Ungewöhnliche Ursache einer Lithium-Intoxikation mit QT-Verlängerung bei Rechtsschenkelblock


Patrik Stephan, Antje Heck und Eveline Jaquenoud Sirot, Brugg (Schweiz)

Ein 61-jähriger Patient entwickelte nach langjähriger Therapie mit stabilen Dosierungen von Lithiumsulfat und Clomipramin eine Lithium-Intoxikation. Als mögliche Ursache konnte eine postrenale Niereninsuffizienz, bedingt durch eine zunehmend symptomatische Prostatahyperplasie, identifiziert werden. Neben gastrointestinalen und neurologischen Symptomen imponierte eine UAW-assoziierte QTc-Verlängerung von maximal 542 ms. Die Beurteilung des QT-Intervalls war dabei erschwert durch die Präsenz eines Rechtsschenkelblocks. Die Aufarbeitung und Dokumentation des Falls erfolgte im Rahmen des Projekts AMSP (Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie) [4].
Schlüsselwörter: Lithium, Lithium-Intoxikation, postrenale Niereninsuffizienz, Prostatahyperplasie, QTc-Intervall, ventrikuläre Reizleitungsstörung
Psychopharmakotherapie 2011;18:137–9.

Fallbericht

Der 61-jährige Patient litt seit Jahren unter einer Persönlichkeitsstörung mit unreifen und depressiven Anteilen (ICD-10: F 60.9), Somatisierungsstörung (ICD-10: F 45.0) und leichter Minderintelligenz (ICD-10: F70). Letztmals war er 11 Jahre vor dem hier beschriebenen Ereignis wegen einer Depression stationär psychiatrisch behandelt worden und konnte damals deutlich gebessert unter medikamentöser Therapie mit Clomipramin 75 mg/Tag und Lithiumsulfat 1320 mg/Tag entlassen werden. Der bevormundete Bezieher einer Invalidenrente konnte in der Folge über Jahre selbstständig in einer eigenen Wohnung leben und wurde durch einen ambulanten Pflegedienst und den Hausarzt medizinisch betreut. Regelmäßige, etwa jährlich durchgeführte Kontrollen der Nierenfunktion und des Lithium-Spiegels waren unauffällig. Sechs Monate vor dem Ereignis (Tag 0 = Tag der stationären Aufnahme wegen Lithium-Intoxikation, vgl. Tab. 1) begannen sich hausärztliche Konsultationen wegen Miktionsbeschwerden zu häufen, wobei in wiederholten Urinuntersuchungen keine eindeutigen Hinweise auf einen bakteriellen Infekt bestanden. Eine letzte reguläre Kontrolle des Lithium-Spiegels (Tag –209) ergab einen Wert von 0,72 mmol/l bei leicht erniedrigtem Serum-Natrium und altersentsprechend normaler Nierenfunktion (Tab. 1). Etwa ein halbes Jahr später (Tag –38) meldete sich der Patient wegen Fieber, verbunden mit lageabhängigen Bauchschmerzen und Nausea in der hausärztlichen Sprechstunde. Bei negativen Infektparametern wurde in Annahme einer Gastroenteritis symptomatisch therapiert und zusätzlich ein Protonenpumpeninhibitor (Lansoprazol) abgegeben. Vier Wochen später (Tag –10) benachrichtigte der Patient den Rettungsdienst, nachdem es während des Einkaufens zu einem Schwächeanfall gekommen war. Beklagt wurden dabei Tremor, Schwindel, Nausea und gelegentliches Erbrechen seit etwa vier Wochen. Der Patient wurde einer Notfallstation zugewiesen und ambulant internistisch beurteilt.

Der Patient war afebril und bewusstseinsklar. Kardiopulmonal und abdominal wurden in der Notfallambulanz keine Auffälligkeiten dokumentiert. Laborchemisch waren die Infektparameter und das TSH im Normbereich. Das Serum-Natrium betrug 131 mmol/l (Normwert 135 bis 145 mmol), das Serum-Creatinin war mit 141 µmol/l erstmals erhöht (entsprechend einer Clearance von 44 ml/min, vgl. Tab. 1). Das (wegen Tremor artefaktreiche) EKG zeigte folgende Befunde: normokarder Sinusrhythmus 77/min, linksanteriorer Hemiblock, Rechtsschenkelblock, ventrikuläre Extrasystolie. Intervalle (visuell kontrolliert): QRS 160 ms, QT 460 ms. QTc nach Bazett [2] 521 ms (vgl. Abb. 1 und Abb. 2, Tab. 1). Wegen radiologischer Hinweise für Koprostase wurden abführende Maßnahmen getroffen und der Patient konnte „in gutem Allgemeinzustand“ nach Hause entlassen werden, wobei die Empfehlung abgegeben wurde, eine Kontrolle des Lithium-Spiegels vorzunehmen.

Abb. 1. Ausschnitt des EKGs von Tag –10

Abb. 2. QTc-Normwerte und Formeln zur Frequenzkorrektur. RR: RR-Intervall; HF: Herzfrequenz; QRS: QRS-Intervall [ms]

Tab. 1. Verlauf relevanter Labor- und EKG-Parameter

Tag a

–769

–645

–494

–209

–38

–10

0

1

12

27

Institution b

HA

HA

HA

HA

HA

SKA

SKS

SKS

SKS

PKS

Lithium [mmol/l]
(Norm 0,5–1,2) [1]

0,81

0,89

0,72

1,82

1,19

Creatinin-Clearance
[ml/min] c

73

82

79

44

52

63

72

75

Serum-Natrium [mmol/l] (Norm 135–145)

140

134

133

131

132

138

145

138

QTc nach Bazett [2]

521

613

468

QTc nach
Rautaharju et al. [5]

453

542

421

a Tag 0 = stationäre Aufnahme wegen Lithium-Intoxikation

b HA: Hausarzt; SKA: somatische Klinik ambulant; SKS: somatische Klinik stationär; PKS: psychiatrische Klinik stationär

c Nach Cockcroft und Gault: CrCl = (140 – Alter) x Idealgewicht / (Serum-Creatinin x 72) (Frauen x 0,85)

Zehn Tage später (Tag 0) wurde er dann durch seinen Vormund (während Ferienabwesenheit des Hausarztes) erneut wegen einer Verschlechterung des Allgemeinzustands auf die Notfallstation gebracht. Klinisch imponierten Ruhetremor und Gangataxie. Der Patient beklagte Nausea und Sehstörungen. Das Eintritts-EKG zeigte folgende Befunde: Normokarder Sinusrhythmus 73/min, linksanteriorer Hemiblock, Rechtsschenkelblock, ventrikuläre Extrasystolie. Intervalle: QRS 162 ms, QT 560 ms. QTc-Zeit nach Bazett [2] 613 ms. Bei wiederum erhöhtem Serum-Creatinin (120 µmol/l, entsprechend einer Clearance von 52 ml/min, Tab. 1) fand sich, bei palpatorisch deutlich vergrößerter Prostata, sonographisch Restharn von etwa 500 ml mit einer Hydronephrose Grad I. Der Lithium-Spiegel, gemessen etwa 22 Stunden nach der letztmaligen Einnahme von 1320 mg Lithiumsulfat am Vorabend, betrug 1,82 mmol/l (therapeutischer Zielbereich 0,5 bis 1,2 mmol/l, 12 Stunden nach Einnahme [1]).

Nach Sistieren des Lithiumpräparats (und von Clomipramin) und unter Hydrierung des Patienten sowie Dauerableitung des Urins normalisierte sich die Nierenfunktion rasch und die gastrointestinalen und neurologischen Symptome bildeten sich zurück. Ein Verlaufs-EKG (Tag 12) zeigte eine Persistenz des bifaszikulären Blocks. Das QT-Intervall betrug 424 ms, der QRS-Komplex war mit 148 ms verlängert. Bei einer Herzfrequenz von 73/min wurde nach Bazett ein QTc-Intervall von 468 ms errechnet.

13 Tage nach Aufnahme konnte der Patient in somatisch deutlich gebessertem Zustand zur medikamentösen Neueinstellung in die psychiatrische Klinik übertreten. Die ambulant durchgeführten urologischen Abklärungen ergaben eine benigne Hyperplasie, die im weiteren Verlauf operativ saniert werden konnte (transurethrale Resektion). Nach mehreren psychiatrischen Aufenthalten wurde schließlich auch psychiatrisch eine Stabilisierung erreicht. Der Patient konnte in eine betreute Wohnform entlassen werden und steht medikamentös unter Therapie mit Risperidon, Valproinsäure und Escitalopram.

Diskussion

Es mag auf den ersten Blick erstaunen, dass der Patient nach der ambulanten Beurteilung am Tag –10, nach Dokumentation einer QTc-Zeit (nach Bazett, Abb. 2) von immerhin 521 ms, diesbezüglich kommentarlos nach Hause entlassen wurde.

Eine Verbreiterung des QRS-Komplexes führt immer auch zu einer Verlängerung des QT-Intervalls, was bei der Berechnung der QTc-Zeit berücksichtigt werden muss (Korrektur nach Frequenz und Länge QRS). Die Formel von Bazett ergibt in diesen Fällen eine falsch verlängerte QTc-Zeit. Eine Formel, die die Länge des QRS-Komplexes berücksichtigt, existiert und wurde an einem großen Kollektiv validiert [5] (Abb. 2) und deren Gebrauch wird auch in entsprechenden amerikanischen Richtlinien empfohlen [6]. Die Berücksichtigung der Verbreiterung des QRS-Komplexes führt in unserer Kasuistik zu relevant veränderten QTc-Zeiten (vgl. auch Tab. 1).

  • Tag –10: 453 ms (ohne Berücksichtigung QRS: 521 ms)
  • Tag 0: 542 ms (613 ms)
  • Tag 12: 421 ms (468 ms)

Somit findet sich an Tag –10 nur noch eine grenzwertig verlängerte QTc-Zeit und eine Entlassung des Patienten nach Hause war (vom EKG her) zu verantworten.

Retrospektiv liegt der Verdacht nahe, dass der beschriebene Patient in den Wochen vor der stationären Aufnahme unter zunehmenden Symptomen einer Lithium-Intoxikation litt. Ein Großteil der Beschwerden und Befunde anlässlich der Konsultation beim Hausarzt (Tag –38) und auch der notfallmäßigen Beurteilung in der internistischen Klinikambulanz (Tag –10) ließen sich damit erklären. Postrenale (Prostatahyperplasie mit Nierenstauung), möglicherweise renale (nephrotoxische Effekte von Lithium, Diabetes insipidus) und wohl auch prärenale Faktoren (Hypovolämie wegen rezidivierendem Erbrechen) führten hier wahrscheinlich zu einer kontinuierlichen Verschlechterung der Nierenfunktion mit Anstieg des Lithiumspiegels. Angesichts der zunehmend symptomatischen Prostatahyperplasie könnten zudem anticholinerge Effekte von Clomipramin eine Harnretention zusätzlich begünstigt haben.

Schlussfolgerungen

1. Bei pathologisch verlängertem QRS-Komplex (>120 ms) ist die Beurteilung des QT-Intervalls erschwert und die üblicherweise verwendete Berechnungsformel nach Bazett führt zu falsch verlängerten Werten. Bei der Beurteilung des QT-Intervalls im EKG muss in diesen Fällen die Länge des QRS-Komplexes berücksichtigt und eine alternative Berechnungsformel (vgl. Abb. 2) verwendet werden.

2. Miktionsbeschwerden bei (älteren) Lithiumpatienten sollten niederschwellig zum Anlass genommen werden, den Lithiumspiegel und die Nierenfunktion zu kontrollieren.

Literatur

1. Baumann P, Hiemke C, Ulrich S, Eckermann G, et al. The AGNP-TDM expert group consensus guidelines: therapeutic drug monitoring in psychiatry. Pharmacopsychiatry 2004;37:243–65.

2. Bazett HC. An analysis of the time-relations of electrocardiograms. Heart 1920;7:35–70.

3. Delacrétaz E. Medikamente und verlängertes QT-Intervall. Schweiz Med Forum 2007;7:814–9.

4. Grohmann R, Engel RR, Rüther E, Hippius H. The AMSP drug safety program: methods and global results. Pharmacopsychiatry 2004;37(Suppl 1):S4–11.

5. Rautaharju PM, Zhang ZM, Prineas R, Heiss G. Assessment of prolonged QT and JT intervals in ventricular conduction defects. Am J Cardiol 2004;93:1017–21.

6. Rautaharju PM, Surawicz B, Gettes LS, Bailey JJ, et al. AHA/ACCF/HRS recommendations for the standardization and interpretation of the electrocardiogram: part IV: the ST segment, T and U waves, and the QT interval. J Am Coll Cardiol 2009;53:982–91.

Dr. med. Patrik Stephan, Dr. med. Antje Heck, Eveline Jaquenoud Sirot MSc., Psychiatrische Dienste Aargau AG, Klinik Königsfelden, Qualitätszentrum mediQ, Postfach 432, 5201 Brugg, Schweiz, E-Mail: patrik.stephan@pdag.ch

Uncommon cause of a lithium-intoxication with QT-prolongation in a patient with right bundle branch block

A 61-year-old patient with stable dosing of lithium sulphate and clomipramine developed lithium-intoxication mainly because of acute renal failure due to prostatic hyperplasia. Besides gastrointestinal and neurological symptoms, a pronounced prolongation of QT-interval was observed. ECG interpretation was complicated by the presence of a right bundle branch block.

Key words: Lithium, lithium-intoxication, postrenal failure, prostatic hyperplasia, QTc-interval, ventricular conduction disorder

Psychopharmakotherapie 2011; 18(03)