Johanniskraut – eine Evidenz-basierte Alternative in der Behandlung kindlicher und juveniler Depressionen?


Indikationen, Wirkung, Evidenz und Verschreibungspraxis

Michael Kölch, Ulm, Reinhild Bücheler, Tübingen, Jörg M. Fegert, Ulm, und Christoph H. Gleiter, Tübingen

Die Psychopharmakotherapie der depressiven Störungen im Kindes- und Jugendalter zeigt sich insbesondere seit den neuen Erkenntnissen zu den Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) bei Minderjährigen als schwierig. Nachdem das Risiko-Nutzen-Profil bei den meisten SSRI für Minderjährige ungünstig ausfällt, sind Alternativen zu diesen Medikamenten gewünscht. Johanniskraut/St. John’s Wort ist auch für die Behandlung von Minderjährigen ab 12 Jahren zugelassen und könnte eine solche Alternative darstellen. Im Folgenden werden Indikationen, publizierte Studien und die Verbreitung des Johanniskraut-Gebrauchs bei Minderjährigen dargestellt. Anhand einer Krankenversicherungsstichprobe wurde untersucht, welche Relevanz Johanniskraut-Verschreibungen im Kindes- und Jugendalter besitzen. Es gibt kaum durch klinische Studien belegte Wirksamkeitsnachweise für das Kindes- und Jugendalter, ebenso wenig Studien zu Nebenwirkungen und Risiken. In der Verschreibungspraxis zeigt sich ein kleiner, aber relevanter Off-Label-Use von Johanniskraut, auch von zusammengesetzten Präparaten. Diese bergen die Gefahr von mehr Nebenwirkungen und werden auch für sehr kleine Kinder verschrieben. Nach Datenlage stellt Johanniskraut keine Evidenz-basierte Therapieoption bei Depressionen im Kindes- und Jugendalter dar.
Schlüsselwörter: Johanniskraut, medikamentöse Therapie der depressiven Störungen bei Minderjährigen, Off-Label-Use, Phytopharmaka, Verschreibungspraxis
Psychopharmakotherapie 2006;13:95–9.

Phytopharmaka wie Johanniskraut erfreuen sich bei Patienten hoher Beliebtheit, ihr Gebrauch ist weit verbreitet [10]. 45% der psychiatrischen Patienten, insbesondere Patienten mit depressiven Störungen, nutzen alternative Therapiemethoden, am häufigsten Phytopharmaka [27, 28]. Die Phytopharmaka gelten als „natürliche“ Heilmittel, die – in den Augen der Patienten und ihrer Angehörigen – eine scheinbar nebenwirkungs-/gefahrlose Alternative zu der Behandlung der Depression mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) oder Tri- und Tetrazyklika suggerieren [1, 55]. Als Stimmungsaufheller sind manche Johanniskraut-Präparate in Drogerien frei verkäuflich. Ärzte stehen dem Einsatz von Phytopharmaka positiv gegenüber, und verordnen diese auch Minderjährigen [13]. Die Verordnungen von Phytopharmaka durch Kinder- und Jugendärzte verzeichneten in der Altersgruppe bis 12 Jahre 2004 im Vergleich zum Vorjahr keinen Rückgang, anders als bei allen anderen Facharzt- und Altersgruppen [33]. Nicht zuletzt beim GKV-Modernisierungsgesetz zeigte sich die Bedeutung dieser Arzneimittel in Deutschland, da sie für Kinder bis 12 Jahre nicht aus der Kostenerstattung herausgenommen wurden [4]. Crowe & Lions fanden bei 16,6% der in Notaufnahmen vorgestellten Kinder und Jugendlichen einen aktuellen oder früheren Phytopharmaka-Gebrauch, darunter auch den Gebrauch von Johanniskraut-Präparaten [8].

Für die Therapie depressiver Störungen im Erwachsenenalter sind antidepressive Medikamente unverzichtbar. Bei Erwachsenen kann auf ein breites Spektrum von Antidepressiva unterschiedlicher Wirkstoffgruppen zurückgegriffen werden [32, 42]. Auch im Kindes- und Jugendalter treten affektive Störungen auf, es werden Prävalenzzahlen bis zu 8% bei Jugendlichen und 2% bei Kindern genannt [47, 48]. Eine Evidenz-basierte medikamentöse Therapie der affektiven Störungen bei Minderjährigen gestaltet sich deutlich schwieriger als bei Erwachsenen, da kaum zugelassene Medikamente zur Verfügung stehen. Nur tri- und tetrazyklische Antidepressiva sowie Johanniskraut-Produkte sind für die Behandlung von Minderjährigen zugelassen [42]. Für tri- und tetrazyklische Antidepressiva ist die antidepressive Wirkung bei Minderjährigen nicht belegt [21]. Die SSRI sind nicht für die Behandlung von depressiven Erkrankungen bei Minderjährigen zugelassen, sondern nur für den Einsatz in der Behandlung von Zwängen und Angsterkrankungen. Der Einsatz im Rahmen einer antidepressiven Therapie erfolgt also „off label“ im Rahmen von individuellen Heilversuchen. Zudem müssen die meisten SSRI – bis auf Fluoxetin – nach den neueren Forschungsergebnissen in ihrer Wirksamkeit bei Minderjährigen angezweifelt werden [49, 54]. Auch ihr Risikoprofil erscheint nach neueren Untersuchungen deutlich ungünstiger [54]. Möglicherweise treten bei Minderjährigen unter SSRI-Therapie verstärkt suizidale Ideationen auf, weshalb die Therapie nur unter sorgfältiger Abwägung und Überwachung stattfinden sollte [16, 25, 52].

Seit neuestem besitzen einige Lithiumpräparate die Zulassung zur Rezidivprophylaxe und zur Behandlung der akuten Manie bei Minderjährigen, nicht jedoch zur Behandlung der depressiven Episode [42].

Medikamentöse Therapieoptionen für depressive Erkrankungen bei Minderjährigen sind deshalb dringlich. Johanniskraut als für diese Altersgruppe zugelassene Substanz könnte eine solche Alternative darstellen. Im Folgenden werden die Indikationen sowie die Evidenz für die Wirkung bei Minderjährigen und den Wirkungsmechanismus von Johanniskraut dargestellt. Inwieweit dieses Pharmakon tatsächlich an Minderjährige verschrieben wird, wurde anhand einer Analyse der Verschreibungen zulasten der AOK Baden-Württemberg untersucht.

Zulassung und Leitlinien für den Einsatz von Johanniskraut

Unter den antidepressiven Phytopharmaka spielt Johanniskraut die überragende Rolle. Die meisten Johanniskraut-Präparate sind in Deutschland zugelassene Arzneimittel. Nach der Roten Liste sind unter „pflanzlichen Psychopharmaka“ insgesamt 39 Präparate als Einzelstoffe, und zwei Präparate als Kombinationen zugelassen. Als „Anxiolytika“ sind nochmals zwei Kombinationspräparate zugelassen; ein Präparat firmiert unter „andere pflanzliche Psychopharmaka“ [42]. Auch für den Gebrauch bei Minderjährigen sind Präparate zugelassen. Die Zulassung bei diesen Johanniskraut-Präparaten gilt für Patienten über 12 Jahre. Als Indikation werden in der Roten Liste genannt: „depressive Verstimmungszustände“, „psychovegetative Störungen“, „leichte, vorübergehende depressive Störungen“ und „Angst und/oder nervöse Unruhe“ [42]. Wie ersichtlich ist, decken sich diese Indikationen nicht mit der kinder- und jugendpsychiatrischen Klassifikation nach ICD-10, sondern benennen Symptomkomplexe. Nur bei einigen Präparaten werden explizit analog der Terminologie des ICD-10 als Indikationen „leichte und mittelschwere depressive Episoden“ benannt.

Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und Psychosomatik (DGKJP) benennen Johanniskraut als Therapieoption bei depressiven Störungen [11, 12]. Sowohl in der Leitlinie „Depressive Episoden und rezidivierende depressive Störungen (F32, F33)“ als auch in der Leitlinie „Anhaltende affektive Störungen (F34)“ der DGKJP (beide jeweils Stand Februar 1999 und revidierte Fassung Stand Mai 2003) wird Johanniskraut als mögliche Behandlungsoption aufgeführt, wenngleich in den Leitlinien von 2003 der Evidenzgrad mit 5 angegeben wird [11, 12]. Der Einsatz von Johanniskraut wäre demnach – auf niedrigstem Evidenzniveau – leitlinienkonform.

Evidenz für die Wirkung von Johanniskraut

Die Datenlage in Bezug auf Studienanzahl und -ergebnisse zu Indikation, Wirkung, Nebenwirkungen und Sicherheit von Johanniskraut bei Minderjährigen wurde mit einer Literaturrecherche erfasst. Dazu wurde die Medline-Datenbank der Jahre 1950 bis einschließlich 2005 benutzt. Die Suche richtete sich auf Artikel, die Hypericin, Johanniskraut oder Hyperforin und Minderjährige zum Inhalt haben. Insgesamt wurden unter der Stichwortsuche „(hyperic*) and (child*)“ 20 Ergebnisse aufgeführt, die Suche mit „(hyperfor*) and (child*)“ ergab zwei Ergebnisse, die bereits in der Suche unter „(hyperic*) and (child*)“ enthalten waren.

Von den 20 Publikationen haben 11 Artikel einen relevanten Bezug zum Einsatz von Johanniskraut bei Kindern. Neun Artikel haben keinen Bezug zu Minderjährigen [2, 13, 18, 19, 29, 30, 36, 38, 39]. Bei den Publikationen mit Bezug zu Minderjährigen handelt es sich um Reviews zu antidepressiver Therapie allgemein [15, 22], in denen Johanniskraut als Therapieoption bei Minderjährigen Erwähnung findet, oder um Artikel zu epidemiologische Daten zum Gebrauch von Phytopharmaka [6, 51]. In einigen Artikeln wird über Johanniskraut-Medikation bei otologischen oder dermatologischen Indikationen berichtet [43–46]. In einem Artikel geht es um die Interaktion von Anti-HIV-Therapien mit Johanniskraut-Medikation bei Erwachsenen und Kindern [9]. Lediglich in zwei Artikeln wird über klinische Studien zu Johanniskraut-Medikation bei Minderjährigen mit affektiven Störungen berichtet [17, 23].

Findling et al. führten eine achtwöchige prospektive Studie mit ambulant behandelten Minderjährigen zwischen 6 und 16 Jahren (n = 33) durch, deren Symptomatik die Kriterien für eine Major Depression nach DSM-IV erfüllte [17]. 22 Minderjährige wurden während der Studie auf 900 mg Johanniskraut-Extrakt pro Tag aufdosiert. Die Nebenwirkungsrate war gering. Nach acht Wochen erfüllten 25 Minderjährige die Kriterien für einen Therapieerfolg. Findling et al. folgerten daraus, dass Johanniskraut eine effektive Behandlungsmöglichkeit auch bei Minderjährigen sein könnte. Huebner et al. behandelten 101 Minderjährige unter 12 Jahren im Rahmen einer Anwendungsbeobachtung zwischen vier und sechs Wochen mit Johanniskraut-Extrakt [23]. Bei den Kindern lag eine leichte bis mittlere Depression vor. Die Dosis betrug zwischen 300 und 1 800 mg pro Tag. Als Rater für den Therapieerfolg fungierten die niedergelassenen Behandler, die bei 72% der Behandelten nach zwei Wochen einen „hervorragenden“ oder „guten“ Effekt von Johanniskraut feststellten. Nach sechs Wochen war bei 100% der Behandelten der Effekt nach Einschätzung der Ärzte „gut“ oder „hervorragend“. Jedoch haben nur 76% der Patienten die Anwendungsbeobachtung beendet.

Evidenz zu Arzneimittelsicherheit/Nebenwirkungen

Unter diesen Aspekten wurde nach Literatur zu Johanniskraut und Nebenwirkungen beziehungsweise Toxizität recherchiert. Die Suche unter den Suchtermini „(hyperic*) and (child*) and (tox*)“ ergab drei Fundstellen [9, 15, 30], die Suche unter „(St. John’s wort) and (child*) and (tox*)“ zwei, die ebenfalls bereits unter der Suche „(hyperic*) and (child*)“ gefunden wurden.

Die Suche unter „(hyperic*) and (tox*)“ ergab 105 Fundstellen, die Suche unter „(St. John’s wort) and (tox*)“ hatte 14 Ergebnisse. Keiner der gefundenen Artikel bezieht sich auf den direkten Gebrauch der Substanz durch Minderjährige. In einem Beitrag werden die möglichen teratogenen Auswirkungen einer pränatalen Johanniskraut-Gabe, insbesondere auf das ZNS, untersucht [40]. Eine Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass bei der derzeitigen geringen Datenlage Johanniskraut nicht als gefahrlose Medikation während der Schwangerschaft empfohlen werden kann [19].

Wirkstoffbeschreibung

Johanniskraut beinhaltet verschiedenste pharmakoaktive Substanzen, unter anderen Phenylpropane, Flavonol-Derivate, Biflavone, Proanthocyanidine, Xanthone, Phlorogucinole, Aminosäuren, Chinone, essenzielle Fettsäuren [37]. Die eigentlich psychoaktive Substanz ist nicht eindeutig identifiziert. Am wahrscheinlichsten beruht die antidepressive Wirkung auf den Hypericum-Bestandteilen Hypericin und/oder Hyperforin sowie den Flavonoiden [7].

In vitro wurde eine Wiederaufnahmehemmung von Norepinephrin, Serotonin (5-HT) und Dopamin durch Johanniskraut-Extrakt gefunden, des Weiteren eine signifikante Affinität von Johanniskraut zu GABAA- und GABAB-Rezeptoren, Adenosin- und Glutamatrezeptoren [5]. In-vivo-Experimente zeigten eine Down-Regulation von beta-adrenergen Rezeptoren und eine Up-Regulation von 5-HT1A- und 5-HT2A-Rezeptoren [20]. Der Wirkungsmechanismus ist damit noch nicht aufgeklärt.

Nebenwirkungen und Arzneimittelinteraktionen

Generell gilt die Verträglichkeit von Johanniskrautextrakt als besser als die aller anderen Antidepressiva. Nebenwirkungen treten bei 1 bis 3% der behandelten Personen auf, meist handelt es sich um gastroenterologische Symptome wie Übelkeit, Erbrechen und Obstipation oder Diarrhö, sehr selten auch um eine erhöhte Sensibilität bei Sonnenlicht-Exposition, die nicht vom Plasmaspiegel abhängig zu sein scheint [20]. Findling und Huebner berichteten in ihren Studien mit Minderjährigen über eine gute Verträglichkeit, jedoch ist aufgrund der kleinen Studienpopulationen die Aussagefähigkeit eingeschränkt [17, 23]. Aufgrund der fehlenden klinischen Prüfungen sind für Kinder und Jugendliche keine fundierten Aussagen über das Nebenwirkungsprofil zu treffen. Die Behandlungsdauer in den Studien mit Erwachsenen war zwischen vier und zwölf Wochen [31], bei den beiden Studien mit Minderjährigen vier bis sechs beziehungsweise acht Wochen [17, 23]. Weder für Erwachsene noch für Minderjährige sind Daten über Wirksamkeit und Verträglichkeit bei Langzeitbehandlungen veröffentlicht.

Johanniskraut zeigt ein gewisses Interaktionspotenzial mit anderen Pharmaka [35]. Diese Interaktion wird über Induktion der Cytochrom-P450-Isoenzyme, vor allem CYP3A4, aber auch CYP1A2 und von P-Glykoprotein, vermittelt [41]. Johanniskraut kann zu Veränderungen der Plasmakonzentrationen anderer Pharmaka führen, wie dies für Phenprocoumon, Ciclosporin, aber auch für Antidepressiva nachgewiesen wurde [34]. Bei gleichzeitiger Einnahme anderer Antidepressiva wird der Plasmaspiegel durch Johanniskraut erniedrigt. Insbesondere bei Frauen, also auch bei weiblichen Jugendlichen, ist die Interaktion mit Kontrazeptiva zu berücksichtigen, deren Wirksamkeit unter gleichzeitiger Johanniskraut-Einnahme vermindert sein kann [56].

Wenngleich Untersuchungen dazu nicht vorliegen, dürften viele der angegebenen Interaktionen bei Minderjährigen eher eine untergeordnete Rolle spielen.

Untersuchung der Verschreibungshäufigkeit

Datensatz

Es stand ein Datensatz der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Baden-Württemberg zur Verfügung, der gesetzlichen Krankenversicherung mit den meisten Versicherten in Baden-Württemberg. Der untersuchte Datensatz repräsentiert die Verordnungen für 27% aller Kinder zwischen 0 und einschließlich 16 Jahren in Baden-Württemberg. Der Untersuchungszeitraum umfasste das erste Quartal des Jahres 1999. Diese retrospektive Analyse umfasste 1,74 Mio. Verordnungen zwischen Januar und März 1999.

Analysiert wurden Verordnungen von 6886 Allgemeinmedizinern, Internisten und Pädiatern zulasten der AOK Baden-Württemberg. Kinder- und Jugendpsychiater/innen sind nicht gesondert erfasst.

Dateneinteilung

Die Verordnungen wurden kategorisiert nach Altersgruppen und nach den Anatomical Therapeutical Chemical Classification Groups (ATC-Code). Die Gruppe der Antidepressiva trägt den ATC-Code N06A. Die Altersgruppen entsprechen der Empfehlung der europäischen Zulassungsbehörde EMEA zur Stratifizierung von Kindern in klinischen Arzneimittelstudien nach Entwicklungsstufen in biologischer, pharmakokinetischer und pharmakodynamischer Hinsicht [14]. Da eine Altersdifferenzierung von Kindern im Alter < 1 Jahr in unserer Datenbank nicht möglich war, modifizierten wir die Einteilung der EMEA wie folgt: 0 bis 12 Monate, 1 bis 2 Jahre, 3 bis 6 Jahre, 7 bis 11 Jahre, 12 bis 16 Jahre. Die Arzneimittelverordnungen wurde einer der fünf Altersklassen zugeteilt.

Label-Status der verordneten Medikamente

Die Verschreibungen wurden klassifiziert nach dem Label-Status, das heißt, es wurde überprüft, ob die jeweilige Verschreibung entsprechend der Zulassung erfolgte. In der vorliegenden Erhebung kann nur eine Aussage über den Off-Label-Gebrauch von Arzneimitteln im Kindes- und Jugendalter gemacht werden, die in Deutschland zugelassen sind. Eine Identifizierung der Präparate war in unserer Datenquelle nicht möglich. Analog den Kriterien von Turner et al. gelten als „off label“ Verschreibungen außerhalb der zugelassenen Altersgruppe, in einer nicht alterskonformen Darreichungsform oder in einer nicht altersadäquaten Wirkstoffmenge pro Dosierungseinheit sowie Verschreibungen, deren Dosis und Anwendungsweise nicht oder nur unzureichend in den Referenzdokumenten beschrieben waren [50].

Ergebnisse

Insgesamt wurden 681 Antidepressiva-Verordnungen bei Kindern unter 16 Jahren identifiziert. Damit stellen die Antidepressiva 0,043% aller Verordnungen der untersuchten Stichprobe dar. Die Off-Label-Quote der Antidepressiva bei Minderjährigen macht 0,12% (absolut 249) aller Off-Label-Verordnungen aus.

Verteilung der Verordnungen

Von den Antidepressiva-Verordnungen entfielen 268 Verordnungen auf Johanniskraut-Präparate, das entspricht einem Anteil von 39,35% aller Antidepressiva-Verordnungen für diese Stichprobe (vgl. Tab. 1). Zusätzlich wurden 96 Verordnungen von Kombinationspräparaten identifiziert, entsprechend 14,10% der Antidepressiva-Verordnungen. Somit machten Johanniskraut-Präparate und Kombinationspräparate mit Johanniskraut 53,45% aller Antidepressiva-Verordnungen aus. Die Verteilung der Verordnungen auf die verschiedenen Altersgruppen zeigt die Tabelle 1.

Tab. 1. Verschreibungen von Johanniskraut an Minderjährige (0–16 Jahre) zulasten der AOK Baden-Württemberg im 1. Quartal 1999

Verschreibungen in allen Altersgruppen (0–16 Jahre)
[n]

Anteil der Antidepressiva-Verordnungen
[%]

Verschreibungen in den Altersgruppen [n]

0–11 Monate

1–2 Jahre

3–6 Jahre

7–11 Jahre

12–16 Jahre

Verordnungen Antidepressiva insgesamt

681

100,00

Johanniskraut-Präparate

268

39,35

0

5

22

101

140

Johanniskraut-Kombinationspräparate

96

14,10

0

0

11

30

55

Off-Label-Use

Obwohl Johanniskraut für Minderjährige ab 12 Jahren zugelassen ist, fand sich dennoch in unserer Datenquelle ein Off-Label-Use bei 54,85% der Verordnungen von Johanniskraut-Präparaten und bei 26,04% der Johanniskraut-Kombinationen (Tab. 2). Auffällig war, dass auch an jüngere Kinder sowohl Johanniskraut-Präparate als Einzelstoffe wie auch als Kombinationspräparate verordnet wurden, in der Altersgruppe 3 bis 6 Jahre immerhin 22-mal Johanniskraut-Präparate und 11-mal Kombinationspräparate. Die Off-Label-Quote bei den Verordnungen von Johanniskraut lag über dem Durchschnitt für Antidepressiva in den Alterklassen 0 bis 16 Jahre insgesamt (36,35%) [4].

Tab. 2. Off-Label-Verschreibungen von Antidepressiva einschließlich Johanniskraut-Präparate an Minderjährige (0–16 Jahre) zulasten der AOK Baden-Württemberg im 1. Quartal 1999

Off-Label-Verschreibungen in allen Alters

Wirkstoff-spezifische Off-Label-Quote1
[%]

Verschreibungen in den Altersgruppen [n]

0–11 Monate

1–2 Jahre

3–6 Jahre

7–11 Jahre

12–16 Jahre

Off-Label-Verordnungen
alle Antidepressiva

249

36,56

Johanniskraut-Präparate

147

54,85

0

5

22

100

20

Johanniskraut-Kombinationspräparate

25

26,04

0

0

10

15

0

1„off label“ bedeutet in diesem Fall den Einsatz außerhalb der zugelassenen Altersgruppe, in einer nicht alterskonformen Darreichungsform oder in einer nicht altersadäquaten Wirkstoffmenge pro Dosierungseinheit sowie Verschreibungen, deren Dosis und Anwendungsweise nicht oder nur unzureichend in den Referenzdokumenten beschrieben waren (vgl. Text).

Einschränkungen der Untersuchung

Anzumerken ist, dass die von uns untersuchten Daten aus dem Jahr 1999 stammen, während sich die Literaturrecherche auf den Stand von 2005 bezieht. Die beiden mit Minderjährigen durchgeführten Studien wurden nach 1999 publiziert, somit gab es im Jahr 1999 keine publizierte Studie zum Einsatz von Johanniskraut bei Minderjährigen. Unsere Untersuchung berücksichtigt nur ein Quartal des Jahres 1999. Inzwischen können sich Veränderungen im Verschreibungsverhalten ergeben haben, besonders angesichts der neuen Risikoabschätzung der SSRI in Bezug auf Wirksamkeit und Suizidrisiko. Diagnosen konnten in unserer Untersuchung nicht mit den Präparaten korreliert werden, da in der Datenbank keine Diagnosen enthalten sind. Auch wird in unserer Untersuchung keine Spezifizierung nach Geschlecht des Patienten vorgenommen; angesichts der höheren Prävalenz für affektive Störungen bei Mädchen im Jugendalter wäre ein höherer Gebrauch von Johanniskraut bei Mädchen anzunehmen.

Schluss

Johanniskraut ist ein psychoaktives Phytopharmakon, dessen Wirkstoff noch nicht eindeutig identifiziert ist und dessen Wirkungsmechanismus bisher nicht aufgeklärt ist. Hypericin oder Hyperforin scheinen die psychoaktiven Substanzen im Johanniskraut-Extrakt zu sein. Johanniskraut kann nicht als unbedenklich eingeschätzt werden, da seine Interaktionen mit bestimmten Pharmaka bei polypragmatisch behandelten Patienten ein ernsthaftes Problem darstellen. Die Daten zur Wirksamkeit bei Erwachsenen zeigen durchaus positive Ergebnisse bei leichten und mittelschweren depressiven Episoden, bei der Behandlung der schweren Depression (Major Depression) ist die Datenlage aber inkonsistent [24, 26, 31, 53]. In den beiden einzigen publizierten Studien mit Minderjährigen sahen die Autoren einen antidepressiven Effekt der Johanniskraut-Medikation [17, 23].

In Bezug auf die Verschreibungspraxis fällt eine relevante Zahl von Verordnungen von Johanniskraut-Präparaten auch an jüngere Kinder auf. Die Verschreibungen überschritten die Verordnungszahl des derzeit einzig bei Kindern als wirksam belegten SSRI, Fluoxetin, um das Zehnfache. Die Off-Label-Quote der Verordnungen von Johanniskraut-Präparaten lag bei über 50%. Unsere Ergebnisse decken sich mit Ergebnissen anderer Stichproben [57]. Die in unserer Stichprobe gefundene Praxis der Verschreibung von Kombinationspräparaten auch an jüngere Kinder ist bei Beachtung einer leitliniengerechten Therapie aus Sicht des Jahres 2005 kritisch zu bewerten. Die Leitlinie der DGKJP, auch in der Fassung vom Februar 1999, fordert ausdrücklich, Kombinationspräparate zu vermeiden, war aber zum Zeitpunkt der von uns untersuchten Stichprobe noch nicht publiziert [11].

Aufgrund der geringen Anzahl von Studien mit Minderjährigen zu Sicherheit, Effektivität, Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Johanniskraut-Extrakt muss die Datenlage zu seiner Rolle als Psychopharmakon für das Kindes- und Jugendalter als äußerst unbefriedigend bezeichnet werden. Problematisch erscheint, dass die Terminologie des Indikationsspektrums sehr uneinheitlich ist und keineswegs der ICD-10 hinsichtlich affektiver Störungen, wie den depressiven Störungen (F3) oder den emotionalen Störungen des Kindesalters (F93), entspricht.

Insgesamt zeigt sich bei Johanniskraut eine keineswegs Evidenz-basierte Verschreibungspraxis. Zusätzlich zu dem ärztlich verordneten Gebrauch von Johanniskraut sind die freiverkäuflichen Johanniskraut-Präparate in Apotheken und Drogerien zu berücksichtigen, über die keinerlei Daten vorliegen. Diese Präparate, eingesetzt in Selbstmedikation der Patienten, könnten unwirksam oder nur gering wirksam sein und dennoch die Gefahr bergen, Nebenwirkungen auszulösen, insbesondere wenn zusätzlich andere Pharmaka eingesetzt werden. Johanniskraut-Präparate stellen nach Analyse der publizierten Studien und aufgrund möglicher Nebenwirkungen und Interaktionen derzeit keine Evidenz-basierte Alternative in der Therapie affektiver Erkrankungen bei Minderjährigen dar.

Literatur

Das Literaturverzeichnis finden Sie im Internet:

www.ppt-online.de > Inhalt > 2006 > Heft 3.

Dr. Michael Kölch, Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm, Steinhövelstr. 5, 89075 Ulm, E-Mail: michael.koelch@uniklinik-ulm.de
Dr. Reinhild Bücheler, Abteilung Klinische Pharmakologie, Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Universitätsklinikum Tübingen, und Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg, Ahornweg 2, 77933 Lahr, E-Mail: r.buecheler@mdkbw.de
Prof. Dr. Christoph H. Gleiter, Abteilung Klinische Pharmakologie, Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Universitätsklinikum Tübingen, Otfried-Müller-Str. 45, 72076 Tübingen, E-Mail: christoph.gleiter@med.uni-tuebingen.de

Psychopharmakotherapie 2006; 13(03)