Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

Wie groß ist das Suizidrisiko?


Dr. Barbara Ecker-Schlipf, Holzgerlingen

Nach heutigem Kenntnisstand zeigen selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer bei erwachsenen Patienten mit einer mittleren bis schweren unipolaren Depression eine gute Wirksamkeit ohne ein signifikant erhöhtes Suizidrisiko. Bei Kindern und Jugendlichen fällt das Nutzen-Risiko-Verhältnis jedoch ungünstiger aus.

Die unipolare Depression ist charakterisiert durch eine niedergeschlagene Stimmung, Hoffnungs- und Hilflosigkeit, starke Schuldgefühle, Traurigkeit, niedriges Selbstwertgefühl sowie Gedanken an Selbstverletzung und Suizid. Bis zu 15% der Patienten mit unipolarer Depression begehen schließlich Selbstmord. Obwohl klinische Richtlinien die Behandlung mittlerer bis schwerer Depressionen mit antidepressiv wirkenden Substanzen empfehlen, bleibt die Frage offen, ob einige Antidepressiva, insbesondere die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), Suizidgedanken bei empfänglichen Patienten verstärken. Drei kürzlich veröffentlichte Studien erbrachten weitere Einblicke in dieses Thema.

Eine Metaanalyse umfasste sowohl veröffentlichte als auch nicht veröffentlichte randomisierte kontrollierte Studien, die bei der britischen Medicine and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA, englische Zulassungsbehörde) von pharmazeutischen Firmen eingereicht wurden. In den 477 randomisierten kontrollierten Studien, an denen 40000 Personen mit Depression und anderen klinischen Beschwerden teilnahmen, wurden SSRI mit Plazebo verglichen. Folgende drei Endpunkte wurden untersucht: Suizid, nicht tödlich verlaufende Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken. Dabei wurde kein Hinweis auf ein erhöhtes Selbstmordrisiko gefunden und nur ein schwacher Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für eine Selbstverletzung. Die Beweislage für Selbstmordgedanken war nicht schlüssig, die Risikoschätzungen ließen sich sowohl mit einem leicht protektiven als auch einem gering nachteiligen Effekt vereinbaren.

Eine Fall-Kontroll-Studie wertete über die wissenschaftliche Datenbank der Allgemeinmediziner in Großbritannien Informationen von 146095 Patienten im Alter von 10 bis 90 Jahren aus, denen zwischen Januar 1995 und Dezember 2001 erstmals ein SSRI oder trizyklisches Antidepressivum verordnet wurde. Analysiert wurde das Risiko für nicht tödlich verlaufende Selbstverletzungen und Suizid. Verglichen mit den Probanden, die ein trizyklisches Antidepressivum erhielten, zeigten Studienteilnehmer unter SSRI kein erhöhtes Risiko für einen Selbstmord oder nicht tödliche Selbstverletzungen. Allerdings wurden Hinweise dafür gefunden, dass die Nebenwirkungen altersabhängig sind. So fiel das Risiko für nicht tödliche Selbstverletzungen bei Patienten unter 18 Jahren, die mit SSRI behandelt wurden, leicht höher aus als bei solchen, die trizyklische Antidepressiva erhielten.

In einer systematischen Übersichtsarbeit wurden randomisierte kontrollierte Studien aus Medline (zwischen 1967 bis Juni 2003) und dem Register für kontrollierte Studien der Cochrane Collaboration (November 2004) ausgewertet, die bei Patienten mit Depression und anderen klinischen Beschwerden SSRI mit einem Plazebo oder sonstigen therapeutischen Interventionen (trizyklische Antidepressiva und nicht trizyklische Substanzen) verglichen. Bei insgesamt 87650 Patienten wurde für Probanden unter SSRI ein fast doppelt so hoher Anstieg des Odds-Ratios für tödlich oder nicht tödlich verlaufende Suizidversuche beobachtet als bei Anwendern von Plazebo oder anderen Therapeutika (ohne nicht trizyklische Antidepressiva). Wurden ausschließlich die tödlichen Suizidversuche betrachtet, ergab sich allerdings kein Unterschied zwischen SSRI und Plazebo. Ebenso ließ sich bei den Selbstmordversuchen insgesamt kein Unterschied zwischen SSRI und trizyklischen Antidepressiva feststellen.

Obwohl die vorliegenden Studien in Methode und Durchführung Grenzen aufweisen, sind ihre Ergebnisse für die klinische Praxis von Bedeutung:

 Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Anwendung von SSRI und Suizidversuchen lässt sich nach derzeitigem Kenntnisstand nicht herstellen. Da ihre Wirksamkeit bei mittleren und schweren unipolaren Depressionen als gesichert gilt, sollten sich Ärzte nicht scheuen, diese Substanzen einzusetzen. Allerdings muss beachtet werden, dass sie – ähnlich wie trizyklische Therapeutika – in der ersten Behandlungsphase das Risiko für Suizidversuche erhöhen könnten und die Patienten in dieser Zeit besonders intensiv betreut werden sollten.

 Die Wirksamkeitsnachweise von SSRI beziehen sich auf mittlere bis schwere Depressionen und können nicht ohne weiteres auf leichte Formen übertragen werden.

 Das günstige Nutzen/Risiko-Verhältnis der SSRI trifft auf Erwachsene, nicht aber auf Kinder und Jugendliche zu. Da bislang umfassende Untersuchungen über die Langzeitanwendung antidepressiver Substanzen auf das sich entwickelnde Gehirn fehlen, sollten Antidepressiva bei Heranwachsenden nicht routinemäßig angewandt werden.

Quellen

Cipriani A, et al.Suicide, depression, and antidepressants. BMJ 2005;330:373–4.

Gunnell D, et al. Selective serotonin reuptake inhibitors (SSRIs) and suicide in adults: meta-analysis of drug company data from placebo controlled, randomised controlled trials submitted to the MHRA’s safety review. BMJ 2005;330:385–8.

Martinez C, et al. Antidepressant treatment and the risk of fatal and non-fatal self harm in first episode depression: nested case-control study. BMJ 2005;330:389–93.

Fergusson D, et al. Association between suicide attempts and selective serotonin reuptake inhibitors: systematic review of randomised controlled trials. BMJ 2005;330:396–9.

Psychopharmakotherapie 2005; 12(05)