004 eine generelle Warnung vor dem Einsatz von SSRI und anderen neueren antidepressiven Substanzen, beispielsweise Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRI), bei fast allen im Kindes- und Jugendalter möglichen Indikationen, unter anderem Angst-, Zwangserkrankungen und posttraumatische Belastungsstörungen. Ausdrücklich ausgenommen wurde der Indikationsbereich hyperkinetische Störungen. Die EMEA hatte erstaunlicherweise in ihre Studienauswertung auch die Daten der Zulassungsstudien und sämtlicher anderer bekannten Studien zu Atomoxetin mit einbezogen. Die Analyse der EMEA basiert auf mehr als 5000 in Studien eingeschlossenen Probanden. Auf dieser Datenbasis erfolgte dann am 25. April 2005 ein „Bann“ von SSRI und SNRI in der Anwendung bei Kindern und Jugendlichen mit Ausnahmen für Substanzen mit Zulassung in diesem Altersspektrum. Am 9. August 2005 erging ein Bescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) an die pharmazeutischen Unternehmer, dass die Zulassungen der betreffenden Arzneimittel zum 1. Dezember 2005 in diesem Sinne geändert seien. Im Folgenden soll die Entwicklung der Diskussion um die Gabe von SSRI-Präparaten im Kindes- und Jugendalter referiert und einige Interpretationen zum Risiko-Nutzen-Verhältniss antidepressiver Pharmakotherapie, unter Einbezug des aktuellen Sachstandes, dargestellt werden. Empfehlungen für die Neueinstellung auf Antidepressiva beziehungsweise die Fortführung einer bestehenden antidepressiven Therapie werden gegeben.
Schlüsselwörter: SSRI, SNRI, Suizidgedanken, Depression
Psychopharmakotherapie 2006;13:84–94.

Seitdem zum ersten Mal der BBC-Film „The secret of Seroxat“ (Das Geheimnis des Seroxat) am 13. Oktober 2002 in Europa und den USA ausgestrahlt wurde, haben viele Publikationen und widersprüchliche Informationen eine lebhafte Debatte über Risikofaktoren und Nutzen einer Therapie mit SSRI bei depressiven Kindern und Jugendlichen angeregt.

Eltern und depressive Kinder/Jugendliche reagierten alarmiert, es kam zu plötzlichem Absetzen bestehender Medikation, was in sich ein Risikofaktor in der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung depressiver Störungen ist. Die öffentliche Akzeptanz von Psychopharmaka, welche in der letzten Dekade deutlich zugenommen hatte, verringerte sich wieder.

In der Folgezeit gibt es eine andauernde Diskussion über eine einseitige Darstellung der Ergebnisse von Publikationen sowie die Notwendigkeit, Informationen für die Öffentlichkeit, Ärzte und Patienten transparent zu machen. Die Tatsache, dass die 2004 neu gegründete Europäische Datenbank für klinische Studien (EUDRACT) nicht öffentlich zugänglich sein wird, ruft Kritik hervor; auf der einen Seite wird die Wichtigkeit von Transparenz diskutiert, auf der anderen Seite geht es um die Rechte der Eigentümer. Gut fundierte, kritische Artikel [1] verbreiten sich ebenso wie fragliche Theorien über konspirative Zusammenarbeit von Ärzten und Industrie oder aber persönliche Berichte über Familien, welche ein Kind, angeblich aufgrund von SSRI-Therapie (de facto unter SSRI-Therapie sowie wegen vieler nicht berücksichtigter Faktoren) verloren haben.

Inzwischen vermeiden viele Ärzte das Verschreiben der nicht zugelassenen SSRI und kehren zu den Trizyklika zurück. In einigen Ländern (z.B. Deutschland) hingegen hatte die Mehrzahl der Ärzte, aufgrund der fehlenden Zulassung von SSRI-Präparaten, nie die Trizyklika verlassen (aufgrund von früheren Zulassungsbedingungen waren und sind einige Trizyklika in manchen europäischen Ländern für die Indikation kindliche Depression zugelassen – auch wenn ihre Effektivität in dieser Indikation in keiner klinischen Studie oder Metaanalyse nachgewiesen wurde [Tab. 1]) [8]. Die weit verbreitete Verordnung von Johanniskraut-Präparaten in Deutschland, vor allem durch niedergelassene Allgemein- und Kinderärzte, stellt ein weiteres nationales Spezifikum der Situation in der Bundesrepublik dar [17].

Tab. 1. Studien über die Anwendung von Trizyklika bei kindlicher Depression

Studie

Patienten [n]

Altersgruppe

Arzneistoff

Studiendauer [Wochen]

Verum-Ansprech-
rate

Plazebo-Ansprech-rate

Kramer 1981

20

Jugendliche

Amitriptylin

6

80%

60%

Kashani 1984

9

Kinder

Amitriptylin

4

67%

56%

Puig-Antich 1987

38

Kinder

Imipramin

5

56%

68%

Geller 1989

50

Kinder

Nortriptylin

8

31%

17%

Geller 1990

35

Jugendliche

Nortriptylin

8

8%

21%

Boulos 1991

30

Jugendliche

Desipramin

6

50%

33%

Kutcher 1994

60

Jugendliche

Desipramin

6

48%

35%

Kye 1996

31

Jugendliche

Amitriptylin

8

56%

15%

Manche Ärzte, die trotzdem SSRI oder SNRI verschreiben, tendieren jetzt dazu, sehr niedrige Dosen anzusetzen, um Nebenwirkungen zu vermeiden. Dabei wird aber die Tatsache außer Acht gelassen, dass Kinder und Jugendliche oft über einen schnelleren Metabolismus verfügen als Erwachsene [3, 7]. Andere Ärzte verschreiben generell keine SSRI-Präparate mehr, auch bei Krankheitsbildern, für die sich positive Effekte gezeigt haben (posttraumatische Belastungsstörung [PTBS] und Angststörung), oder aber sie verordnen die SSRI-Präparate, für die bei einer bestimmten Indikation eine Zulassung im Kindesalter besteht (in verschiedenen Ländern unterschiedlich, z.B. Fluvoxamin bei Zwangsstörungen in Deutschland).

Manche Erwachsenenpsychiater betrachten diese Diskussion mit Sorge, da auch deren Patienten die Psychopharmakotherapie mit SSRI zu hinterfragen beginnen [12]. Die Food and Drug Administration (FDA) verstärkte die Irritation zudem, indem sie in der breiten Öffentlichkeit eine neuerliche Analyse von vorliegenden Daten bei erwachsenen Patienten (234 Studien, mit 40000 erwachsenen Probanden) ankündigte.

Entwarnung bei Erwachsenen

Healy [10] zeigte bei einer Reanalyse randomisierter Studien, inklusive Daten der FDA aus Zulassungsstudien bei Erwachsenen, bei den SSRI eine Rate von 0,15% vollendeter Suizide und 1,39% Suizidversuchen. Zum Vergleich fanden sich bei den Trizyklika 0,14% Suizide und 0,79% Versuche und unter Plazebo 0,04% Suizide und 0,65% Versuche. Das Odds-Ratio für suizidale Handlungen betrug für die SSRI im Vergleich zu Plazebo 2,0 mit einem 95%-Konfidenzintervall zwischen 1,2 und 3,3. Für vollendete Suizide betrug das Odds-Ratio 3,1 (95%-KI 0,4–23,1). Das Konfidenzintervall für Suizide zeigt an, dass dieser letztere Befund nicht signifikant ist, gleichzeitig muss festgestellt werden, dass SSRI und die älteren Trizyklika sich nicht in ihren Risiken bei Erwachsenen unterscheiden.

Pharmakoepidemiologische Untersuchungen, insbesondere die Arbeit von Olfson et al. [15], ergaben zunächst einen inversen Zusammenhang zwischen regionalen Änderungen der Suizidraten und Änderungen der Verordnung von Antidepressiva. Am 6. Juni 2005 berichtete Olfson dann beim vom National Institute of Mental Health veranstalteten NCDEU-Meeting in Boca Raton/Florida von einer neuen Fall-Kontroll-Studie mit riesigen Versicherungsdatensätzen; dabei fand er im Erwachsenenalter kein erhöhtes Risiko für Suizide unter SSRI, postulierte aber bei Jugendlichen ein erhöhtes Risiko für vollendete Suizide bei Behandlung mit SSRI. Auch Andrew Nierenberg von der Harvard Medical School betonte in seinem Vortrag „Antidepressants and suicide: treatment or cause“, dass sämtliche Daten zu Erwachsenen auch nach der erneuten Analyse der FDA keinen Anlass böten, die vor 15 Jahren schon einmal abgeschlossene Debatte um Aktivierungssyndrome unter SSRI neu zu führen. Julie Zito von der University of Maryland gab in der gleichen Sitzung, die unter der Überschrift: „Wenn klinische Studien und pharmakoepidemiologische Daten scheinbar nicht zusammenpassen: Antidepressive Behandlung und Risiko für Suizide“ stattfand, zu bedenken, dass vollendete Suizide und auch Suizidversuche sehr seltene Ereignisse sind und in klinischen Studien keine primären Endgrößen darstellen. Sie warnte vor einer Überbewertung der pharmakoepidemiologischen Befunde und betonte gleichzeitig, dass es erstaunlich sei, dass es bei den sehr kurz angelegten klinischen Studien überhaupt zu einem Sicherheitssignal bei Kindern und Jugendlichen gekommen sei. Auch sie plädierte dafür, die Risikobewertung bei Kindern und Jugendlichen anders zu sehen als bei Erwachsenen, und nannte hierfür folgende Gründe: In allen Studien zeigte sich ein Altersgradient in Bezug auf die Wirksamkeit, das heißt, die Wirkung von SSRI ist desto weniger sicher zu erwarten, je jünger die in Studien eingeschlossenen Kinder sind. Während im Erwachsenenalter bestimmte Risiken für eine erfolgreiche Behandlung in Kauf genommen werden können, da sie bekannt sind und sich offensichtlich zwischen den Stoffklassen weitgehend nicht unterscheiden, ist im Kindes- und Jugendalter die Situation vor allem deshalb anders, weil weder Trizyklika noch die meisten SSRI in randomisierten Zulassungsstudien in der Behandlung der Depression bei Kindern Plazebo überlegen waren. Dies führt zu einer völlig anderen Risikobewertung als bei einer im Erwachsenenalter nachgewiesenermaßen effektiven Substanz.

Regulatorische Konsequenzen

Ende 2003 wurde in Großbritannien eine Kontraindikation für SSRI im Kindes- und Jugendalter, mit Ausnahme von Fluoxetin, ausgesprochen. Im Oktober 2004 gab die FDA eine schärfste Warnung, eine „Black-Box Warning“, für alle Antidepressiva (z.B. SSRI, SNRI, MAO-Hemmer, Trizyklika) im Kindes- und Jugendalter heraus. In Europa erfolgte, nach einem „Warnschuss“ im Dezember, am 25. April 2005 der generelle Bann von SSRI und SNRI durch die EMEA gemäß einer Empfehlung des Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP).

Ziel dieses Artikels ist es, die nationalen und internationalen Entwicklungen in Bezug auf SSRI bis Mitte 2005 darzustellen. Unter Berücksichtigung der Warnhinweise sowie bisherigen Verschreibungsgewohnheiten in den verschiedenen europäischen Ländern sollen für Deutschland Empfehlungen zur klinischen und arztrechtlichen Handhabung von SSRI im Kindes- und Jugendalter aufgezeigt werden.

Entwicklung der Diskussion um die Gabe von SSRI im Kindes- und Jugendalter

Im Januar 2003 wurde von der FDA Paroxetin für die Indikationen Depression und Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter zugelassen. Im Mai 2003 lag der britischen Zulassungsbehörde Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency (MHRA) ein vertraulicher Bericht über drei Studien vor, in welchen der Gebrauch von Paroxetin bei insgesamt 748 Kindern und Jugendlichen untersucht worden war. Ereignisse, die als suizidale Handlungen zu werten waren, traten in der mit Paroxetin behandelten Gruppe in 3,7% der Fälle, in der Plazebo-behandelten Kontrollgruppe in 2,5% der Fälle auf. Das relative Risiko, eine (para)suizidale Handlung zu begehen, war nicht signifikant erhöht (p=0,50). Wurde nach der initialen medikamentösen Einstellung der auszuwertende Beobachtungszeitraum um 30 Tage, bis zur Wiedervorstellung verlängert, erhöhte sich die Inzidenz von (para)suizidalen Handlungen bei mit Paroxetin behandelten Patienten auf 5,3%, in der Kontrollgruppe auf 2,8%. Das relative Risiko blieb weiterhin nicht signifikant erhöht (p=0,12). Wurden hingegen Daten anderer Studien, welche Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen in die Therapiegruppe mit einschlossen, mit einbezogen, verringerte sich die Inzidenz möglicher suizidaler Handlungen auf 2,4% in der Paroxetin-Gruppe und 1,1% in der Plazebo-Gruppe (p=0,07) beziehungsweise auf 3,4% versus 1,2% bei Einschluss des 30-Tage-Zeitraums bis zur Wiedervorstellung (p=0,01). Die Autoren dieses Berichts folgerten: „Dies bedeutet, dass der möglicherweise protektive Effekt von Paroxetin minimal ist, das unnötige Risiko hingegen 5fach erhöht.“

Von diesem Zeitpunkt an konzentrierte sich die öffentliche Diskussion auf Risiken einer Behandlung mit SSRI-Präparaten, während schlechte Behandlungsergebnisse ohne Medikation mit SSRI oder der fehlende Nachweis einer klinisch zu beobachtenden Behandlungseffizienz nicht thematisiert wurden. Ärzte hingegen betonten die klinische Effektivität und den Nutzen von SSRI aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen. Einige Epidemiologen begannen, die Inzidenz von vollendeten Suiziden seit Einführung der SSRI zu untersuchen, auf der Suche nach einem Beweis für den generellen Nutzen von SSRI-Präparaten [13].

Im Juli 2003 forderte die FDA von Herstellern weiterer acht antidepressiver Medikamente Daten in Bezug auf Suizidalität. Zur gleichen Zeit warnte Wyeth-Pharma Ärzte vor der Verschreibung von Venlafaxin im Kindes- und Jugendalter und bemühte sich aktiv um ein so genanntes „label upgrade“, das heißt den Ausschluss der Zulassung des Medikaments für das Kindes- und Jugendalter. Die britische Zulassungsbehörde MHRA warnte ebenfalls vor dem Einsatz von Venlafaxin. Die FDA erteilte nun der Columbia University einen Untersuchungsauftrag zur Reklassifizierung der vorliegenden, teilweise unvergleichbaren Pharmadaten, um eine erste faire vergleichende Bewertung zu ermöglichen.

Ende des Jahres 2003 erweiterte die britische MHRA ihre Warnung bezüglich antidepressiver Medikation im Kindes- und Jugendalter zu einer Kontraindikation aller SSRI/SNRI-Präparate mit Ausnahme von Fluoxetin. Im März 2004 folgten die FDA und Health Canada mit generellen Warnungen, nachdem eine öffentliche Informationssitzung der FDA stattgefunden hatte (www.fda.gov/cder/drug/antidepressants/default.htm.http://www.fda.gov/cder/drug/antidepressants/default.htm).

Whittington et al. [17] veröffentlichten im Lancet einen ersten systematischen Review publizierter und unpublizierter Daten und stellten dar, „dass aus zwei publizierten Studien gefolgert werden konnte, dass Fluoxetin ein günstiges Risiko-Nutzen-Profil habe, und weitere unpublizierte Daten auch noch dazu beitragen, diese Befunde zu stützen. Publizierte Daten aus einer klinischen Studie mit Paroxetin und aus zwei Studien mit Sertralin hingegen würden nahe legen, dass ähnliche oder schwache Risiko-Nutzen-Profile bestünden. Allerdings zeige sich in beiden Studien, dass letztendlich die Risiken den Nutzen übersteigen, wenn die unpublizierten Daten hinzugefügt würden. Daten nicht publizierter Studien von Venlafaxin und Citalopram zeigen ein ungünstiges Risiko-Nutzen-Profil auf.“

Unvollständige Veröffentlichung?

In verschiedenen Veröffentlichungen wurde dargestellt, dass ein vollständiger Zugang zu Daten positiver und negativer Studien notwendig sei [5, 6, 9, 16].

Im Juni 2004 wurde vom New Yorker Generalstaatsanwalt Elliot Spitzer gegen die in Großbritannien (UK) verortete GlaxoSmithKline Pharma Gesellschaft Anklage aufgrund „wiederholten und andauernden Betrugs durch einseitige Veröffentlichung von positiven Ergebnissen aus Paroxetin-Studien“ erhoben. Im Sommer 2004 kam es in dem Rechtsstreit zu einem Vergleich der beiden Parteien, der eine Zahlung von mehr als 2 Mio. Dollar beinhaltete. Auch kam es seit der öffentlichen Informationssitzung der FDA im Februar 2004 zu Gerüchten, dass die FDA einen kritischen Bericht des Kinder- und Jugendpsychiaters Andy Mosholder zurückgehalten habe, in dem ein zweifach erhöhtes Risiko für suizidale Handlungen unter SSRI-Medikation versus Plazebo beschrieben worden sei. Der US-Kongress begann in Folge mit Ermittlungen gegen die FDA.

Im August 2004 gelangte Dr. Mosholders 33 Seiten langer Bericht an die New York Times sowie das British Medical Journal (BMJ). Von Seiten der FDA wurden daraufhin Nachforschungen angestellt, wer den inoffiziellen Bericht weitergegeben habe. Gleichzeitig wurden im August 2004 die Ergebnisse der Reklassifikationsanalyse durch die Arbeitsgruppe der Columbia University im Internet veröffentlicht. Diese zeigten, dass es sich bei den infrage stehenden Ereignissen oft um Suizidgedanken und selbstverletzendes Verhalten handelte. Die Reklassifikation wurde Grundlage der FDA-Bewertung [19].

Neue Studiendaten

Mitte August 2004 wurde die TADS-Studie (Treatment of adolescents with depression study) im JAMA veröffentlicht. In dieser vom NIMH durchgeführten und mit öffentlichen Mitteln finanzierten randomisierten, kontrollierten klinischen Studie wurden erstmals Medikation, Psychotherapie (CBT) sowie die Kombination von Psychotherapie und Medikation jeweils mit Plazebo-Gabe verglichen. Dargestellt wurde als Resultat, dass mit der Kombinationstherapie (Fluoxetin und CBT) die statistisch signifikant besten Ergebnisse im Vergleich zur Behandlung mit Plazebo erzielt wurden. Ein positiver therapeutischer Effekt zeigte sich in 71% der Fälle. Monotherapie mit Fluoxetin (positiver therapeutischer Effekt in 60,6% der Fälle) war einer Monotherapie mit CBT überlegen, die kaum effektiver war als Plazebo (positiver therapeutischer Effekt mit alleiniger CBT in 43,2%, mit Plazebo in 34,8% der Fälle).

Die 439 teilnehmenden Patienten wurden mit der Diagnose mittlere bis schwere Depression in die Studie aufgenommen (der Gesamtscore der revidierten Children’s Depression Rating Scale [CDRS-R] lag im Durchschnitt bei 76 zu Beginn der Behandlung, eine durchschnittliche depressive Episode dauert 48 Wochen). Suizidale Gedanken und Handlungen zeigten sich zu Beginn bei 29% aller Patienten, eine signifikante Verringerung von suizidalen Gedanken und Handlungen fand sich in allen vier Behandlungsgruppen, die ausgeprägteste Veränderung zeigte sich bei einer Kombinationsbehandlung mit CBT und Fluoxetin. Insbesondere CBT (v.a. wenn mit Fluoxetin augmentiert) zeigte sich besonders effektiv in der Reduktion von suizidalen Gedanken. Sieben Patienten (1,6%) verübten einen Suizidversuch. Wie auch in allen anderen Studien gab es keinen erfolgreichen Suizid.

Die Daten der TADS-Studie zu Fluoxetin versus Plazebo wurden in die FDA-Risikoanalyse mit einbezogen und auf einer zweiten öffentlichen Informationsveranstaltung im September 2004 präsentiert (Abb. 1) und inzwischen publiziert [19].

Abb. 1. Mögliche Zusammenhänge zwischen Antidepressiva und Suizidalität [Daten der FDA, T.-Hammad-Präsentation 13.–14. September 2004]. Dargestellt ist der Risikoquotient für das Entstehen von Suizidalität für Antidepressivum versus Plazebo (alle Studien, alle Indikationen; Auswertung mit dem Fixed-Effects-Modell); MDD = Depression (major depressive disorder), OCD = Zwangsstörung (obsessive-compulsive disorder), SAD = saisonal abhängige Depression, Venlafaxin X = verzögert freisetzende Formulierung von Venlafaxin

Maßnahmen in den USA

Die Mitglieder von zwei involvierten beratenden Komitees (Committee for Psychopharmacologic Drugs sowie das Pediatric Advisory Committee) schlossen, dass das erhöhte Suizidrisiko in klinischen Studien generell alle Antidepressiva betreffe, und empfahlen in Folge, dass die Warnung bezüglich eines erhöhten Suizidrisikos auf alle Antidepressiva ausgeweitet werden sollte, ganz gleich, ob diese in einer Studie untersucht worden seien oder nicht. Eine Patienteninformation sollte entwickelt werden und dann vom Apotheker mit jeder Verschreibung den Kindern und deren Sorgeberechtigten mitgegeben werden. Eine Entscheidung für die Empfehlung einer „Black-Box Warning“ wurde mit fünfzehn Ja-Stimmen und acht Nein-Stimmen getroffen. Eine absolute Kontraindikation, wie in Großbritannien, wurde hingegen nicht empfohlen, da Patienten, die von der Medikation mit Antidepressiva profitieren könnten, einen Zugang dazu behalten sollten. Die Kontroverse über das Für und Wider einer „Black-Box Warning“ wurde im New England Journal of Medicine in Form von Kommentaren der Mitglieder der beratenden Komitees veröffentlicht [3, 14].

Ende September 2004 stellte die American Acadamy of Child and Adolescent Psychiatry (AACAP) nochmals dringlich dar, dass in den bisherigen aktuellen Veröffentlichungen vielmehr die Effektivität von SSRI-Präparaten dargestellt worden sei, das Risiko vermehrter suizidaler Gedanken und Handlungen hingegen in der untersuchten Kohorte von 4400 Patienten nur sehr gering ausgeprägt gewesen sei. Überdies könne durch ein enges Monitoring des Patienten während des ersten Monats einer medikamentösen Einstellung eine weitere Reduktion des Risikos gewährleistet werden. Anstelle einer „Black-Box Warning“ plädierte die AACAP dafür, das Risiko einer Intensivierung suizidaler Gedanken betont unter Nebenwirkungen im Beipackzettel der SSRI-Präparate darzustellen.

Am 15. Oktober 2004 verabschiedete die FDA dennoch eine „Black-Box Warning“ im Beipackzettel, um eine möglichst hohe Sicherheit der mit Antidepressiva behandelten Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten.

Black-Box Warning der FDA (15. Oktober 2004)

Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen

Antidepressiva steigern das Risiko für Suizidgedanken und suizidales Verhalten (Suizidalität) bei Kindern und Jugendlichen, welche an einer depressiven Erkrankung (major depressive disorder) und an anderen psychischen Störungen leiden. Jeder der darüber nachdenkt, [Name des Medikaments] oder jedes andere Antidepressivum bei Kindern oder Jugendlichen anzuwenden, muss eine Kosten-Nutzen-Abwägung hinsichtlich der Risiken und der klinischen Notwendigkeit der Behandlung vornehmen. Patienten, bei denen eine Therapie begonnen wird, sollten engmaschig hinsichtlich einer Verschlechterung, hinsichtlich Suizidalität oder unüblichen Verhaltensveränderungen beobachtet werden. Die Familien und Sorgeberechtigten sollten über die Notwendigkeit engmaschiger Aufsicht und über die Notwendigkeit, mit dem Verschreiber in Kontakt zu bleiben, informiert werden. [Name des Medikaments] ist nicht für die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen zugelassen, mit Ausnahme für Patienten mit [hier alle vorhandenen Kinderzulassungen einer Substanz angeben].

Eine Zusammenfassung der Analysen über 9 Antidepressiva (SSRI und andere) in kurzfristigen, Plazebo-kontrollierten Versuchen 4–6 Wochen) bei Kindern und Jugendlichen mit Depression, Zwangsstörung oder anderen Störungen (insgesamt 24 Studien mit über 4400 Patienten) ergaben, dass ein erhöhtes Risiko unerwünschter Wirkungen wie Suizidgedanken oder suizidales Verhalten in den ersten Monaten bei den Probanden festzustellen ist, welche Antidepressiva erhielten. Das durchschnittliche Risiko solcher Ereignisse unter medikamentöser Behandlung lag bei 4% und war damit doppelt so hoch wie das Plazebo-Risiko, welches bei 2% lag. In den untersuchten Studien gab es keine Suizide.

Reaktionen in Europa

Eine europäische Stellungnahme erfolgte im Dezember 2004 auf Druck der Europäischen Kommission. Diese basierte auf einer europäischen Auswertung im Rahmen des Artikel-31-Verfahrens gegen Paroxetin durch den zuständigen Ausschuss bei der EMEA (CHMP). Bewertet wurden dabei folgende Substanzen: Atomoxetin, Citalopram, Duloxetin, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Mianserin, Milnacipran, Mirtazapin, Paroxetin, Reboxetin, Sertralin und Venlafaxin. Insgesamt wurden 28 randomisierte, Plazebo-kontrollierte Kurzzeitstudien, die den internationalen Zulassungsbehörden vorgelegt worden waren, in die Analyse einbezogen. Eine Rekodierung der Herstellerangaben beziehungsweise eine Einschätzung durch ein unabhängiges Klinikerpanel wie bei der FDA-Auswertung durch die Columbia-Universität erfolgte hier nicht. Dies muss als methodische Schwäche deutlich herausgestellt werden. Insgesamt wurden Herstellerangaben aus 15 Studien bei depressiven Erkrankungen, sieben Studien bei Angststörungen und sechs Studien bei Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen mit insgesamt mehr als 5000 Patienten ausgewertet. Zur Beurteilung des Umfelds wurden des Weiteren epidemiologische Beobachtungsdaten, vorwiegend auf der Basis der britischen General Practice Research Data Base (GPRD) beruhend, und acht Studien aus wissenschaftlichen Publikationen beachtet. Ausgewertet wurden allerdings nur Daten aus Plazebo-kontrollierten Studien, da sonst keine eindeutige Interpretation im Vergleich ohne Medikation möglich war.

Auch in dieser großen Stichprobe trat kein einziger Suizid oder ein anderer Todesfall auf. Nach Angaben der EMEA zeigte sich konsistent ein erhöhtes Risiko suizidalen Verhaltens unter Medikation (suizidale Gedanken und Suizidversuche). Ein solches Risiko fand sich auch, allerdings schwächer, bei Patienten mit Angststörungen, wobei unter diesem Oberbegriff auch Zwangsstörungen subsumiert wurden. Nur bei den Studien zu Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen fand sich überhaupt kein erhöhtes Risiko suizidalen Verhaltens. Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) traf sich daraufhin am 8. Dezember 2004 in einer außerordentlichen Sitzung, um die Situation zu bewerten, und gab am 9. Dezember eine Empfehlung ab, die auch von der deutschen Zulassungsbehörde (BfArM) in deutscher Übersetzung umgehend veröffentlicht wurde. Zunächst wird dort darauf hingewiesen, dass der Einsatz dieser Substanzen für die Behandlung der Depression im Kindes- und Jugendalter „off label“ geschieht, das heißt, dass diese Substanzen für diese Altersstufe nicht zugelassen sind. Auf diesen generellen „Warnschuss“ folgte dann ein „Beinaheverbot“: „These compounds should generally not be used in this age group (children and adolescents) because clinical trials have shown an increased risk with suicidal behaviour such as suicide attempts and suicidal thoughts.“ In der Erklärung der deutschen Zulassungsbehörde lautet die Übersetzung: „Im Allgemeinen sollten diese Substanzen in dieser Altersgruppe nicht angewendet werden, da klinische Studien ein erhöhtes Risiko suizidalen Verhaltens (wie z.B. Selbstmordversuche und Suizidgedanken) gezeigt haben.“ Einschränkend wird dann doch eingeräumt, dass es manchmal aufgrund klinischer Gegebenheiten notwendig sein könnte, Kinder und Jugendliche mit diesen Störungen medikamentös zu behandeln. In solchen Fällen sollte dann aus Sicht der EMEA der Patient bezüglich des Auftretens suizidalen Verhaltens sowie selbstschädigender und feindseliger Verhaltensweisen streng überwacht werden. Dies sei besonders zu Beginn der Behandlung sehr wichtig. Die Behandlung sollte zudem nicht plötzlich durch Patienten oder Eltern abgebrochen werden, ohne vorher den medizinischen Rat des behandelnden Arztes einzuholen, da bei abruptem Absetzen das Risiko von Absetzungserscheinungen wie beispielsweise Schwindel, Schlafstörungen und Angstsymptomen bestehe. Wenn Behandlungen beendet werden sollten, empfehle die EMEA deshalb, die Dosis über mehrere Wochen oder Monate langsam auszuschleichen. Beunruhigten Eltern und Patienten wird geraten, bei nächster Gelegenheit mit dem behandelnden Arzt Kontakt aufzunehmen und über die weitere Behandlung zu beratschlagen.

Die Kommission Entwicklungspsychopharmakologie der drei deutschen Fachgesellschaften wandte sich für die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik sowie für die Bundesarbeitsgemeinschaft der leitenden Ärzte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie an die EMEA und gleichzeitig an das BfArM und protestierte gegen diese generelle Erklärung. In einem Antwortschreiben wies Dr. Brasseur noch einmal darauf hin, dass diese Substanzen „off label“ verordnet würden und dass die EMEA an weiteren Auswertungen und Bewertungen der Situation arbeite. Diese angekündigte abschließende Bewertung erfolgte nach einer erneuten Sitzung des Ausschusses für Humanarzneimittel vom 19. bis 22. April 2005 und wurde nach einem Statement der EMEA vom 25. April 2005 veröffentlicht (doc. Ref. EMEA/CHMP/128918/2005 corr). Dort wird angegeben, dass der Ausschuss SSRI und SNRI hinsichtlich ihres potenziellen Risikos in Bezug auf suizidales Verhalten bei Kindern und Jugendlichen untersucht habe und zu dem Schluss gekommen sei, dass Verhalten, welches mit Suizid in Verbindung stehe (Suizidversuche und Suizidgedanken), und auch Feindseligkeit (vor allem Aggression, oppositionelles Verhalten und Wut) häufiger in klinischen Studien im Vergleich zur Plazebo-Gruppe bei den behandelten Kindern und Jugendlichen, die diese Antidepressiva eingenommen hatten, beobachtet worden sei.

Die EMEA empfahl deshalb, europaweit strenge Warnungen zu verabschieden, die Ärzte und Eltern erreichen sollten. Ärzte und Eltern sollten dahingehend beraten werden, dass diese Produkte bei Kindern und Jugendlichen nur in ihrer zugelassenen Indikation angewandt werden sollten. Zwar wird noch eingeräumt, dass ärztlicherseits bisweilen aufgrund von klinischen Bedürfnissen eine Entscheidung für die Verordnung von SSRI zur Behandlung der Depression bei Angstspektrumsstörungen bei Kindern und Jugendlichen fallen könne. Für solche Ausnahmefälle empfehle der Ausschuss für Humanarzneimittel, die Patienten sorgfältig nachzubetreuen, um das Erscheinen von suizidalem Verhalten, selbstverletzendem Verhalten oder Feindseligkeit vor allem zum Beginn der Behandlung nicht zu übersehen. Erfreulicherweise wird wenigstens abschließend (wie in unserer Intervention auf das Dezember-Statement der EMEA gefordert) darauf hingewiesen, dass laufende Behandlungen nicht abrupt durch Patienten oder Eltern abgebrochen werden sollten, dass ein langsames Absetzen erfolgen müsse, wenn man sich schon für das Absetzen entscheide, und dass Patienten oder Eltern, die sich Sorgen über die Anwendung dieser Produkte machen, sich an ihren behandelnden Arzt wenden sollten.

Dennoch bleibt der generelle Bann von zwei Substanzklassen und der strenge Verweis auf den Zulassungsstatus, mit dem sich nun behandelnde Kliniker auch in Deutschland auseinandersetzen müssen. Am 19. August 2005 hat die Europäische Kommission, wie schon bei der Entscheidung zu Paroxetin, die Empfehlung der EMEA verpflichtend und bindend gemacht, so dass die nationalen Zulassungsbehörden sie definitiv übernehmen werden. Ein entsprechender Bescheid des BfArM erging am 8. September 2005, mit der Verpflichtung an die pharmazeutischen Unternehmer, die Packungsbeilagen zum 1. Dezember 2005 anzupassen. Auch die deutsche Zulassungsbehörde verweist nur auf den Zulassungsstatus und sieht keinen Bedarf, zwischen einzelnen Substanzen zu differenzieren, da keine dieser Substanzen für die Behandlung der Depression bei Kindern und Jugendlichen in Europa zugelassen sei.

Die vorhandenen und publizierten Effektivitätsdaten mindestens zu Fluoxetin oder auch zu Sertralin im Jugendalter werden damit generell in Europa, aber auch hier in Deutschland in den offiziellen Positionen der Zulassungsbehörden negiert. Kliniker sollten sich bei ihren wohl überlegten Entscheidungen für eine SSRI-Therapie mit bestimmten Substanzen, für die im Jugendalter unseres Erachtens nach wie vor mehr spricht als für eine Behandlung mit Trizyklika, auf diese veröffentlichten Ergebnisse, die ja auch für die FDA-Zulassung von Fluoxetin relevant waren, beziehen. Da sich die Zulassungsbehörden offensichtlich hartnäckig auf die offizielle Position des Zulassungsstatus zurückziehen, und da gleichzeitig noch Trizyklika zugelassen sind, obwohl ihre Wirksamkeit für die Indikation Depression im Kindesalter in keiner Studie Evidenz-basiert nachgewiesen wurde, brauchen Kliniker und Praktiker veröffentlichte Expertenmeinungen wie die vorliegende, auf die sie sich bei ihrer rationalen Abwägung in der Praxis stützen können. Deshalb wollen wir im Folgenden klinische Empfehlungen für die Behandlung von depressiven Kindern und Jugendlichen in dieser Situation abgeben.1

1 Der Vorsitzende der Forschungsgruppe (Findling) und der Paediatric Psychopharm Initiative (PPI) (Greenhill) der AACAP baten einen der Autoren dieses Artikels (Fegert) um eine Stellungnahme zu den Konsequenzen der FDA-Analyse in Europa. Zudem sollten Empfehlungen zu klinischen Behandlungsstrategien unter Berücksichtigung der bisherigen Leitlinien der DGKJP während des 51. Jahrestreffens der AACAP ausgesprochen werden [5]. Die Empfehlungen in diesem Artikel basieren auf dieser Präsentation. Diese sind die persönliche Meinung der Autoren und keine offiziellen Aussagen im Rahmen der Tätigkeit von Fegert als Vorsitzender der Kommission für Entwicklungspsychopharmakologie der DGKJP oder anderer Fachgremien und Kommissionen von Zulassungsbehörden.

2 J. M. Zito, PhD, University of Maryland, School of Pharmacy and School of Medicine, L. van den Berg, PhD, H. Tobi, PhD, University of Groningen, Netherlands, K. Janhsen, PhD, University of Bremen, J. F. Gardener, University of Maryland, School of Pharmacy, J. M. Fegert, University of Ulm, Germany

Klinische Empfehlungen für die Behandlung von depressiven Kindern und Jugendlichen

Klinische Empfehlungen für die Behandlung depressiver Kinder und Jugendlicher sollten auf pharmakoepidemiologischen Analysen basieren, welche die Verschreibungsgewohnheiten und Behandlungsrichtlinien der unterschiedlichen Länder mit einbeziehen, da die Möglichkeiten der Versorgung und auch Beobachtung von Nebenwirkungen in den einzelnen europäischen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß gegeben sind. In einigen Ländern wird die Mehrheit depressiver Kinder und Jugendlicher von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten behandelt, in anderen Ländern ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie ein gut etabliertes und entwickeltes Fachgebiet, in dem ausreichend ambulante und stationäre Behandlungsplätze zur Verfügung stehen. Reaktionen von nationalen Zulassungsbehörden sollten demnach die Verschreibungsgewohnheiten und nationalen kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsmöglichkeiten berücksichtigen.

In diesem Zusammenhang untersuchte Julie Zito2 mit einer pharmakoepidemiologischen Forschungsgruppe die Verschreibungsgewohnheiten von SSRI-Präparaten bei Jugendlichen in den Niederlanden, Deutschland und den Vereinigten Staaten und präsentierte die Ergebnisse auf dem Jahrestreffen der Internationalen Vereinigung für Pharmakoepidemiologie in Bordeaux sowie beim IACAPAP-Kongress in Berlin, beide im August 2004. Analysiert wurde eine Kohorte von 72570 niederländischen Probanden, eine Kohorte von 480680 deutschen Probanden und eine Kohorte von 125157 US-Probanden (rekrutiert aus dem Mid-Atlantic State Childrens Health Insurance Programm [S-CHIP]). Eine große Ungleichheit der Verschreibungsgewohnheiten der einzelnen Länder offenbarte sich. Antidepressiva wurden in der US-Kohorte gegenüber der deutschen Kohorte 15-mal häufiger verschrieben und immer noch 3-mal häufiger als in der niederländischen Patientengruppe. In Deutschland und den Niederlanden erhielten vor allem ältere Mädchen im Jugendalter Antidepressiva, während in der US-Kohorte vor allem 5- bis 14-jährige Jungen und Mädchen antidepressive Medikation verschrieben bekamen. Bei der Differenzierung der Verschreibungen in die einzelnen Antidepressiva-Gruppen ergab sich, dass im Kindes- und Jugendalter in Deutschland immer noch die Trizyklika am häufigsten verschrieben werden, während in der US- und der niederländischen Kohorte die SSRI vorherrschend waren. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Frequenz der Verschreibung einzelner Antidepressiva. Paroxetin stellte in der US- und der niederländischen Kohorte ein Viertel aller verschriebenen Antidepressiva dar (27% in den Niederlanden, 24% in den USA), während in Deutschland 45% aller verschriebenen Antidepressiva Imipramin und Amitriptylin waren [4].

Tab. 2. Am häufigsten verschriebene Antidepressiva in einer Stichprobe von antidepressiv behandelten Kindern und Jugendlichen [mod. nach 5]

Rangfolge

Niederlande
(n=390)

Deutschland*
(n=522)

USA (S-CHIP)
(n=2067)

Medikament 1

Paroxetin 27%

Imipramin 32%

Paroxetin 24%

Medikament 2

Amitriptylin 16%

Amitriptylin 13%

Sertralin 23%

Medikament 3

Fluoxetin 14%

Opipramol 12%

Fluoxetin 18%

Medikament 4

Imipramin 14%

Doxepin 11%

Bupropion 18%

Medikament 5

Fluvoxamin 9%

Fluoxetin 7%

Trazodon 7%

>1 Arzneistoff

5,9%

5,4%

21,3%

*Pflanzliche Präparate nicht mit eingeschlossen

Von allen verschriebenen Antidepressiva wurde Fluoxetin hierbei mit einem Anteil von 7% in Deutschland, 14% in den Niederlanden und 18% in der US-Population verordnet. Komedikation war in der US-Kohorte häufig (21,6%), während eine zweifache Medikation in Deutschland und den Niederlanden seltener war (5,4%, 5,9%). Pflanzliche Präparate (Johanniskraut) wurden in diese Studie nicht eingeschlossen, sind aber anderen Studien zufolge in Deutschland das am meisten verordnete Medikament für depressive Störungen im Kindes- und Jugendalter [11, 18]. Aus diesen Daten ließ sich ableiten, dass Änderungen der Verschreibungsgewohnheiten von Paroxetin und Venlafaxin in den USA, den Niederlanden oder Großbritannien ein gesundheitspolitisches Thema darstellen, das hingegen in Deutschland keine so große Rolle spielt, da bisher SSRI noch nicht so häufig verschrieben worden waren.

In den folgenden Empfehlungen wurde versucht, dieses heterogene Verschreibungsprofil mit einzubeziehen.

Empfehlungen für die Behandlung von Depression im Kindes- und Jugendalter

In Bezug auf Sicherheit und Effektivität sind die SSRI-Präparate die am besten untersuchten Medikamente für die Behandlung von depressiven Störungen im Kindes- und Jugendalter. Trizyklische Antidepressiva hingegen haben sich in der Behandlung von depressiven Störungen im Kindes- und Jugendalter als uneffektiv erwiesen. Unter Berücksichtigung der jetzigen Informationslage über SSRI-Präparate sollte bei der Medikation mit SSRI zwischen zwei Situationen unterschieden werden: Fortführung einer bereits bestehenden Medikation und Neubehandlung von depressiven Störungen des Kindes- und Jugendalters.

Eine ausführliche Bewertung und Literaturübersicht geben die NICE-Guideline „Depression in children & young people“ sowie die assoziierten Dokumente (www.nice.org.uk).

Fortführung einer bereits begonnenen Behandlung von Depressionen

Bei Jugendlichen mit Depression, die bisher gut auf die Behandlung mit SSRI angesprochen haben, sollten Eltern und Betroffene ausführlich über die derzeitige Diskussion zur SSRI-Medikation informiert werden. Ebenfalls sollten dabei generelle Informationen über das erhöhte Risiko von suizidalen Handlungen gegeben und die Notwendigkeit einer engen Anbindung an den verschreibenden Arzt vermittelt werden. Zudem ist es wichtig, die Eltern vor einem plötzlichen Absetzen des Medikaments zu warnen, da eine abrupte Beendigung der Medikation ein erhöhtes Risiko für die Patienten darstellt. Zeigte die bisherige Therapie bei ausreichend hoher Dosis keine oder nur geringe positive Effekte, sollten die gleichen generellen Informationen vermittelt werden, dass das bestehende Medikament langsam ausgeschlichen und ein zweites SSRI-Präparat und/oder Psychotherapie als nächstes ausprobiert werden sollte (die TADS-Studie zeigte, dass kognitive Verhaltenstherapie das Risiko von Suizidgedanken verringert und eine gute therapeutische Effektivität hat). Hierbei bleibt aber zu bedenken, dass es in vielen europäischen Ländern nicht ausreichend professionell geschulte Therapeuten gibt, die über Erfahrung in der Kombinationstherapie von sowohl Medikation als auch Psychotherapie verfügen.

Als wichtige universell verwendbare Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie, die zur Reduktion suizidaler Gedanken beitragen, können eine tragfähige therapeutische Beziehung sowie Psychoedukation angesehen und von jedem Kinder- und Jugendpsychiater und Nervenarzt angewendet werden.

Neubehandlungen von depressiven Störungen im Kindes- und Jugendalter

Für eine neu zu beginnende medikamentöse Behandlung depressiver Störungen sind generelle Empfehlungen kaum möglich, da die individuelle Situation einer Familie einbezogen werden muss. Eine zuverlässige elterliche Überwachung der medikamentösen Einstellung zu Hause sollte gewährleistet sein. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sowohl in der TADS-Studie als auch in pharmakologischen Studien der Industrie nur für Fluoxetin durchgehend positive Behandlungseffekte nachgewiesen worden sind, wäre es zu empfehlen, bei Diagnose einer mittelschweren bis schweren depressiven Störung des Kindes- oder Jugendalters eine Neueinstellung mit Fluoxetin durchzuführen, und zwar in einer Dosis von anfangs 10 mg/d, die nach einer Woche auf 20 mg/d und falls nötig in der achten Woche auf bis zu 40 mg/d erhöht werden kann. Bei leichten oder mittleren depressiven Episoden wäre alleinige Psychotherapie und Psychoedukation angemessen. Bei mittelschweren bis schweren depressiven Episoden sollte die Pharmakotherapie mit psychotherapeutischen Interventionen kombiniert werden. Wenn möglich sollten kognitive Verhaltenstherapie und Medikation mit Fluoxetin durch denselben erfahrenen Kinder- und Jugendpsychiater erfolgen, da eine notwendige regelmäßige Kontrolle der medikamentösen Einstellung und des psychopathologischen Befunds so am leichtesten stattfinden kann.

Vor Behandlungsbeginn sollten der/die Betroffene und seine/ihre Eltern über relative Risiken und Vorteile der vorgeschlagenen Therapie aufgeklärt werden, wobei auch die Risiken einer unbehandelten Depression dargestellt werden sollten. Falls eine genauere Überwachung – aufgrund von hoch einzuschätzender Suizidalität – erforderlich scheint, sollte zu einer stationären Behandlung geraten werden. Falls kein Konsens über therapeutische Interventionen erlangt werden kann, ohne Therapie aber ein hohes Suizidrisiko erkennbar ist, sollte im Interesse des Kindes oder Jugendlichen eine gerichtliche Unterbringung, entsprechend dem Unterbringungsrecht oder besser auf Antrag der Sorgeberechtigten nach §1631b BGB, eingeleitet werden, um eine notwenige eventuell lebensrettende Behandlung zu ermöglichen.

Bei allen bisherigen Studien wurden Patienten mit akuter Suizidalität zum Zeitpunkt der Aufnahme und somit einem hohen Suizidrisiko ausgeschlossen. Eine bereits laufende Studie des NIMH wird in den nächsten Jahren auch für diese Patienten empirische Daten liefern. Man kann die bisherigen Daten, welche zumeist bei ambulanten Patienten mit mittelschweren depressiven Störungen erhoben wurden, nur schwer auf diese Gruppe der Hochrisikopatienten mit multiplen komorbiden Störungen übertragen. Ein Research Workshop am NIMH (6. bis 7. Februar 2006) hat eine Übersicht über notwendige zukünftige Forschungsanstrengungen gegeben (www.nimh.nih.gov/scientificmeetings/pastevents.cfm).

Insgesamt sollten Patienten und Eltern über mögliche Nebenwirkungen und die Wichtigkeit der Beobachtung möglicher unerwünschter Veränderungen aufgeklärt werden. Eine ausreichende Frequenz von Arztkontakten und die Möglichkeit zusätzlicher telefonischer Kontakte, falls Nebenwirkungen auftreten, sollte sichergestellt werden. Gleichzeitig sollte den Eltern aber auch dargelegt werden, dass weder unter stationären Bedingungen noch im ambulanten Rahmen eine 100%ige Kontrolle und damit auch Ausschluss von Suizidalität gewährleistet werden kann. Es ist wichtig, die Ergebnisse der FDA-Studie den Eltern so zu erklären, dass diese die Fakten verstehen können und so aktiv in der Lage sind, gemeinsam mit dem behandelnden Therapeuten über das Behandlungsregime zu entscheiden.

Eine Empfehlung für eine weitere Gabe von SSRI, vor allem Fluoxetin, lässt sich aus dem Risiko-Nutzen-Verhältnis, das sich in den vorliegenden Studien darstellt, herleiten. Die FDA-Analyse ergab, dass neben den suizidalen Gedanken und Handlungen aufgrund der zugrunde liegenden Depression zusätzlich 2% der Patienten, die mit SSRI behandelt werden, suizidale Gedanken und/oder selbstverletzendes Verhalten entwickeln. Mit anderen Worten: Von 100 Patienten mit leichter bis mittelschwerer Depression, die mit SSRI behandelt werden, sind bei drei Kindern und/oder Jugendlichen vermehrt suizidale Gedanken und/oder selbstverletzende Verhaltensweisen zu beobachten. Bei einem dieser symptomatischen Patienten sind die vermehrten suizidalen Gedanken ursächlich in der depressiven Störung anzusiedeln, während die anderen zwei Patienten suizidale Gedanken oder selbstverletzende Verhaltensweisen aufgrund der Medikation entwickeln. Legt man die Ergebnisse der TADS-Studie zugrunde (60% positive Behandlungsergebnisse in der Fluoxetin-Gruppe und etwa ein Drittel in der Plazebo-Kontrollgruppe), könnte man schließen, dass von drei behandelten Patienten einer insuffizient auf die Medikation mit Fluoxetin reagiert, einer aufgrund eines Plazebo-Effekts eine positive Reaktion zeigt und einer aufgrund der effektiven Medikation mit Fluoxetin eine deutliche Besserung der Symptomatik zeigt. Das bedeutet, dass ein Arzt in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit leichten bis mittelschweren depressiven Störungen mindestens drei Patienten mit Fluoxetin behandeln muss, um mindestens bei einem einen positiven Effekt aufgrund der Medikation mit Fluoxetin zu erzielen, während er mindestens 50 Patienten behandeln müsste, um bei einem Patienten suizidale Gedanken und/oder selbstverletzendes Verhalten aufgrund der Medikation aufzufinden.

Nach einer langen Diskussion derAACAP-Forschungsarbeitsgruppe und der pädiatrischen Psychopharmako-Initiative beschlossen die Mitglieder dieser beiden Komitees, dass das Risiko-Nutzen-Verhältnis für die SSRI-Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit depressiven Störungen vertretbar sei. Falls nach zehn Wochen kein suffizienter Behandlungserfolg nachweisbar ist, sich die depressive Symptomatik eher verschlechtert oder akute Suizidalität auftritt, sollte die Medikation mit SSRI langsam ausgeschlichen werden, ein abrupter Stopp sollte vermieden werden (insbesondere bei anderen SSRI als Fluoxetin, die ein anderes pharmakokinetisches Profil besitzen). Zeigte die bisherige Therapie bei ausreichend hoher Dosis keine oder nur geringe positive Effekte, sollte eine bestehende Psychotherapie fortgesetzt und nach langsamem Absetzen des ersten SSRI-Präparats ein zweites SSRI-Präparat ausprobiert werden. Auf der Basis der vorliegenden Studien wären Sertralin und Citalopram/Escitalopram alternative Mittel der zweiten Wahl vor allem bei Jugendlichen. Hingegen sollten Paroxetin und Venlafaxin angesichts der öffentlichen Warnungen nicht mehr im Kindes- und Jugendalter verschrieben werden.

(Überarbeitete AACAP Practice Parameters werden derzeit abgestimmt und sollen noch in der ersten Jahreshälfte 2006 publiziert werden.)

Solange es noch keine europäische Zulassung für die Anwendung von Fluoxetin bei depressiven Störungen von Kindern und Jugendlichen gibt, müssen Eltern weiterhin über die Tatsache des Off-Label-Use im Sinne eines individuellen Heilversuchs aufgeklärt sowie über die Gründe für den Vorschlag der Behandlung mit Fluoxetin informiert werden. Unter anderem sollte auch begründet werden, warum diese Medikation vorgeschlagen wird, anstelle von anderen nicht zugelassenen Medikamenten beziehungsweise – in einigen Ländern – von älteren, nicht so effektiven, aber zugelassenen Medikamenten.

Da die Pharmakokinetik und -dynamik vieler SSRI im Kindes- und Jugendalter wenig untersucht ist und die wenigen Daten teilweise erhebliche Abweichungen von Daten im Erwachsenenalter zeigen, ist generell zu einem therapeutischen Drug-Monitoring zu raten [8]. Insbesondere bei Paroxetin ist wegen Polymorphismen im Cytochromsystem mit erheblichen individuellen Unterschieden zu rechnen. Doch auch Citalopram und Escitalopram werden bei Jugendlichen generell schneller verstoffwechselt.

Politische Konsequenzen

Die Diskussion über Kontraindikationen (Großbritannien), „Black-Box Warning“ (USA), Stellungnahme und Zulassungsänderung (EMEA), unterschiedliche Formen der Warnungen bezüglich der Anwendung von SSRI-Präparaten sowie Restriktionen der Verschreibungen von SSRI hatte viele politische Nebenwirkungen und hat Patienten, Eltern und Ärzte verwirrt. So stellt sich zurzeit bei der Behandlung von depressiven Störungen bei den meisten der bekannten SSRI ein gering erhöhtes Risiko bezüglich suizidaler Gedanken und Handlungen, aber auch eine noch unklare Aussage über die Effizienz dar. Es gab bisher keine methodisch der Reklassifizierungs-Studie der FDA gleichende Untersuchung, anhand derer durch vergleichende Bewertung mehrerer Studien die Effektivität von SSRI beweisbar wäre, so dass wir lediglich das Risiko der SSRI kennen, aber nicht wissen, ob es einen generellen positiven Trend bezüglich ihrer Effektivität gibt. Viele Patienten reagierten verunsichert auf die ausgesprochenen Warnungen und verstanden nicht die zugrunde liegenden Fakten, welche zum Setzen des Risikosignals geführt hatten. Ein möglicherweise aus diesen Informationen resultierendes Absetzen einer klinisch effektiven Medikation könnte so zu einem ungewollt hohen Risiko führen.

Fehlende Transparenz von Forschungsergebnissen hat so die Glaubwürdigkeit von Ärzten und Industrie in Frage gestellt und es ist notwendig, dass die europäischen Fachverbände eine Strategie entwickeln, die eine Transparenz von Forschungsergebnissen sicherstellt, so dass die Kinder und Jugendlichen auch weiterhin von neuen Ergebnissen von Studien profitieren können. Es wird erforderlich sein, so wie in den Vereinigten Staaten auch in Europa Sponsoren unabhängig von der Industrie zu finden. Studien, die Psychotherapie oder psychosoziale Interventionen in Kombination mit Medikation oder auch allein die Effizienz von Psychotherapie untersuchen, werden meist nicht von der Pharmaindustrie finanziell unterstützt [14]. Insgesamt kann beklagt werden, dass die Studienlage zu psychotherapeutischen Interventionen bei diesem Indikationsgebiet auch nicht überzeugend ist. Die TADS-Studie stellt die bisherigen Ergebnisse zur Verhaltenstherapie sogar in Frage [vgl. 2]. Risiken und Nebenwirkungen wie beispielsweise Suizidalität werden in Psychotherapie-Studien generell nicht untersucht. Auch dies ist unhaltbar.

Wir benötigen ein besseres Verständnis für die Berührungspunkte zwischen Studien, die von der Pharmaindustrie gesponsert werden, und Studien, die durch öffentliche Mittel finanziert werden, so dass Möglichkeiten der Integration und Zusammenarbeit in der Forschung zwischen pädiatrischer Psychopharmakologie-Forschung und Psychotherapie-Forschung entstehen können. Gemäß europäischen Bestimmungen und nationalem Recht vieler europäischer Länder ist ein entstehender Gruppennutzen das einzige ethische Prinzip, welches Forschung an Kindern und Jugendlichen rechtfertigt und somit auch gesetzlich erlaubt. Schon allein aus diesem Grund ist es notwendig, alle Daten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Kinder- und Jugendlichenpsychiater sollten keine Verträge mit der Pharmaindustrie unterzeichnen, die ein volles oder auch Teil-Vetorecht bezüglich der Publikation der Ergebnisse den Pharmafirmen zugestehen. Die Tatsache, dass sich die Herausgeber der besten wissenschaftlichen Journals nun geeinigt haben, die Publikation solcher Studien nicht mehr zu akzeptieren, sowie die Einsicht der Industrie, dass solche Verträge für sie selbst rufschädigend sind, haben hier erfreulicherweise extrem schnell zu einem Wechsel der Rahmenbedingungen geführt. Neue Langzeitstudien zur Effektivität und Sicherheit von psychopharmakologischen Behandlungen im Kindes- und Jugendalter sind dringend erforderlich. Ein besserer Informationsfluss zu den Eltern und Patienten, Allgemeinmedizinern, Pädiatern, Spezialisten und den Medien ist notwendig. Auch wäre es erforderlich, dass die europäischen Fachgesellschaften als Reaktion auf die bestehende Situation spezielle Internet-Seiten zur Verfügung stellen, auf denen die Fakten, ähnlich wie auf der Internet-Seite der American Academy „facts for families“, aufbereitet werden und somit jedem zur Verfügung stehen.

Schlussfolgerungen

An der rechtlichen Situation, das heißt der Möglichkeit der Off-Label-Verordnung von SSRI an Kinder und Jugendliche im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit, hat sich grundsätzlich nichts geändert. Auch weiterhin sind bei gründlicher Abwägung der individuellen klinischen Ausgangslage medikamentöse Behandlungsansätze bei einer schweren Depressionen im Kindes- und Jugendalter im Rahmen eines individuellen Heilversuchs möglich. Allerdings ist aufgrund der zahlreichen veröffentlichten Warnhinweise die Notwendigkeit für eine detaillierte Information der Patienten und ihrer Angehörigen durch den Arzt gestiegen. Die Warnhinweise insbesondere der europäischen Zulassungsbehörde können bei einer Verordnung nicht einfach übergangen werden.

Die aufgezeigten Risiken einer Behandlung mit SSRI sollten nicht nur unter dem Aspekt des Risikos diskutiert werden, sondern auch unter Einbezug des differenzierten Risiko-Nutzen-Verhältnisses für unterschiedliche Indikationen. Der mögliche Nutzen von SSRI-Präparaten in der Behandlung von Zwangsstörungen, Angststörungen oder PTBS ist oder könnte viel höher sein als in der Behandlung von depressiven Störungen. Dieses sind Indikationen (mit Ausnahme der PTBS), bei denen laut vorliegenden Studien, suizidale Gedanken und/oder selbstverletzendes Verhalten in einer geringeren Frequenz aufgetreten sind, allerdings war eine leichte Erhöhung dieser Verhaltensweisen auch hier in den behandelten Gruppen nachweisbar. Eine statistisch signifikante Aussage bezüglich einer ausreichenden Sicherheit der Medikation mit SSRI-Präparaten ließ sich für keinen der Indikationsbereiche einzeln erzielen, sondern gelang nur bei der Zusammenfassung aller Daten verschiedener Studien, welche SSRI-Medikation bei depressiven Störungen, aber auch bei anderen Indikationen mit einschlossen. Trotzdem sollte bei einer klinischen Entscheidung immer der mögliche Nutzen gegenüber den bekannten Risiken abgewogen werden. Aus diesem Grund ist beispielsweise das relativ geringe Risiko für suizidale Gedanken von Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörungen, im Vergleich zu der hohen Effektivität von SSRI-Präparaten bei Zwangsstörungen, akzeptabel. Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten sollten Patienten und Eltern über diese basalen Prinzipien der Entscheidungsfindung in der Therapie von Kindern und Jugendlichen aufklären. Fluvoxamin ist in Deutschland für die Behandlung von Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen zugelassen und wird deshalb bei dieser Indikation nicht „off label“ eingesetzt.

Es gibt keine einfachen Antworten in komplexen Situationen. Eine effektive Gruppe von Medikamenten aus Behandlungsregimen generell auszuschließen, birgt letztendlich ein höheres Risiko für Patienten und Ärzte und bringt uns zurück in die, den meisten Ländern Europas, bekannte Situation der 80er und frühen 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, in denen Langzeit-Therapien ohne nachgewiesene Wirksamkeit durchgeführt wurden, oder aber kein suffizienter Zugang für Kinder und Jugendliche zu einer angemessenen Therapie ihrer psychiatrischen Störungen bestand. Die Diskussion um die SSRI pointiert, dass wir nicht noch mehr ideologische Kontroversen und Verschwörungstheorien zur pharmakologischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen benötigen, sondern dass mehr Forschung über die Effizienz von pharmakologischen Behandlungen im Kindes- und Jugendalter vonnöten ist, um ausgewogene Behandlungsrichtlinien zu entwickeln, die auf fundierter wissenschaftlicher Basis entstanden sind.

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Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Steinhövelstraße 5, 89075 Ulm, E-Mail: joerg.fegert@medizin.uni-ulm.de
Dr. Katrin Janhsen, Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS), Abteilung für Sozialmedizin und Arzneimittelepidemiologie, Außer der Schleifmühle 35–37, 28203 Bremen, 
Dr. med. Isabel Böge, Zentrum für Psychiatrie die Weissenau, Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Weingartshofer Straße 2, 88214 Ravensburg, E-Mail: Isabel.Boege@ZfP-Weissenau.de

Drug therapy of depression in childhood and adolescence. What to do in face of multiple warning against SSRI and SNRI?

The current debate on SSRI use is based on a reanalysis of all controlled trials involving children and adolescents done by the FDA. Based on these data the FDA decided to issue a black box warning, concerning all antidepressant treatments for children and adolescents (SSRI, tricyclics, SNRI, MAO inhibitors and other medications). The British agency MHRA issued a contraindication concerning all SSRIs except fluoxetine.

The European agency EMEA issued a general warning regarding the use of SSRIs and other new antidepressant agents such as SNRI for nearly all indications in child and adolescent psychiatry, e.g. obsessive compulsive disorder, panic disorder and PTSD. The only disorder explicitly excluded from the warning was ADHD. In order to be able to give this recommendation the EMEA reviewed data from placebo controlled randomized clinical trials as well as several observational studies. More than 5,000 patients were evaluated. The Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP) concluded at its 19–22 April 2005 meeting that SSRI and SNRI should not be used in children and adolescents except in their approved indications (EMEA 25. April 2005 doc. Ref. EMEA/CHMP/128918/2005 corr). The current paper revises the development of that crisis and gives some interpretation about the risk benefit relation of antidepressant treatments under these conditions. Clinical recommendations for continuation and initiation of treatment are given.

Keywords: SSRI, SNRI, suicidal behaviour, depression

Psychopharmakotherapie 2006; 13(03)