Wirksamkeit von Antidepressiva: Differenzierte Bewertung statt Pauschalkritik ist gefragt


Siegfried Kasper, Wien, Markus Gastpar, Essen, und Walter E. Müller, Frankfurt/M.

In einem plakativen Beitrag mit dem Titel „Antidepressiva: Lebensgefährliche Plazebos?“ in der Ausgabe Mai 2005 der Zeitschrift „Arznei-Telegramm“ kommen die nicht namentlich genannten Autoren zu dem Schluss, die Wirksamkeit und Sicherheit praktisch aller heute verfügbaren Antidepressiva – insbesondere der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) – seien nicht ausreichend belegt [1]. Dabei wird argumentiert, in Plazebo-kontrollierten Studien reiche der Effekt des Scheinmedikaments zum Teil auf bis zu 90% an die Wirkung zugelassener Antidepressiva heran. Außerdem sei der absolute Unterschied zwischen pharmakologisch aktivem und inaktivem Medikament bei den üblicherweise verwendeten Wirksamkeitsmaßen, beispielsweise der Hamilton-Depressionsskala (HAMD), häufig bescheiden und daher klinisch nicht relevant, obwohl statistisch signifikant [3, 8]. In einem zweiten Beitrag im gleichen Heft des „Arznei-Telegramms“ [2] wird die Antidepressiva-Kritik auch auf Präparate auf der Grundlage von Johanniskraut-Extrakt ausgedehnt: In klinischen Prüfungen sei der Plazebo-Effekt ebenso groß wie bei chemisch definierten Antidepressiva, und der in Verum-kontrollierten Studien geführte Nachweis der Gleichwertigkeit von Hypericum-Extrakt sei wegen des mangelnden Wirksamkeitsbelegs für das Referenzpräparat invalide.

Die Autoren der beiden „Arznei-Telegramm“-Artikel stellen mit ihrer Pauschalkritik faktisch die Validität hunderter kontrollierter Studien in Frage, die die Wirksamkeit von Antidepressiva belegen und deren Zusammenfassung den Rahmen unseres Beitrags sprengen würde. Bei aller Medikamenten-Kritik vermissen wir jedoch jegliche Ansätze zur Selbstkritik – beispielsweise die Frage, ob die beklagte, häufig geringe Differenz zwischen Antidepressivum und Plazebo nicht auch auf andere Faktoren zurückzuführen sein könnte als die von den Autoren angeführten. In der Tat hat Montgomery bereits 1999 darauf hingewiesen, dass der Anteil kontrollierter klinischer Prüfungen zunimmt, bei denen weder ein Unterschied zwischen Plazebo und einem neuen Antidepressivum noch zwischen dem Scheinmedikament und seit Jahren bewährten Präparaten gezeigt werden kann, deren Wirksamkeit als bestens belegt gilt (z.B. Imipramin) [11]. Jedoch trägt seine Arbeit bezeichnenderweise nicht den Titel „Das Versagen antidepressiver Medikamente“, sondern „Das Versagen Plazebo-kontrollierter Studien“.

Das Hauptproblem, mit dem sich Untersucher bei kontrollierten, randomisierten Depressionsstudien immer häufiger konfrontiert sehen, liegt nicht in einer mangelnden Besserung der Patienten unter pharmakologisch aktiver antidepressiver Behandlung (weder im Vergleich zu früheren Studien, die die Wirksamkeit von Antidepressiva belegen, noch gemessen an weithin akzeptierten Standards für Therapieantwort oder Remission [6]), sondern in einem oft großen und insgesamt kaum vorhersagbaren Behandlungseffekt in der Plazebo-Gruppe [9]. Tatsächlich lässt sich die beobachtete Reaktion auf eine antidepressive Behandlung als summarischer Effekt einer ganzen Reihe von Einflussfaktoren beschreiben, von denen die pharmakologische Wirkung des untersuchten Arzneimittels lediglich einer ist. Andere in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigende Einflussgrößen sind beispielsweise Erwartungshaltungen des Untersuchers und des Patienten in Bezug auf den Therapieerfolg, soziale Faktoren, Antworttendenzen und – möglicherweise der Bedeutendste aller Faktoren – die „therapeutische Allianz“, die unverzichtbarer Teil jeder erfolgreichen Arzt-Patienten-Beziehung ist und die sich durch Empathie, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und teilnehmendes Zuhören auszeichnet und so dem Patienten das Gefühl gibt, verstanden zu sein [10, 12]. Dabei spielt sicherlich auch der Umstand eine Rolle, dass Antidepressiva-Studien zunehmend in ambulanten Kollektiven durchgeführt werden, in denen die „therapeutische Allianz“ einen besonderen Stellenwert besitzt.

Man kann sicher annehmen, dass solche Faktoren Teil jeder antidepressiven Behandlung sind. Ihre Intensität und ihr Einfluss innerhalb und außerhalb einer kontrollierten klinischen Studie können jedoch dramatisch differieren: Bei einer typischen Akutstudie mit einer Dauer von sechs Wochen ist es nicht ungewöhnlich, die Patienten wöchentlich zu Kontrolluntersuchungen einzubestellen – sicherlich weitaus häufiger, als im Rahmen der klinischen Routine zu erwarten. Darüber hinaus umfassen Visiten im Rahmen klinischer Prüfungen fast immer eine Vielzahl von Untersuchungen (beispielsweise die Vorgabe mehrerer psychiatrischer Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen), die den Kontakt zwischen Behandler und Patient wesentlich intensiver werden lassen, als das außerhalb einer Studie der Fall wäre. Aus psychologischer Sicht sind solche Studien „reaktiv“, da der Akt des Messens (ähnlich wie bei der „Weißkittel-Hypertonie“) dasjenige beeinflusst, was gemessen werden soll. Depressionsstudien stellen hierdurch ungewollt eine Art „Basis-Psychotherapie“ zur Verfügung, deren Wirkung stark genug ist, um einen pharmakologischen Behandlungseffekt weitgehend zu „maskieren“, der unter den weniger „reaktiven“ Bedingungen des Praxisalltags klar hervorgetreten wäre. Die Beobachtung Montgomerys, dass die nachweisbaren pharmakologischen Effekte bei Depressionsstudien immer kleiner zu werden scheinen [11], könnte somit das Ergebnis immer komplexerer Untersuchungspläne mit mehr oder minder therapeutischen „Nebenwirkungen“ sein und berechtigt daher nicht unbedingt zu dem Schluss, dass die neueren antidepressiven Medikamente immer schlechter werden oder dass Antidepressiva neuerdings generell unwirksam sind.

Allerdings ist die im „Arznei-Telegramm“ und anderswo vorgebrachte Kritik an den zugegebenermaßen bisweilen moderaten Behandlungsgruppenunterschieden Plazebo-kontrollierter Depressionsstudien dennoch durchaus bedeutsam und willkommen, denn sie weist auf die Notwendigkeit hin, die Prüfungen so zu konzipieren, dass sie weniger „reaktiv“ wirken und damit eine bessere Trennung zwischen pharmakologischen und nicht pharmakologischen Effekten erlauben. Ansätze hierzu wurden bereits mehrfach publiziert [10, 14]. Ein gutes Beispiel in diesem Zusammenhang ist eine kürzlich von Szegedi und Kollegen publizierte Doppelblind-Doppeldummy-Studie, bei der die antidepressive Wirksamkeit von Hypericum-Extrakt WS5570 während der sechswöchigen Akuttherapie mittelschwer bis schwer depressiver Patienten (Einschlusskriterium: 17-Item HAMD-Gesamtwert 22 Punkte) mit derjenigen des SSRI Paroxetin verglichen wurde [13]. Obwohl unter methodischen Aspekten wünschenswert, musste hier wegen der Schwere der Erkrankung aus ethischen Gründen auf eine Plazebo-Kontrolle verzichtet werden, jedoch gilt die antidepressive Wirksamkeit des Vergleichspräparats Paroxetin als hinreichend nachgewiesen [5]. Nach zweiwöchiger, randomisierter Behandlung mit 900 mg/Tag WS5570 oder 20 mg/Tag Paroxetin wurde die Tagesdosis bei Patienten, deren HAMD-Gesamtwert sich nicht um mindestens 50% gegenüber dem Ausgangswert verbessert hatte, verblindet auf 1800 mg WS5570 oder 40 mg Paroxetin angehoben und in dieser Höhe bis zum Behandlungsende beibehalten. Die Mehrzahl der betroffenen Patienten zeigten nach der Dosiserhöhung substanzielle Verbesserungen und waren am Ende des Beobachtungszeitraums in ihrem HAMD-Gesamtwert mit denjenigen Patienten vergleichbar, bei denen sich bereits die niedrigere Dosis als wirksam erwiesen hatte und bei denen deshalb keine Erhöhung vorgenommen worden war. Die damit nachgewiesene Dosisabhängigkeit des antidepressiven Effekts belegt die Wirksamkeit der beiden untersuchten Substanzen auch ohne Plazebo-Kontrolle, zumal der für Paroxetin beobachtete Effekt mit demjenigen aus anderen Studien gegen Plazebo vergleichbar war. Die Studie widerlegt damit unter anderem die Behauptung der „Arznei-Telegramm“-Autoren, dass für Antidepressiva generell der Nachweis einer Dosis-Wirkungs-Relation fehle. Neuere Arbeiten, die eine solche Beziehung unter anderem auch für den SSRI Escitalopram belegen [4], wurden offenkundig ignoriert.

Gut belegt ist, neben der Akuttherapie der Depression, auch die Wirksamkeit von Antidepressiva in der Rezidivprophylaxe [7]. Die hierbei erzielten Effektstärken gegenüber Plazebo sind oft größer als in anderen therapeutischen Bereichen (z.B. bei der Prophylaxe kardiovaskulärer Ereignisse), in denen niemand die Wirksamkeit der dazu eingesetzten Medikation ernsthaft grundsätzlich in Abrede stellen würde.

Aus erkenntnistheoretischen, ethischen und regulatorischen Gründen werden sich die Rahmenbedingungen kontrollierter klinischer Prüfungen, auf die sich die Autoren des „Arznei-Telegramm“-Artikels primär beziehen, sicher immer von denen des Praxisalltags unterscheiden. Bei Depressionsstudien scheinen sich diese Unterschiede primär in Richtung auf eine Unterschätzung des pharmakologischen Antidepressiva-Effekts hin auszuwirken. Zu einer pauschalisierenden Antidepressiva-Kritik berechtigt dies jedoch nicht. Eine solche Pauschalverurteilung ist unqualifiziert, weil sie Forschungsergebnisse offenkundig ignoriert, und unserer Erfahrung nach ist es – im Gegensatz zur Behauptung der Autoren des „Arznei-Telegramms“ – auch nicht zutreffend, dass 50% der Antidepressiva-Studien ein negatives Ergebnis aufweisen. Die Kritik ist unverantwortlich, weil sie Ärzte und Patienten verunsichert und damit letztendlich Patienten in Gefahr bringt, wenn ihnen nachgewiesenermaßen wirksame Medikamente vorenthalten werden.

Literatur

1. Antidepressiva: Lebensgefährliche Plazebos? Arznei-Telegramm 2005;36:45–7.

2. Johanniskraut: So gut oder schlecht wie konventionelle Antidepressiva? Arznei-Telegramm 2005;36:48.

3. Antonuccio DO, Burns DD, Danton WG. Prev Treat 2002;5:journals.apa.org/prevention/volume5/pre0050025c.htmlhttp://journals.apa.org/prevention/volume5/pre0050025c.html.

4. Bech P, Tanghoj P, Cialdella P, Andersen HF, et al. Int J Neuropsychopharmacol 2004;7:283–90.

5. Bourin M, Chue P, Guillon Y. CNS Drug Rev 2001;7:25–47.

6. Frank E, Prien RF, Jarrett RB, Keller MB, et al. Arch. Gen. Psychiatry 1991;48:851–5.

7. Geddes JR, Carney SM, Davies C, Furukawa TA, et al. Lancet 2003;361:653–61.

8. Kirsch I, Moore TJ, Scoboria A, Nicholls SS. Prev Treat 2002;5:www.journals.apa.org/prevention/volume5/pre0050023a.htmlhttp://www.journals.apa.org/prevention/volume5/pre0050023a.html.

9. Linde K, Berner M, Egger M, Mulrow C. Br J Psychiatry 2005;186:99–107.

10. Montgomery SA. Eur Neuropsychopharmacol 1999;9:265–9.

11. Montgomery SA. Eur Neuropsychopharmacol 1999;9:271–6.

12. Schweizer E, Rickels K. J Clin Psychiatry 1997;58(Suppl 11):30–8.

13. Szegedi A, Kohnen R, Dienel A, Kieser M. BMJ 2005;330:503–6.

14. Womack T, Potthoff J, Udell C. Appl Clin Trials 2001;10:32–44.

O. Univ.-Prof. Dr. Siegfried Kasper, Universitätsklinik für Psychiatrie, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien, Österreich Prof. Dr. Markus Gastpar, Klinik für Allgemeine Psychiatrie, Postfach 10 30 43, 45030 Essen Prof. Dr. Walter E. Müller, FB Biochemie und Pharmazie, Biozentrum Niederursel/Geb. N. 260, Marie-Curie-Str. 9, 60439 Frankfurt

Psychopharmakotherapie 2005; 12(05)